Schlagwort: Historie

  • In dieser Sackgasse

     

    Ein Gedicht von Ahmad Shamloo (1925-2000) aus dem Jahr 1979
    Freie Übersetzung aus dem Persischen von Afsane Bahar

    ۞۞۞

     

    Sie riechen an deinem Mund,
    nicht dass du gesagt hättest, „ich liebe dich“,
    sie riechen an deinem Herzen,
    es ist eine seltsame Zeit, Liebling.

    Und die Liebe
    peitschen sie aus
    an dem Balken der Straßensperre.
    Die Liebe sollte im Hinterzimmer des Hauses versteckt werden.

    In dieser krummen Sackgasse,
    in diesen Windungen der Kälte
    entfachen sie das Feuer
    mit Gedichten und Liedern als Brennmaterial.
    Riskiere nicht das Nachdenken,
    es ist eine seltsame Zeit, Liebling.

    Derjenige, der nachts an die Tür klopft,
    ist zum Auslöschen des Lichtes gekommen.
    Das Licht sollte im Hinterzimmer des Hauses versteckt werden.

    Dort sind Schlächter
    am Straßenübergang platziert
    mit Blut beschmierten Schlagstöcken und Hackmessern.
    Es ist eine seltsame Zeit, Liebling.

    Den Lippen schneiden sie das Lachen aus
    und dem Mund den Gesang.
    Die Freude sollte im Hinterzimmer des Hauses versteckt werden.

    Kanarienvögel werden gebraten
    auf einem Feuer von Jasmin und Lilien.
    Es ist eine seltsame Zeit, Liebling.

    Der Satan, des Sieges betrunken,
    feiert unser Begräbnis am Festtisch.
    Der Gott sollte im Hinterzimmer des Hauses versteckt werden.

    ۞۞۞

     

  • Hier ist ein Auszug aus dem neuen Buch „Die Gebote der Wüste“ von Sigurd Göttlicher, erschienen im Verlag Erich Weiß. Wir veröffentlichen den Text mit freundlicher Genehmigung des Verlags.

    Göttlicher-Zehn Gebote S 284_290

  • Einsicht

    (8.2.2017) 

     

    für Elias Davidsson 

    Verbunden mit der einmaligen Erde

    ganzheitlich Geschehnisse beobachtend

    beharrlich Selbstbetrug meidend

    begriff ich berührt bewegt

    dass buchstäblich Banditen

    im  Lande  herrschten

     

    Nach dieser ergreifenden Erkenntnis

    kam sorgloses Wegschauen

    schmerzhaft der Selbstaufgabe gleich

     

    Fortan pflanzte ich federleicht

    des Lichtes Blumen

    ֎֎֎

     

  • Amtseinführung

    Zum Kampf der Demos und Plakate,
    Der in den USA dem Staate,
    dem Präsident gewidmet ist
    Zog Johnny Smart, der Journalist.

    Es war sein Job live zu berichten
    Von Straßentod und Blutgeschichten
    Von Wut, die Demokratenwelt
    In Innersten zusammenhält.

    Ihn sandten unerkannt und leise
    Times, Spiegel auf Erkundungsreise.
    So geschickt, sein Auftragssoll
    Sei Leserangst, sei Hosen voll.

    Nach Washington zur Amtseinführung
    Fuhr Johnny Smart zur Volksberührung
    In froher Lust, mit freiem Mut
    Hat nicht gewusst, wer Böses tut.

    Nah konnte er Wutmenschen sehen
    Stieg aus dem Auto, ließ es stehen
    Nahm Kamera und Mikrophon.
    Da hörte er in bösem Ton

    Du Journalist, du Übeltäter
    Du Demokrat, du Volksverräter!
    Wer gegen Präsidenten schreibt
    Als Toter auf der Straße bleibt.

    Hass in der Menge, Knüppelschläger
    Wut, Kriminelle Menschenjäger
    Verbeißen sich in Johnny Smart.
    Sie schlagen zu und treffen hart.

    Der Tod schleicht lauernd in die Meute
    Wählt sich den Johnny Smart als Beute
    Der schreiend um sein Leben rennt.
    Er sei doch nicht der Präsident!

    Er sei der Wahrheit stets verpflichtet.
    Ein Journalist nur schreibt, nicht richtet.
    Die Stimme stockt. Schlag, Stahl, Metall.
    Der Schrei verstummt, verweht im Fall.

    Ein Polizist versucht zu retten.
    Allein der Tod mit seinen Ketten
    den Johnny Smart umschlungen hält.
    Er führt ihn fort in seine Welt.

    Die Redaktion erfährt betroffen
    Von Johnnys Tod. Man schreibt ganz offen
    Allein der Präsident sei Schuld.
    Ihm fehle Klarheit und Geduld

    Demokratisch in bewegten Zeiten
    Wutbürger gehorsam anzuleiten.
    Ein Leser liest und angstvoll schreibt:
    Nicht stirbt, wer demonstriert, der bleibt.

    Der Bericht weckt Kerzenspenden
    Blumenkränze, Krokodilslegenden.
    Das Leichentuch weiß eingehüllt
    Sagt Johnnys Auftrag ist erfüllt.

     

    K.K. 18.1.2017

     

     

     

     

  •  

    Jaleh Esfahani

    Dichterin der Zuversicht und Hoffnung

     

    Am 29.12.2011 wurde in Zusammenarbeit mit Herrn Andreas Schmidt im Rahmen der Schriftenreihe „Bilder gegen den Krieg. Momentaufnahmen aus dem Iran“ bei der FriedensTreiberAgentur (FTA) ein Text über die iranische Dichterin Jaleh Esfahani veröffentlicht. Bei der vorliegenden Schrift handelt es sich um eine verkürzte Version.

    Rotenburg an der Fulda, den 6.1.2017

    Afsane Bahar

    ۞۞۞

    Die iranische Dichterin Etel Soltani, die ab ihrem 13. Lebensjahr unter dem Pseudonym Jaleh Gedichte verfasste und auf dem ersten Kongress der iranischen Schriftsteller im Jahre 1946 in Teheran als Jaleh Esfahani vorgestellt wurde (1), gehörte zu den Menschen, die trotz vielfältiger Schicksalsschläge und der augenscheinlichen Macht der Gegner einer gerechten Welt trotzend aus gesellschaftlicher Verantwortung den Sinn für Ästhetik und Zuversicht schärften. Zur Anfertigung des vorliegenden Textes dienten unter anderem ihre Autobiographie „Schatten der Jahre“, die 1999 in London fertig gestellt und im Jahr 2000 in Deutschland veröffentlicht wurde, sowie ihre Gedichtsammlung „Abbildung der Welt“ aus dem Jahre 1981 (2,3).

    ۞۞۞

    Jaleh wird in den 1920-er Jahren in Isfahan in einer wohlhabenden Familie geboren. Jalehs Mutter hat nach dem tragischen Tod ihres ersten Ehemannes wieder geheiratet und betreut neben ihren eigenen Kindern zusätzlich ihre verwaisten Geschwister. Ihr zweiter Ehemann, ein reicher Großgrundbesitzer, verbringt die meiste Zeit auf dem Lande, während die Familie in Isfahan wohnt. Jaleh beschreibt ihre Mutter als eine liebenswürdige, sehr beschäftigte, traurig gestimmte Frau mit Sinn für gesellschaftliche Gerechtigkeit, die oft keine ausreichende Zeit für ihre Kinder findet.

    In der Nachbarschaft lebt eine alleinstehende, arme Frau, die ihren Lebensunterhalt unter anderem durch Rezitieren von Koranversen auf privaten Trauerveranstaltungen und während religiöser Zeremonien bestreitet. Während einer dieser Veranstaltungen wird Jaleh von der lieblichen Stimme dieser Frau so angezogen, dass sie einige Koranverse auswendig lernt. Diese alleinstehende Frau betreut tagsüber stundenweise die Kinder berufstätiger Eltern, die hauptsächlich aus den unteren Schichten stammen und bringt ihnen mündlich Koranverse bei. Jalehs Familie beschließt, sie vormittags zu dieser Frau zu schicken. So wird Jaleh Zeuge gesellschaftlicher Klüfte zwischen den Kindern und lernt die Verachtung, Ungerechtigkeiten und Feindseligkeiten kennen, denen ihre Betreuerin ausgesetzt ist.

    Zusammen mit ihren Altersgenossen aus der Verwandtschaft und Nachbarschaft wächst Jaleh als spielerisches, neugieriges Kind auf und entdeckt früh ihr Interesse und ihre Liebe für Tiere und Pflanzen. Diese Begeisterung für die Natur wird sie lebenslang begleiten.

    Als ihre Mutter Jaleh für die Grundschule anmeldet, kommt es zu ausgeprägten Streitigkeiten mit ihrem Vater. Gegen den Widerstand ihres Vaters besucht Jaleh die Schule. Unterstützt und gefördert durch ihren Großvater mütterlicherseits schließt sie die zweite und dritte Klasse innerhalb eines Schuljahres ab. Es handelt sich um eine moderne Schule (Grundschule und Gymnasium), die von einer Christin geleitet wird. Die Schulleiterin stammt von einer englischen Mutter und einem im Iran lebenden Armenier ab. Sie versucht den Unterricht sowie den Umgang mit den Schülerinnen und deren Familienangehörigen nach neuen pädagogischen Methoden zu gestalten. Die Schule genießt einen sehr guten Ruf, so dass Kinder reicher Familien aus anderen Landesteilen nach Isfahan geschickt werden, um in den Genuss der neuen Lehrmethoden zu kommen.

    Einen besonderen Einfluss auf Jaleh übt eine ihrer iranischen Lehrerinnen aus, die sich für Astronomie, Erdkunde und Biologie interessiert und versucht, ihre Zöglinge anstelle von Aberglauben mit Hilfe von Wissen und logischem Denken zu erziehen. In Zusammenarbeit mit der Schulleiterin macht sie Jaleh und ihre Klassenkameradinnen durch karitative Unternehmungen und Krankenbesuche mit dem Leben außerhalb der Wände der wohlbehüteten Schule vertraut. So entwickelt sich bei Jaleh das Mitgefühl für andere Menschen und daraus folgend ein tief verwurzelter Sinn für gesellschaftliche Gerechtigkeit, der ihr Leben nachhaltig verändert.

    Ein weiteres beeindruckendes Ereignis ihrer Kindheit ist die bittere Tatsache, dass ihre Schwester aufgrund mangelnder medizinischer Informationen und Möglichkeiten durch eine banale Erkrankung ihr Augenlicht verliert. Die ungebrochene Lebenslust und der Sinn für die Schönheit ihrer Schwester trotz dieses schweren Schicksalsschlages ist eine bleibende Lehre für Jaleh, die später selbst zu einem Fanal der Hoffnung und Zuversicht unter einschränkenden, zermürbenden Lebensumständen wird.

    Durch Unterstützung und dank des heftigen Widerstandes ihrer Mutter kann sie als Grundschulkind einer traditionellen Ehe mit einem ihrer Verwandten väterlicherseits entgehen. Im Rahmen dieser Streitigkeiten und Auseinandersetzungen wird ihr ein Personalausweis ausgestellt, der bewusst als Geburtsjahr 1921 ohne Angabe eines Geburtstages ausweist, damit sie formal älter erscheint und heiratsfähig wirkt. Aus Sympathie zu einer Krankenschwester, die in einem englischen Krankenhaus arbeitet, wählte ihr Vater für Jaleh den Vornamen Etel. Etel Soltani und ihre Mutter bevorzugen jedoch den persischen Namen Mastane (‚berauscht‘; ‚betrunken‘; im weitesten Sinne auch ‚entzückt‘ bzw. ‚bezaubert‘). So nennt sich Jaleh auch in ihrer Autobiografie (4).

    Im Sommer lebt Jaleh zeitweise auf dem Lande. Auch hier wird sie Zeuge der zum Himmel schreienden gesellschaftlichen Ungerechtigkeiten und Unterschiede. Unter anderem erfährt sie Einzelschicksale der Frauen aus armen Familien in ländlichen Gebieten.

    Neben dem Schulunterricht lernt Jaleh zusammen mit einer ihrer Freundinnen in Isfahan das Geigespiel. Zweimal pro Woche fahren die beiden Freundinnen mit der Kutsche in den armenischen Stadtteil von Isfahan, Jolfa, um dort von einer französisch-armenischen Lehrerin im Tanzen unterrichtet zu werden. Ab dem 13. Lebensjahr verfasst Jaleh Gedichte und Aufsätze, die durch gesellschaftskritische, die Natur verehrende, tiefgründige Gedanken ausgezeichnet sind. Gleichzeitig weisen diese Texte auf ihr wiederkehrendes Gefühl der Einsamkeit, begleitet von tiefer Trauer, hin.

    Nach Abschluss des Gymnasiums arbeitet Jaleh gegen den Widerstand ihres Vaters, die Unterstützung ihrer Mutter genießend, als eine der ersten Frauen in Isfahan bei der Nationalbank (banke melli). In dieser Zeit besucht sie die Stadt Shiraz, wo ein früheres Gedicht von ihr über die mangelhafte Pflege der altpersischen Residenzstadt Persepolis in einer örtlichen Zeitschrift veröffentlicht wird. Diese Veröffentlichung verschafft ihr den Auftritt in einem Shirazer Dichter- und Schriftstellerverein. In den Folgejahren erscheinen ihre Gedichte in weiteren Zeitschriften sowohl in Isfahan als auch in Teheran.

    Am 25. August 1941 marschieren die Streitkräfte der Alliierten zur Sicherung der iranischen Ölfelder und Einrichtung einer Nachschublinie für die Sowjetunion in den Iran ein. Der Gründer der Pahlavi-Dynastie muss abdanken und sein Sohn, Mohammad Reza Shah, wird zum neuen Herrscher auf dem Pfauenthron erkoren. Die Besatzungszeit stellt eine bedrückende Phase für die iranische Bevölkerung dar und ist von Unsicherheit, Unruhen und Hungersnöten begleitet. Jalehs Gedichte sind in dieser Zeit patriotisch geprägt. In diesen Jahren wird sie von einem schweren Schicksalsschlag heimgesucht, ihre Mutter stirbt.

    1943 lernt sie in einem Englischkurs in Isfahan ihren späteren Ehemann, einen Luftwaffenangehörigen, kennen. Nach ihrer Hochzeit wird ihr Mann nach Teheran versetzt, so dass Jaleh Isfahan verlässt. In Teheran bekommt sie eine Anstellung bei der Nationalbank. 1944 erscheint ihr Gedichtband „Die wilden Blumen“. Der Aufenthalt in Teheran ermöglicht ihr die Ausweitung ihrer literarischen Tätigkeiten und den Ausbau ihrer Verbindungen mit iranischen Dichtern, Journalisten und Schriftstellern. So lernt sie Größen der iranischen Dichtung wie Mohammad Taqi Bahar und Nima (Ali Esfandiari) kennen und kann von ihrem reichen Erfahrungsschatz profitieren. Vor allem die Bekanntschaft mit Nima beindruckt und beeinflusst ihr Schaffen sehr.

    Der II. Weltkrieg, das Abdanken des großen Diktators, Reza Shah Pahlavi, und die Anwesenheit ausländischer Truppen verändern die gesellschaftspolitischen Gegebenheiten. Vorübergehend entstehen begrenzte Möglichkeiten zur Bildung politischer Vereine und Parteien. In dieser Zeit wird ihr Ehemann als Mitglied der Tudeh-Partei Irans verhaftet und zusammen mit einigen anderen Armeeangehörigen nach Kerman (über 1000 km von Teheran entfernt) abgeführt.

    Parallel zu ihrer Tätigkeit bei der Nationalbank nimmt Jaleh ihr Studium an der Fakultät für Literatur der Teheraner Universität auf. Außerdem lernt sie bei ihrem Schwiegervater Arabisch. Im Juni 1946 findet der erste landesweite Kongress der iranischen Schriftsteller in den Räumen des Vereins für kulturelle Beziehungen zwischen der Sowjetunion und dem Iran in Teheran in Anwesenheit ausländischer Politiker und Autoren statt. Jaleh erhält die Möglichkeit, eines ihrer Gedichte auf diesem Kongress vorzutragen.

    1946 wird ihr Mann aus der Haft entlassen und kehrt nach Teheran zurück. Ihr erneutes gemeinsames Leben in Teheran dauert allerdings weniger als zwei Wochen. In dem iranischen Landesteil Azerbaijan wird im November 1945 – begünstigt durch die Anwesenheit der Sowjettruppen und auch als Folge der ethnischen Benachteiligungen unter  Reza Shah Pahlavi – von der Demokratischen Partei Azerbaijans eine autonome Volksrepublik ausgerufen, was dann von dem ersten Nationalkongress im Dezember 1945 bekräftigt wird. Die Organisation der Tudeh-Partei Irans in Azerbaijan hat sich bereits aufgelöst und der Demokratischen Partei Azerbaijans angeschlossen. Jalehs Ehemann und einige seiner Parteigenossen eilen aus Teheran nach Azerbaijan, um die ausgerufene Volksrepublik zu unterstützen. Trotz ihrer politischen Bedenken fährt später Jaleh zusammen mit ihrer Schwiegermutter ebenfalls nach Täbris in der Hoffnung, dort leben und studieren zu können, wobei sie zu diesem Zeitpunkt die Landessprache, Azari, noch nicht beherrscht. Der Aufenthalt in Täbris wird allerdings bald abrupt abgebrochen, da infolge politischer Verhandlungen die Sowjettruppen den Iran verlassen und die iranische Zentralregierung daraufhin die Kontrolle über den Landesteil Azerbaijan wiedererlangt. Im Dezember 1946 verlassen Jaleh und ihr Mann zusammen mit einer Vielzahl ihrer Schicksalsgenossen in einer Eilaktion den Iran; ihr Leben im Exil in der Sowjetunion nimmt seinen Lauf. In den folgenden Jahren entflammen heftige Diskussionen über die Gründe der Niederlage im Iran und die Bestimmung des weiteren politischen Weges der Partei mitten in der Stalin-Ära mit all den Verhaftungen, Vertreibungen und Hinrichtungen.

    In Baku lernt Jaleh die Sprache Azari und studiert Literaturwissenschaften. Im Februar 1949 wird ihr erster Sohn geboren. Tausende Verse übersetzt sie aus dem Azari ins Persische. Ihre sozialkritischen Gedichte verschaffen ihr Ruhm, sie ist ein angesehener Gast auf den Literaturkongressen in Moskau, Dushanbe und Baku (Jahre später auch in Kabul und Prag). 1951 erleidet sie eine infektiöse Hepatitis, deren Folgen sie bis zum Lebensende begleiten und sie immer wieder in ihrem Alltag und ihrer schöpferischen Arbeit stark beeinträchtigen. Im März 1953 bringt sie ihren zweiten Sohn zur Welt. Trotz dieser Ereignisse und Hindernisse kann Jaleh ihr Studium mit einer Diplomarbeit über das Werk „Khosro und Shirin“ des iranischen Dichters Nezami Ganjavi beenden.

    Nach sieben Jahren Aufenthalt in Baku siedelt sie nach Moskau über und promoviert in persischer Literatur, wofür sie auch Russisch lernen muss. Ihre Dissertation schreibt sie über das Leben und Werk des renommierten iranischen Dichters und Gelehrtern Mohammad Taqi Bahar. Trotz dieser Erfolge sind die Belastungen im Alltag und die Behinderungen durch die wiederholten Krankenhausaufenthalte wegen ihrer Lebererkrankung so groß, dass sie immer wieder von zeitweiligen tiefen Depressionen heimgesucht wird. Nur ein glücklicher Zufall verhindert 1960 einen Suizid.

    1960 wird sie an dem Moskauer Maxim Gorki-Institut für Weltliteratur angestellt. In den 1960er Jahren werden ihre Gedichte ins Russische übersetzt. 1965 erscheint im Moskauer Progress-Verlag ihre zweite Gedichtsammlung mit dem Titel „Der lebendige Fluss“ (zende roud). In demselben Jahr wird sie als ordentliches Mitglied in die Vereinigung der Schriftsteller der Sowjetunion aufgenommen.

    Nach dem Sturz der Monarchie 1979 kann sie erst im September 1980 endlich aus dem langjährigen Exil nach Teheran zurückfliegen. Nur kurze Zeit nach ihrer Rückkehr bricht allerdings am 22. September mit massiven irakischen Luftangriffen auf iranische Flughäfen der achtjährige Krieg zwischen Irak und Iran aus. In dieser bedrückenden Atmosphäre knüpft Jaleh Bekanntschaften und Freundschaften mit iranischen Künstlern, beteiligt sich an Literaturtagungen und Gedichtabenden. Sie wird Zeuge der ideologischen Kurzsichtigkeiten und zerstörerischen Streitigkeiten unter den iranischen Intellektuellen in Teheran und anderen Landesteilen.

    Im Februar 1982 verlässt Jaleh Teheran, um ihre Schwester wegen einer geplanten Augenoperation in England zu begleiten und ihren jüngeren Sohn in London zu besuchen. Wenige Monate später wird die Führung der Tudeh-Partei Irans in Teheran verhaftet. Die iranische Regierung setzt den Mitgliedern und Sympathisanten dieser Partei eine Frist und fordert sie auf, sich freiwillig zu stellen. Unter solchen Bedingungen ist eine Rückkehr aus London nicht sinnvoll. So beginnt ihr zweites Exil.

    In den folgenden Jahren setzt Jaleh ihre literarische Tätigkeit fort und beteiligt sich an Veranstaltungen und Lesungen in verschiedenen europäischen, zentralasiatischen und nordamerikanischen Städten. 1992 erscheint in Schweden ihr Gedichtband mit dem Titel „Khoroushe khamoushi“ („Aufbrausen der Stille“ bzw. „Schrei der Stille“). Ihre Autobiografie wird im Jahr 2000 in Deutschland veröffentlicht. Ende 2007 erliegt sie ihrem Krebsleiden in London. Im Dezember 2007 wird ihr zu Ehren in England ein Verein gegründet (5,6).

    ۞۞۞

     

    Biografie

    (1974)

    Das rote Lachen der Tulpen des Frühlings,

    die gelbe Träne der Bäume des Herbstes,

    der Kuss der Vereinigung und die Freude der Begegnung,

    die Trauer des Abschieds und das Unglück der Abwesenheit.

     

    Lebenslang suchen,

    warten,

    wünschen

    und in den Schöpfungen aufblühen:

    Das ist Eure und meine Biografie …

    ۞۞۞

    Jene Melodie

    (1972)

    Die Tulpe des Wunsches wird wieder aufblühen,

    des Herzens verschlossene rote Knospe wird aufgehen.

    Ich sage nicht, dass der vergangene Frühling zurückkehrt,

    dass die abgelaufene Zeit beginnt.

    Es gibt eine andere Zeit und einen anderen Frühling …

     

    Es ist eine Kunst,

    fröhlich zu sein.

    Freude spenden ist eine noch erhabenere Kunst.

    Jedoch werden wir es uns nie zubilligen,

    wie eine leblose Figur Tag und Nacht

    ohne Kenntnis der Lage aller anderen Menschen

    fröhlich zu sein.

    Sorglosigkeit ist ein großer Fehler,

    der uns fern sein sollte.

     

    Wie schön wäre es,

    wenn es einen Spiegel gäbe,

    der das Innere zeigen würde,

    damit wir uns in ihm betrachten könnten,

    all das sehen würden,

    was den Spiegeln verborgen bleibt.

    Wir würden uns jener erhabenen Kraft bewusst,

    die uns lehrt,

    zu leben,

    Beständigkeit zu erlangen,

    der Bote des Sieges und der Hoffnung zu werden …

     

    Es ist eine Kunst, fröhlich zu sein,

    wenn sich andere Herzen an deiner Freude ergötzen.

    Das Leben ist die einzigartige Bühne unserer künstlerischen Tätigkeit.

    Jeder trägt seine Melodie vor und verlässt die Bühne.

    Die Bühne ist stets vorhanden.

    Blühend ist jene Melodie,

    die die Menschen in ihrer Erinnerung bewahren …

    ۞۞۞

    Wer bin ich?

    (1977)

    Wer bin ich?

    Wer?

    Ein Komet,

    der der Nacht entrissen ist,

    der die Bekanntschaft mit der Morgenröte gemacht hat.

    Ein Auge, das das Licht erblickt hat,

    versöhnt sich nicht mit der Dunkelheit.

    Der helle Geist und das reine Wesen

    versöhnen sich nicht mit der Verderbnis.

    Wenn es in der Welt Ungerechtigkeit, Dunkelheit und Gewalt gibt,

    gibt es den Kampf,

    der zum Land der Gerechtigkeit und des Lichts führt.

    In der großen Inschrift des Lebens steht:

    Wenn du nicht siegst, wirst du verlieren.

    ۞۞۞

    Der Mensch und der Stein

    (1965)

    Die unendliche Einsamkeit ist das Schicksal des Steins.

    Es ist das Schicksal des Steins, blind und stumm zu sein,

    nie aus Trauer zu weinen,

    nie zu lachen,

    schmerzlos, hoffnungslos und wunschlos zu sein.

     

    Manchmal bekommt er als Fels

    Tag und Nacht Ohrfeigen von einem fernen Meer.

    Manchmal liegt er auf einem Grab und sagt ohne Stimme,

    wie der Mensch heißt, der nie wieder zurückkehren wird.

     

    Aber wenn er zur Statue ewig lebender Personen wird,

    streuen die Menschen Blumen auf sein Haupt.

    Glücklich ist der Stein, der zum Menschen wird.

    Schade, wenn ein unglücklicher Mensch versteinert.

    ۞۞۞

    Ich bin kein Kanarienvogel

    (1970)

    Ich bin kein Kanarienvogel, der auf der Wiese singt.

    Wieso verlangst du von mir ein zärtliches Liebesgedicht?

    Frühlingswasserfälle strömen aus meinen Augen,

    da ich ein Berg bin.

    Jedes Wort meines Gedichtes setzt das Papier in Flammen.

    Ich bin das wutentbrannte Lied einer Gruppe,

    einer aufständischen Gruppe, müde vom Warten,

    mit offenen Augen und verbundenen Händen.

    Ihr Schmerz hat eine andere Farbe und einen anderen Klang …

     

    Nicht einen Moment vernachlässige ich das Schicksal meiner Heimat,

    obwohl ich von ihr entfernt bin.

    Ich bin der Dichter der Epoche des Übergangs,

    der Poet einer Generation,

    die gegen Ungerechtigkeit und Niederträchtigkeit kämpft.

    Erachte mich als stumm,

    wenn meine Stimme kein Herz erreichen sollte.

    Mit tausend Augen betrachte ich die Welt,

    damit du nicht glaubst, ich bin blind.

    Ich bin der Dichter der schweren Zeit des Übergangs,

    der Zeuge einer Epoche,

    in der ein neues Zeitalter entsteht.

    ۞۞۞

    Die bessere Welt

     (1973)

    Wenn man mich fragt,

    was das Leben ist,

    werde ich sagen,

    stets auf der Suche sein,

    eine bessere Welt ersehnen …

     

    Heute bin ich aufmerksamer denn je,

    in der Wachheit bin ich voller Gedanken,

    im Schlaf bin ich wach.

    Ich würdige die Zeit,

    ich liebe die Erde.

    Im Anblick eines jeden hellen Morgens werde ich so sehnsüchtig,

    als wäre dies mein erster Tag,

    als wäre dies mein letzter Tag.

    In dieser verzaubernden Aufruhr

    bin ich unruhig wie die Frühlingsvögel.

    Mich bedrückt das Heim,

    mich bedrücken sorglose Gedanken

    und auch papageienhafte, sinnlose Gespräche.

    Mich bedrücken die Tagesnachrichten,

    wenn sie sich mit dem blühenden Markt des Einen

    und dem kalten Krieg des Anderen beschäftigen

    und nicht mit dem Geheimnis des Aufblühens menschlicher Kräfte.

    Ich möchte einen offenen Raum,

    der wie der Himmel grenzenlos ist …

    und eine Welt,

    die von dem Menschen weder Tod noch Opfer verlangt.

    ۞۞۞

     

    Die Hand der Liebe

    (1975)

    Wenn der Vogel nicht singt,

    das Wasser nicht tanzt,

    das Grüne nicht wächst,

    was wird die Erde machen?

     

    Wie eintönig und armselig wird das Dasein sein,

    wenn die Liebe nicht lacht,

    die Hoffnung nicht leuchtet,

    wenn die Freude fehlt

    und gelegentlich der Schmerz.

     

    Ich mache demjenigen Vorwürfe,

    der Trübsal bläst

    und wie der Winterschnee

    die Umgebung in die Kälte treibt

    überall, wo er sich hinsetzt.

     

    Wie glanzvoll ist es,

    die Hand der Liebe zu küssen.

    Aber wie schmachvoll ist es,

    wenn ein Mensch die Hand der Macht küsst.

    Die Sonne und die Erde sind ineinander verliebt.

    Wenn deine und meine Hände,

    die wie grüne Zweige sind,

    sich warm vereinigen,

    werden sie tausende roter Blumen hervorbringen

    und tausende gelber Früchte.

    ۞۞۞

    Die goldene Nachtigall

    (1968)

    Du, goldene Nachtigall,

    dich werde ich in meiner Dichtung,

    in den warmen Händen der Freunde,

    im Gesang des Lebens,

    in den Ländern des Frühlings,

    im Fleiß, der viele neue Triebe hervorbringt,

    in der unruhigen Nacht der Wartenden,

    beim Aufgang der ewigen Sonne,

    goldene Nachtigall,

    dich werde ich im Nest der Liebe finden,

    damit du meines Herzens Garten

    durch Licht und Gesang zum Blühen bringst.

    ۞۞۞

    Die Erde grünt deinetwegen

    (1974)

     

    Die Erde grünt deinetwegen

    und der Garten ist deinetwegen voller Farben geworden.

    Vom wirren Singen der Vögel ist die Wiese voller Aufruhr.

    Wieso sitzt du still?

    Was betrübt dich?

    Jetzt, wo ein neuer Frühling aufblüht,

    pflückt die liebkosende Brise der Morgendämmerung Blüten

    und wirft sie dem Wiedehopf zu Füßen.

    Benimm dich wie junge Wesen,

    wie die Bäume voller neuer Triebe.

    Lebe froh, wenn sich die Gelegenheit ergibt.

    Und schenke auch dem Nachbarn

    einen Ast dieser Blume,

    denn Schmerz und Trauer

    begleiten uns wie der Schatten …

     

    Der Frühling hat mir den Fleiß zum Erneuern beigebracht.

    Wieso soll ich diesen Moment sinnlos verlieren,

    denn das Jetzt ist ein Tropfen des Flusses meines Lebens,

    und das verflossene Wasser wird in den Fluss nicht zurückkehren.

     

    Wieso soll ich mit der Klinge der Traurigkeit den heutigen Tag enthaupten?

    Wieso soll ich diese Geschichte akzeptieren,

    dass das Leben erst am kommenden Tag ist?

    Denn die Ewigkeit fängt mit jedem Moment an …

    ۞۞۞

    Du fragst mich, woher ich stamme?

    (1962)

    Du fragst mich,

    woher ich stamme?

    Ich bin nicht sesshaft,

    und ziehe umher.

    Ich wurde erzogen durch Trauer und Schmerz.

    Betrachte die Weltkarte,

    mit einem Blick überquer die Ländergrenzen,

    zweifelsohne wirst du kein Land finden,

    in dem kein aus meiner Heimat Vertriebener lebt.

     

    Ich bin der unruhige Geist des Schlafwandlers,

    in Nächten mit Mondschein,

    im Schlaf,

    wandere ich auf den unendlichen Felsen der Sehnsüchte.

    Mit der Frage,

    woher ich stamme,

    hast du mich aus diesem goldenen Traum geweckt.

    Ich bin vom hohen Dach der Sehnsüchte heruntergefallen

    und liege der Mauer der Wirklichkeit zu Füßen.

     

    Du fragst mich,

    woher ich stamme?

    Ich komme aus dem Land des Reichtums und der Armut,

    von den grünen Hängen des Elburs-Gebirges (7),

    vom Ufer des prächtigen Zayanderud (8),

    und aus den alten Palästen von Persepolis.

     

    Du fragst mich,

    woher ich stamme?

    Ich komme aus dem Land der Dichtung, der Liebe und der Sonne,

    aus dem Land des Kampfes, der Hoffnung und der Qual,

    aus den Schützengräben der Opfer der Revolution.

     

    In durstigem Warten brennen meine Augen.

    Weißt du jetzt,

    woher ich stamme?

    ۞۞۞

    Hätte ich tausend Stifte

    Hätte ich tausend Stifte,

    tausend Federn,

    jede mit tausend Wundern,

    so würde ich jeden Tag tausend Mal

    ein Epos und ein Lied für die Freiheit schreiben.

     

    Wäre ich der Engel des Aufstands und des Zorns,

    so würde ich schon tausend Jahre zuvor

    die Stille und das traurige Warten der Sklaven durchbrechen;

    ich würde in das Viertel der Sklavenhändler ziehen,

    für die Versklavten Lieder singen,

    damit die schönen Sklavinnen und die mutigen Sklaven

    gegen die Sklaverei, Sklavenhalter und Sklavenhändler

    sich in tausenden Aufständen zur Freiheit erheben,

    dass niemand eines Anderen Knecht werde,

     die Knechtschaft aus der Erinnerung der Menschheit verschwinde,

    und niemand nicht einmal der Freiheit zum Knecht werde.

     

    Wenn ich tausend Zungen hätte – mächtige Zungen,

    fähig eine Botschaft ins Ziel zu tragen –

    so würde ich in allen Sprachen,

    die es weltweit gibt,

    den der Unterdrückung verfallenen Völkern sagen:

    Wenn ihr die Wurzeln der Knechtschaft mit dem Beil zerhackt,

    wird eure „Vergeltung“ die errungene Freiheit sein.

     

    Schreibt mit Flammen auf meinen Grabstein,

    dass diese nach Freiheit Dürstende auf der Suche starb,

    und wie verliebt sie zur Begegnung mit der Sonne eilte,

    auf dass die rötliche Morgendämmerung der Freiheit aufblühe.

     

    Wenn ich nach tausend Jahren auferstehe,

    werde ich meiner Epoche den Freiheitsgruß entbieten.

     

    Nach tausend Jahren werden andere Menschengenerationen,

    wenn sie auf Besuch

    von einem Stern zum anderen ziehen,

    aus den verbliebenen Wellen

    die Botschaft der Freiheit

    aus unserer stürmischen Epoche

    zu Gehör bekommen.

    ۞۞۞

    Wolke und Sonne

    (1978)

    Der Gang der Zeit

    nimmt jeden Moment eine neue Farbe an …

    Gestern war der Himmel bewölkt und weinerlich.

    Ich war traurig wegen der Tränen des Regens.

    Eine Weile später als ich aus dem Flugzeug sah,

    dass unter meinen Füßen die Wolke weinte

    und über meinem Kopf die Sonne lachte,

    fragte ich mich,

    weshalb ich kurzsichtig gewesen bin?

    Ich war betrübt.

    Wo habe ich eine ewig bleibende Wolke erblickt?

    Wenn wir den Kopf hoch halten,

    wenn wir den weiter entfernten Himmel betrachten,

    sind hinter der Dunkelheit der fliehenden Wolke

    die helle Sonne und das unendliche Universum.

    ۞۞۞

     

     

    Farbenfrohe Momente

    (1971)

    Ich brauche die Farben des Frühlings,

    die Farbe der Blumen,

    dieser reinen Geschenke des Paradieses,

    die Farbe der blauen Hyazinthe,

    die Farbe der gelben Narzisse,

    die rote Farbe der Anemone,

    die auf dem Feld gewachsen ist.

    die goldenen Tulpen,

    die violetten Jasminpflanzen,

    die Schattierungen der Wiesen mit ihren hundert Farben,

    die Farbe jener zärtlichen,

    an den Blumenblättern einen Saum tragenden Rose,

    die glänzenden, geliebten Farben des Frühlings.

    Ich brauche sogar jene Steinblume,

    die seit Jahrhunderten im Schoß des Gebirges blüht.

    Ich brauche den Farbkasten der Natur,

    die magische Farbe der Liebe,

    die Farbe des Fleißes und der Hoffnung,

    damit ich jedem Moment eine neue Farbe verleihe,

    die Nacht und den Tag nicht der Farblosigkeit überlasse,

    denn außer Schwarz und Weiß es gibt noch viele Farben.

    ۞۞۞

    Du kehrst zurück

    (1975)

    Eines Tages kehrst du zurück.

    Du kommst zurück

    mit dem morgendlichen Wind der Berge,

    mit den Wellen der Meere,

    mit dem Frühling.

    Und ich warte sehnsüchtig.

     

    Du bist ein Bote aus warmen Ländern und weißt,

    wie verzweifelt und traurig der Mensch durch die Kälte wird.

    Ich rede nicht von der Kälte des Wetters,

    ich meine die Kälte der Herzen.

    Du weißt, wie sehr ich,

    selbst voller Glut,

    verabscheue

    die Kälte der Reden,

    die im Ohr rauschen,

    den Frost der Herzen,

    deren Licht der Liebe erloschen ist.

     

    In meinem Herzen

    sagt ein stiller Schrei immer und immer wieder,

    dass du wie ein leuchtender Funke,

    wie ein Stern aus der Ferne,

    umarmt von mitternächtlichen Kometen

    zurückkommst.

    Ich bin voller Hoffnung,

    dein Gesicht zu erblicken.

    ۞۞۞

    Teheran und der Krieg

    (Winter 1981)

    Die schwarzen, furchtbaren Flügel des Kriegsdämons

    liegen bedrückend auf den Teheraner Nächten.

    Das einzige brennende Licht der Stadt

    ist der Mond,

    der bernsteinfarbene Mond,

    der auf dem unsichtbaren Dach Teherans leuchtet.

    Teheran ist dunkel,

    Teheran ist still,

    Teheran ist eine schwarz bekleidete Schönheit …

     

    Wenn die morgendliche Sonne das Elburs-Gebirge beleuchtet,

    all den goldenen Schnee,

    und das Herz sich nicht verrückt in Teheran verliebt,

    ist es kein Herz,

    sondern ein Stein.

     

    Doch welchen Platz haben jetzt Liebkosungen mit der Natur?

    Heute ist Krieg.

    Vom Schicksal der Heimat und der Menschen sich fern zu halten,

    ist eine Schande.

    Es ist eine Schande.

    Uns ist der Iran übrig geblieben,

    ein Meer des Zorns, des Blutes und des Sturmes.

    Es ist schmachvoll,

    ein Stein am ruhigen Ufer zu sein

    angesichts all der selbstlosen Handlungen der Aufständischen,

    die ihr Leben riskieren.

    Es ist eine Schande,

    nur sich selbst und die eigenen Interessen im Blick zu haben.

     

    Wer kann nachts zuhause beruhigt schlafen,

    wenn tausende Landsleute obdachlos sind,

    vertrieben durch den Krieg,

    den erbarmungslosen Krieg.

     

    Du,

    Geschichte schreibendes Teheran,

    stolzes Teheran,

    es sei,

    dass ich deine Nächte voller Licht sehe,

    dass ich erblicke,

    wie der ganze Iran des Sieges wegen

    mit Lichterketten beschmückt ist.

    ۞۞۞

    Mütter wollen den Frieden

    (1950)

    (für meinen Sohn Bijan)

    Du, verführerisches, schönes Kind,

    du, Frucht meines Lebens,

    dein Gesicht ist wie ein heller Spiegel

    meiner Kindheit und meiner Jugend.

    Ich betrachte in deinem Gesicht

    mein geliebtes vergangenes Leben

    und erblicke aus den Fenstern deiner Augen

    eine glückliche Zukunft.

    Deine Augen sind zwei große Sterne,

    leuchtend wie der Stern deines Glücks.

    Der Duft deines wohlriechenden Atems

    beruhigt das Herz und erleichtert das Leben.

    Wenn deine beiden kleinen Hände

    sich wie eine Schlinge um meinen Hals werfen,

    ist es so, als würde ich die Welt umarmen,

    deine Liebe bringt meinen Körper zum Beben.

    Die Mutter ist ein seltsames, selbstloses Wesen,

    sie opfert sich für ihr Kind.

    Die Mutter opfert das Herz und die Seele des Lebens

    liebevoll für ihr Kind.

    Du, geliebtes, schönes Kind,

    du, die neue Blume meines Lebens,

    auch wenn ich sterben muss,

    werde ich dich nicht einen Moment

    dem Feind überlassen.

    Wenn sich eine Mücke auf dein Gesicht setzt,

    springe ich von der Stelle und bin entrüstet,

    wie soll ich es dann aushalten,

    dass du inmitten Feuers und Blutes fällst.

    Wenn man mein Auge ausreißt,

    wenn man mein Herz zerreißt,

    werde ich es nicht zulassen,

    dass die Flamme des Krieges

    deine Wiege verbrennt.

    So wie ich,

    verabscheuen und hassen alle Mütter der Welt

    den Krieg.

    Der Fluch der Mütter der Welt gilt jedem,

    der das Feuer des Krieges entfacht.

    ۞۞۞

     

    Quellenangaben und Bemerkungen

    (1) Der Buchstabe „j“ wird im Wort „Jaleh“ (ژاله) wie in „Journal“ ausgesprochen.

    „Jaleh“ bedeutet Tau und steht symbolisch für Reinheit und Schönheit. Der Name der Stadt Isfahan wird auf Persisch Esfahan (اصفهان) ausgesprochen. Der Buchstabe „i“ am Ende des Wortes „Esfahani“ weist darauf hin, dass etwas oder jemand aus Isfahan stammt bzw. Isfahan zugehörig ist.

    (2) Jaleh Esfahani: Schatten der Jahre (Sayehaye salha) . Nima Verlag, Essen, 2000.

    (3) Jaleh: Abbildung der Welt (Naqshe jahan). Progress Verlag, Moskau, 1981.

    „Naqshe jahan“ (نقشِ جهان) bedeutet Abbildung oder Darstellung der Welt. Ein berühmter, historischer Platz in Isfahan trägt diesen Namen.

    (4) Nach ihrer Heirat und der unerwarteten Ausreise in die Sowjetunion trägt sie den Nachnamen ihres Ehemannes und heißt dann Jaleh Badi’zade(ژاله بدیع زاده). Ihre Bücher erscheinen in den Sowjetrepubliken unter dem Namen Jaleh Badi‘. In Afghanistan wird sie als Jaleh Zendehroudi bekannt, da eine ihrer in Moskau erschienenen Gedichtsammlungen den Titel „Zendeh roud“(Der lebendige Fluss) trägt.

    (5)http://www.jalehesfahani.com/E/foundation.php

    (6)Bilder von Jaleh Esfahani sind im Internet zugänglich unter:

    http://www.iran-emrooz.net/index.php?/farhang/more/14834/

    (7) Hochgebirge im nördlichen Iran

    (8) Dieser Fluss fließt durch Isfahan.

     

  •  

    Quelle der Zuversicht

    (20.10.2016)

     

    Wenn ich unsere Medienlandschaft betrachte
    wächst bei mir grenzenlos
    ein empörendes Erstaunen
    da ich mich immer wieder
    wie in einem großen Kerker fühle
    schalltot und echolos 

    Anstelle der Wände
    sehe ich in diesem Gefängnis
    wohl ernährte Menschen
    finstere, bunte, feige Gestalten
    Sie gestikulieren gedächtnislos
    fabulieren unverschämt
    manche mutmaßlich erzwungen
    einige augenscheinlich begeistert
    andere gedankenlos und mitläuferisch
    Offensichtlich können sie kaum erkennen
    dass der vermeintlich feste Boden
    unter ihren Füßen tausend Risse zeigt 

    Wenn ich aus der Vogelperspektive
    das Geschehen ganzheitlich betrachte
    sehe ich nicht nur in unserem Land
    sondern auf verschiedenen Erdteilen
    unzählig viele Bienen und Ameisen
    die gelassen, geduldig, gewagt
    vielfältig, vereint, unbeirrt
    aufrecht, authentisch
    der gewaltigen Maschinerie der Verwüstung trotzend
    ihren Weg beschreiten und bestreiten 

    Sie sind meine Quelle der Zuversicht

  • Snowden*

    (3.10.2016) 

    Die beiden Standpunkte
    »Unglücklich das Land, das keine Helden hat«

    und

    » Unglücklich das Land, das Helden nötig hat«**
    seien zur schöpferischen Diskussion dahingestellt

     

    Tatsache bleibt
    dass ohne Wissen, Weitsicht, Verantwortungssinn
    Liebe zum Leben
    sowie ohne Ehrfurcht
    bekannter und unbekannter Menschen
    vor dem Sein
    unser heutiges Dasein
    ein ganz anderes Antlitz hätte

    ֎֎֎

    Bemerkungen:

    * Der Text entstand nach dem Erleben des Filmes „Snowden“ von Oliver Stone.  Am Ende des Filmes tritt Edward Snowden persönlich auf und macht die beeindruckende Bemerkung: „When I left Hawaii, I lost everything. I had a stable life, stable love, family, future. And I lost that life, but, I’ve gained a new one, and I am incredibly fortunate. And I think the greatest freedom that I’ve gained is the fact that I no longer have to worry about what happens tomorrow, because I’m happy with what I’ve done today.“

    ** Bertolt Brecht;  Leben des Galilei; 13. Szene

  • Frau Silke Albrecht hat zwischen 2009 und 2015 ihre Dissertation zur Erlangung des Doktorgrades im Fach Humanmedizin an der Universität Halle-Wittenberg im Institut für Ethik und Geschichte der Medizin (Prof. Dr. Florian Steger) geschrieben. Die Promotion fand im Juni 2016 statt.

    Frau Dr. Albrecht hat uns freundlicherweise erlaubt, ihre Arbeit hier zu veröffentlichen. Wir sind ihr für ihre tief schürfende Recherche sehr dankbar, die zu dieser hervorragenden  Dokumentation geführt hat.

    Wenn Sie einen Einblick in die Arbeit haben wollen, schreiben Sie diesen Link der Universität Halle

    http://digital.bibliothek.uni-halle.de/urn/urn:nbn:de:gbv:3:4-18081

    in die Zielzeile im Internet. Auf der Seite, die Sie dann finden, sehen Sie rechts ein Feld, in dem Sie die Arbeite herunterladen können.

     

     

     

     

     

  •  

    Trivial oder geistvoll?

    Joseph Viktor von Scheffel (1826-1886)

    Wie kommt eine Orthopädin, die auf ihre alten Tage das Steckenpferd der  Klassischen Archäologie reitet, dazu, einen verstaubten Poeten des 19. Jahrhunderts aus der Versenkung zu holen? Nun, meine mütterliche Linie hat badische Wurzeln, und zu den Bibliotheksbeständen dieser Familie gehörte allemal eine Scheffel-Ausgabe. „Der Trompeter von Säckingen“ und „Ekkehard“ waren Standard, und die Lieder aus dem „Gaudeamus“ wurden zur Erheiterung gesungen, wenn ungeistige Arbeiten wie Geschirrspülen auf der Tagesordnung standen. Mein Vater, Naturwissenschaftler, hatte seine Freude an Gedichten wie dem Megatherium oder dem letzten Ichthyosaurus, vom Granit oder vom Asphalt, aus dem hier eine Kostprobe folgt:

    Bestreuet die Häupter mit Asche,
    Verhaltet die Nasen euch bang,
    Heut gibt’s bei trübfließender Flasche
    Einen bituminösen Gesang. 

    Schwül strahlet die Sonne der Wüste,
    Am Toten Meere macht’s warm;
    Ein Derwisch spaziert an der Küste,
    Eine Maid aus Engeddi am Arm. […] 

    Zwei schwarzbraune Klumpen lagen
    Am Ufer faulbrenzlig und schwer;
    Drauf satzte mit stillem Behagen
    Das Paar sich und liebte sich sehr. 

    Doch wehe! sie saßen auf Naphtha,
    Und das lässt keinen mehr weg,
    Wer harmlos sich dreinsetzt, der haft’t da
    Und steckt im gediegensten Pech. […]

    Umsonst hat ihr Klagen und Weinen
    Die schweigende Wüste durchhallt,
    Sie mussten zu Mumien versteinen
    Und wurden, ach, selbst zu Asphalt. […] 

    So geht’s, wenn ein Derwisch will minnen
    Und hat das Terrain nicht erkannt…
    O Jüngling, fleuch eiligst von hinnen,
    Wo Erdpech entquillet dem Land. (Panzer 1, 25 f.)

    Während meines Studiums in Freiburg erstand ich antiquarisch eine vierbändige Ausgabe der Scheffel’schen Werke[1]. Seither sind die Reisebilder und Episteln daraus mein Brevier[2]. Eine Fahrt auf Scheffels Spuren im Sommer 2016 mit Kollegen von der Ärztekammer Nordbaden und der Karlsruher Sektion deutschsprachiger Schriftsteller-Ärzte tat ein Übriges.

    Der folgende höchst subjektive Beitrag setzt die Schwerpunkte ganz nach meinem persönlichen Ermessen.

     

    Inhalt

    1. Gefeiert und geschmäht[3]
    2. Leben und Werk des Joseph Viktor Scheffel
    3. Nur ein Sauf-Poet?
    4. Scheffels Krankheiten
    5. Scheffel und die Theorie von der transalpinen Einwanderung der Etrusker
    6. Trivial oder geistvoll?
    7. „Bestreuet die Häupter mit Asche…“

     

    1. Gefeiert und geschmäht

    Im Gegensatz zu dem großen Erfolg und der Verehrung, die  Scheffel im 19. Jahrhundert und noch in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts zuteilwurden, ist er heute wenigstens nördlich der Mainlinie vollkommen unbekannt. Nur – was heißt das schon? Kaum 20 Jahre sind vergangen seit Friedrich Schiller im gymnasialen Deutschunterricht nicht einmal erwähnt wurde, und das nachdem seine Dichtungen in der Gunst des Publikums zeitweise höher standen als diejenigen Goethes. Doch vergleichen wir nichts Unvergleichliches!

    Scheffel ist frühzeitig diffamiert worden. Schon 1884 schrieb Gustav Mahler: „Ich habe eine Musik zum Trompeter von Säkkingen komponieren müssen…“. Es „hat … nicht viel mit Scheffelscher Affektiertheit gemein.“ Die Partitur ist heute verschollen. Mahlers anfängliche Freude an seiner Komposition war offenbar „bald einer Verdrossenheit darüber gewichen“[4]. Das war noch zu Scheffels Lebzeiten, als sich Gaudeamus, Trompeter und Ekkehard gerade gut zu verkaufen begannen[5]. Während des 20. Jahrhunderts aber gossen Kritiker und Rezensenten eine solche Flut von Diskreditierung und „Verdrängung“ über den Verfasser aus[6], dass nur einiges Wenige davon genannt werden kann: „Viktor von Scheffel, eine fränkische Fehlanzeige“[7], Trivialliteratur[8], Simmel des 19. Jahrhunderts, billiger „Kitschier“[9], dessen „literarischer Rang unbestritten zweifelhaft ist“[10]. Sein Humor täusche eine dichterische Kraft vor, die er nur in geringem Maße besaß und „früh verlor“. Er sei ein Repräsentant für …“den Verfall der geselligen Lyrik zum billigen Bierkneipenton“[11].

    Wer sich nun trotzdem nicht an der Beschäftigung mit Scheffels Werk hindern lässt, folgt am besten Mahals Empfehlung[12] und nimmt sich die Briefe und Reisebilder vor[13]. Scheffel besaß selbst „ein gerüttelt Maß an Selbstironie“ und war dadurch vor dichterischer Überheblichkeit gefeit[14]. Also können wir nichts Besseres tun, als ihn möglichst oft selbst sprechen zu lassen:

    „Wenn du mir den Gefallen tust, die von mir handschriftlich vorhandenen Dichtungen … zu verbrennen, so bleibt mir auch kein Wunsch mehr übrig…Da ich vieles geschaffen, was schöner ist, so geht der Stoff nicht aus, wenn auch das alte Zeug in Lethe versenkt wird“[15].

    Ein Tag am Quell von Vaucluse: „Ich … verfertigte ein wohlgedrechseltes Sonett … verschloss es in eine … Flasche … und warf Flasche und Sonett in die Tiefe der Flut…Da ich aber bei dieser Gelegenheit, den Widerhall der Felswände zu prüfen, mit starker Stimme: Petrark! Petrark! rief, klang leise gehaucht ein  … Arg! Arg! zurück, sodass ich von jeder weiteren Behelligung des Echo sofort abstand“[16].

    Zu einigen Gedichten allerdings fällt auch mir auch nichts anderes ein als „arg“. Es folgen Auszüge von den Ärgsten:

    Pumpus von Perusia.
    Ein mildes Kopfweh, erst der jüngsten Nacht entstammt,
    Durchsäuselte die Luft mit mattem Flügelschlag…
    O Fufluns, Fufluns! unheilvoller Bacchus du!
    s’ist alles fort und hin und hin und fort…hahumm!…
    Ich – Pumpus von Perusia, der Etruskerfürst!…
    Doch jenen Tages ward im Wald bei Suessulae
    Zum erstenmal, seit dass die Welt erschaffen stand,
    Ein Held von einem andern Helden – angepumpt!
    Das ist der Sang vom Pumpus von Perusia.

    (Panzer 1, 32-34)

    Nicht nur arg, sondern dreimal autsch! Dieses Elaborat ist noch dazu endlos lang.

    Oder: 

    Rodensteins Auszug.

    Es regt sich was im Odenwald – Rum plum plum… (Panzer 1, 290)

    Die Zechlieder zeigen wie Scheffel „auf dem schmalen Grat zwischen philologischer Genauigkeit und hausbackener Verfremdung mit seinen Gegenständen umzugehen wusste“, konstatiert Rüdiger Krohn[17], und fährt dann fort: Das ist seine Tragik: „Dass er sich […] im Widerspruch von Kunst und Unterhaltung selbst abhanden kam“.

     

    2. Leben und Werk des Joseph Viktor Scheffel[18]

    Er ist 1826 in Karlsruhe geboren und 60 Jahre später auch dort gestorben. Sein Vater, Philipp Jakob, war als Ingenieur und Offizier in der Wasser- und Straßenbaudirektion tätig und mit der Korrektur und Überwachung des Rheinlaufs zwischen Basel und Mannheim betraut. Seinem pflichttreuen, ein wenig starren und pedantischen Charakter kam eine regelmäßige bürgerliche Laufbahn entgegen. Kein Wunder, dass er der unsicheren Lebensbahn seines Sohnes zweifelnd gegenüberstand. Was Joseph Viktor zum Dichter machte, verdankte er der Mutter, die heiteren Sinnes und eine gute Erzählerin war. Ihre Märchen erfand sie selbst, schmiedete Verse mit großer Leichtigkeit und schrieb Dramen, darunter eines in ihrer badischen Mundart. Die Großmutter mütterlicherseits stammte aus Rielasingen am Hohentwiel und machte den Enkel schon früh mit dem Ekkehard und dessen Schauplatz vertraut[19].

    Im Karlsruher Gymnasium erhält Scheffel eine gründliche Ausbildung in den klassischen Sprachen, studiert dann aber Jura auf Wunsch seines Vaters, der für den Sohn eine solide Beamtenlaufbahn anstrebt. Gleich in den ersten Semestern in München geht Joseph neben der Rechtsgelehrsamkeit seinen künstlerischen Neigungen nach. Er hört Ästhetik, Kunstgeschichte und Philosophie und lernt Kaulbach und Moritz von Schwind kennen. In Heidelberg liegt der Schwerpunkt dann, von der Jurisprudenz abgesehen, auf der Literatur. Als Mitglied studentischer Vereinigungen wirkt er an der relativ fortschrittlichen Verfassung einer Burschenschaft mit. Zahlreiche Männerfreundschaften glücken ihm besser als seine Versuche auf dem Felde der Frauenliebe, wo er ein Missgeschick nach dem anderen erleidet. Unsterblich und schicksalhaft verliebt er sich in seine Base Emma. Obwohl Vetter und Cousine jeweils Ehen mit anderen Partnern eingehen, stehen sie zeitlebens in enger Verbindung und treffen sich immer wieder, was vor allem Scheffels Ehe nicht gut bekommt. Schon vor der Geburt des gemeinsamen Kindes trennt sich die Gattin Caroline von Malsen von ihm, und eine Versöhnung kommt erst wieder an Scheffels Sterbebett zustande. Der Sohn, ebenfalls Viktor, wird seinem Vater von der Mutter vorenthalten, bis jener den Jungen eines Tages aus München entführt. Nach einem recht glücklichen Zusammenleben der beiden Männer schlägt der Junior die militärische Laufbahn ein.

    Zurück zum Studium. Man schreibt das Jahr 1848. Scheffel ist nicht unpolitisch. Er beteiligt sich als zweiter Sekretär des badischen Bundestagsgesandten an den Verhandlungen des Vorparlaments in Frankfurt und nimmt am Burschenschafter-Fest auf der Wartburg teil. Gleichwohl besteht er ohne größere Mühe das Staatsexamen. Die Enttäuschung über die geringen Erfolge der bürgerlichen Revolution haben ihm die politische Tätigkeit verleidet. Er schreibt: „Ich wollt‘, ich könnt‘ eher heut als morgen…auf italischem Boden einen Schluck Lethe trinken, in dem alle Erinnerungen seit 1848 ausgetilgt würden“[20]. Er tritt in eine juristische Praxis in Heidelberg ein. Anfang 1849 wird er summa cum laude zum Dr. jur. promoviert. Die beiden Jahre, die er anschließend in Säckingen als Rechtspraktikant verbringt, sowie ein paar Monate am Hofgericht in Bruchsal sind beinahe das letzte Zugeständnis an eine Beamtenlaufbahn, die er alsbald aufgibt. Seine Bewerbung um die vom eidgenössischen Polytechnikum in Zürich ausgeschriebene Professorenstelle für deutsche Literatur bleibt begreiflicherweise neben der des qualifizierten Literaturwissenschaftlers und Philosophen Friedrich Theodor Vischer erfolglos[21]. Besorgt erkennt Scheffels Mutter seine „inneren kranken Seelenzustände …nach dergleichen Enttäuschungen, Überfülle von Wissensdrang und Phantasie – neben einer unbeschreiblichen Unkenntnis des wirklichen Lebens“[22]. Im Alter von 26 Jahren, 1852, lässt Scheffel das bürgerliche Dasein endgültig hinter sich.               

    Mein Hutschmuck die Rose,
    Mein Lager im Moose,
    Der Himmel mein Zelt:
    Mag lauern und trauern,
    Wer will, hinter Mauern,
    Ich fahr‘ in die Welt!
    (Panzer 1, 81, Strophe 3)

    Wieder einmal erlebt ein deutscher Bildungsreisender in Italien, dass er eher zum Dichter als zum Maler berufen ist. Die Mutter, die ihn besser kennt als er sich selbst, schreibt: „In Rom will er malen! – Was sagen Sie dazu?! Ich meine, sein ihm von der Natur gegebener Pinsel sei die Feder. Was er mit der Feder malte, war immer das Beste und – ich denke, in Rom wird ihm das schon klar werden.“[23]

    Seine Vers-Dichtung „Der Trompeter von Säckingen“ und der Roman „Ekkehard“[24] liegen bereits 1854 und 1855 vor, beruhigen den Vater jedoch keineswegs über die Zukunft des Sohnes. Die Mutter dagegen akzeptiert, dass er als Künstler zu leben versucht, „Kunst und Poesie spuken zu gewaltig in ihm. In Gottes Namen! – er ist jetzt Mann und wird wissen, was er zu tun hat…“[25]. Die Reisebilder und Episteln sind voll scharfsinniger Beobachtungen und schnurriger Kommentare, sprühen von geistvollen Vergleichen und ironischen Anmerkungen. Er schildert das Ambiente des Säckinger Gasthauses „Zum goldenen Knopf „, alemannisch der „Chnopf“[26], sowie das Wirtshaus „Zum dürren Ast“ im Hauensteiner Schwarzwald[27]. Dessen Name gefällt ihm so, dass er sich, wenn er bei Laune ist, danach benennt: „Josephus vom dürren Aste“[28].

    Doch Scheffel ist durchaus nicht immer bei Laune. Im Gegensatz zu den heiteren Säckinger Episteln schlagen in den sachlichen Briefen oft Missmut und Resignation durch: „Im einförmigen Geschäftsleben vergeht ein Tag wie der andere, u. die Pointe des Tags besteht darin, dass man Abends viel Bier trinkt!“[29]

    Manches misslingt; er ist unstet, zögerlich, inkonsequent und neigt zur Melancholie. Von einem hartnäckigen Augenübel[30] ist die Rede, und er leidet an fieberhaften Zusammenbrüchen. Einen furchtbaren Schlag bedeutet der Tod seiner Schwester Marie, die 1857 an Typhus stirbt.

    Bürgerliche Stellungen werden gar nicht erst angetreten[31]. Obwohl ihn Karl Alexander von Sachsen-Weimar-Eisenach fördert und ihn sogar auf der Wartburg wohnen lassen will, kommt der geplante Wartburg-Roman nicht zustande. Der Großherzog hatte sich zu der erfolgreichen malerischen Ausgestaltung der Burg durch Moritz von Schwind von Scheffel ein literarisches Gegenstück gewünscht. Doch fehlen ihm „…für sein Vorhaben sowohl die aesthetische Kreativität als auch die wissenschaftliche Kompetenz und Methode, um seine vielen Ideen und Einfälle planvoll zu ordnen, kritisch auszuwerten“[32]. Seine hellsichtige Mutter schreibt: „Was Joseph vor Weimar so scheu macht, ist der Gedanke an die großen Geister – Goethe, Schiller, Herder – in solche Fußstapfen treten zu sollen, erscheint seiner Bescheidenheit ein vermessenes Wagstück. Er fürchtet, ein zu schwaches Reis am alten großen Dichterbaum zu werden.“[33]

    Das Amt des Hofbibliothekars in Donaueschingen, zu dem Scheffel vom Fürsten von Fürstenberg berufen wird, gibt er nach einem Jahr bereits wieder auf. Zum 50. Geburtstag, 1876, wird Scheffel der erbliche Adelstitel verliehen. Die Gabelbach-Gemeinde[34] zu Füßen des Kickelhahns, an deren Versammlungen er mehrfach teilnimmt, ernennt ihn zum Ehrenbürger und Gemeindepoeten. Leider erlebt er die Einweihung des Scheffeldenkmals und anderer nach ihm benannter Plätze nicht mehr. Ohnehin stehen die zum Teil posthum verliehenen Ehren gerade am Kickelhahn im Schatten eines weit Größeren, dessen weltberühmtes Gedicht „Über allen Gipfeln ist Ruh“ dort entstand.

     

    3. Nur ein Sauf-Poet?[35]

    Die bevorstehende Herausgabe der Liedersammlung „Gaudeamus“, zu der Scheffel sich nur unter erheblichen Bedenken entschließt[36], lässt ihn mit Recht befürchten, als „Sauf-Poet“ apostrophiert zu werden, eine Bezeichnung, die sich alsbald zum „geflügelten Wort“ aufschwingt[37]. Blättert man den „Gaudeamus“ auf entsprechende Hinweise durch, so stellt man je nach Veranlagung mit Hochachtung oder Indignation fest, dass in 32 von 52 Liedern von Durst, Trinken, Trunkenheit, Wein, Bier oder Wirtshaus, die Rede ist[38]. Das plastische Wort „Trinkung“ stammt ebenfalls aus Scheffels Schöpferwerkstatt:

    „Von eygentlicher Trinkung ist in Florenz nichts vorgefallen…bin somit darauf eingeschränket gewesen, mit dem Küster der alten, merkwürdigen Kirch‘ San Miniato eynes Abends etzliche Korbflaschen auszustechen, so schier bis gen Mitternacht gewähret.“ (Römische Epistel Caput I, Panzer 4 , 310 f.)

    oder:

    „Und war dies die schärfste Trinkung, so ich seit meiner Abfahrt aus Deutschland erlebet – hab‘ mich aber tapfer durchgefochten…“ (Caput VI, Panzer 4, 331).

    oder:

    „und begann von neuem an meinen guten Stern zu glauben, der mich ohne Vorbedacht …schon so manchem Frühstück und anderweiter Trinkung entgegengeführt…“ (Brief aus Venedig, Panzer 4, 367)

    oder:

    „wie die erst‘ Ausruhung und Atzung vorüber war, entspann sich eyne gelinde, aber ausdauernde Trinkung, und brachte die preiswürdige Regina eyne schwere Pfann‘ vino caldo, dessen Zubereitung… der alte Meister Willers von Oldenburg[39] kunstreich gelehret“ (Römische Epistel 6, Panzer 4, 343).

    Ein Lied, das früher in jedem Kommersbuch stand, ist in den „Trompeter von Säckingen“ integriert (Panzer 2, 212 f.):

    Alt Heidelberg, du feine…

    Auch hier heißt es:

    Stadt fröhlicher Gesellen,
    An Weisheit schwer und Wein,..

     

    Nicht von Scheffel dagegen stammt, wie gelegentlich behauptet wird, das Kommerslied „Gaudeamus igitur“. Er hat es natürlich gekannt und seine berühmteste Liedersammlung danach betitelt: „Gaudeamus“.

    In den Reisebildern „Aus dem Hauensteiner Schwarzwald“ geht es ebenfalls alkoholisch zu:

    „So war im Wirtshaus zum dürren Ast der Wein so wehmütig zusammenschnürend, dass einem minder starken Charakter die Versuchung zum Schnaps sehr nahegelegt war“. „G’soffe muss doch sy!“ (Panzer 4, 73 f.).

    Kein Wunder, dass Scheffel sich für den persischen Dichter Hafis interessiert, der im 14. Jahrhundert Lieder von Wein und Weib, von Schenken und schönen Knaben[40] verfasste. Durch den Divan des Hafis war Goethe bekanntlich zu seinem West-Östlichen Divan angeregt worden.

    Hafis: Der Buchstabe Dal  XCVIII

    …Mein Herz, wenn du die Lust
    Von heut auf morgen stets verschiebst,
    Für das geborgte Gut,
    Wer wird Gewährsmann sein?
    Gib in dem Mond Schaban
    Den Becher nimmer aus der Hand…[41]

    1852 entsteht Anselm Feuerbachs Bild „Hafis vor der Schenke“. Der Maler lebt zu dieser Zeit in Karlsruhe und begleitet Joseph Viktor auf seiner Reise nach Venedig und zum Kastell Toblino[42].

    „Sein damalig Wald-und Feldbrevier…oder besser der fahrenden Schüler lateinisches Liederbuch“[43] waren die Trink- und Vagantenlieder der Carmina Burana. Meum est propositum in taberna mori… Mein Geschick ist’s, in der Kneipe zu sterben[44] – nun, dazu ist es dann doch nicht ganz gekommen…

     

    4. Scheffels Krankheiten:

    In der Kenntnis feucht-fröhlicher Reime und kontemplativer Trinkungen[45], sowie der Tatsache, dass Scheffel aus heutiger Sicht „nur“ 60 Jahre alt geworden ist, liegt es nahe, bei den Krankheits-und Todesursachen auch an die Folgen von  Alkoholismus und  Leberzirrhose zu denken.

    In seiner 1907 erschienenen Schrift  „Über Scheffels Krankheit“ behandelt P. J. Möbius[46] dessen Konsum geistiger Getränke eher nebensächlich:

    „War der Alkoholismus … nicht Ursache der Geisteskrankheit, so dürfte er doch die frühzeitige Erkrankung der Blutgefäße gefördert und dadurch Scheffels Leben abgekürzt haben“[47].

    „Wahr ist ja, dass unser Freund, nachdem sich seine Krankheit entwickelt hatte, mehr Wein und Bier zu sich nahm, als ihm gut war, und darin in späteren Jahren Trost und Vergessenheit suchte“[48]. Es scheint aber in Wirklichkeit „nicht so schlimm gewesen zu sein … Scheffels Verherrlichung des Suffes ist wohl eine Art von Sport gewesen.“ Möbius schreibt weiter:

    „Ein von Hause aus nervöser junger Mann erkrankt…mit 27 Jahren an Congestionen [lokalem Blutandrang] und heftigen Kopfschmerzen, so dass er für Monate unfähig zur Arbeit wird. Nach zwei Jahren … tiefe Verstimmung, Menschenscheu, wahrscheinlich auch Wahnvorstellungen. Es zeigt sich, dass der Kranke dauernd geschädigt ist, dass seine Schaffenskraft mehr und mehr erlischt … zeitweise Erregung und Depression, zeitweise heitere Stimmung und Fähigkeit zu arbeiten…Im 35. Lebensjahre schwerste Erkrankung, Verfolgungswahn“, Schuldgefühle. Langsame Rekonvaleszenz, „die dichterische Leistungsfähigkeit sinkt immer mehr … Mit 42 Jahren Beginn der Erkrankung des Herzens und der Pulsadern [Atheromatose]…Mit 60 Jahren Tod.

    „Die Diagnose kann … nicht zweifelhaft sein: leichte Form des zerstörenden Jugendirreseins, der sogenannten Dementia praecox [veraltete Bezeichnung für Krankheiten aus dem Formenkreis der Schizophrenie]…“.

    Möbius sammelt Argumente für eine erbliche Geisteskrankheit in der Familie Scheffel. Joseph Victor hatte einen geistig und körperlich schwer behinderten jüngeren Bruder, der immerhin 53 Jahre alt wurde. Nach dem Tod des verwitweten Vaters betreut der Ältere den Bruder eine Zeitlang allein. In Marie, der von allen geliebten, als schön, geistvoll und liebenswürdig[49] beschriebenen Schwester, war „das Pathologische nicht gering“, als sie „1853 ihre Verlobung unmittelbar vor der Hochzeit, als schon die Kleider bereit lagen, auflöste“[50], sic!

    Scheffel selbst war „nach knapp 10 Jahren“ von seiner Krankheit zwar „geheilt, aber … seine Dichterkraft war zerstört“[51].

    Wir versuchen einmal, aus den am häufigsten erwähnten krankhaften Störungen  eigene Verdachtsdiagnosen abzuleiten[52] (jeweils in Kursivschrift).

    Scheffel fühlt sich „unbeschreiblich bedrückt“, nachdem die republikanische Zukunft des Landes im April 1848  „verpfuscht“ erschien[53]. „Meine Komik ist oft nur die umgekehrte Form der inneren Melancholie“[54]. Als Marie ihre Verlobung löst, reagiert die ganze Familie mit einer aus heutiger Sicht völlig übertriebenen Aufregung[55]. Tiefe Erschütterung nach dem Tod der Schwester. Hypochondrie. Als Brautwerber mehrfach abgewiesen[56]. Selbstquälerei um den unbewältigten Wartburg-Roman, krankhaftes Misstrauen, da er eine geänderte negative Einstellung des Weimarer Großherzogs, den er enttäuscht hatte, befürchtet[57] (reaktive Depression). 

    „Kopf-Kongestionen“, Augenleiden, „Gehirnentzündung“, Blutkongestion nach dem Kopf, Augenentzündung, Nervenreiz[58]…“mein ganzes Nervenleben ist durch die übertriebene Arbeit am Ekkehard zerrüttet…“ (Burnout-Syndrom[59]).  

    Kopfschmerz, Gesichtsschmerzen, auch die Mutter litt zeitweise daran

    (Migräne mit Aura, Einschränkung des Gesichtsfeldes und andere visuelle Phänomene. Trigeminusneuralgie).

    Wechselfieber. Reise nach Südfrankreich; in Bordighera hoch fieberhafte Attacken, die sich auch in Deutschland noch fortsetzen[60]. Gedicht  „Dem Tode nah“[61] (Malaria).

    Herz-Kreislaufsymptome, „Druck am Herzen“. Lähmung der linken Seite, Besserung nach Kur in Bad Kissingen, Gefahr …stärkeren Schlaganfalles, Brustschmerzen, Atemnot[62] (Arteriosklerose, Angina pectoris, Apoplexie).

    Lassen wir die Diagnosen „Dementia praecox“ und „Geisteskrankheit“ getrost außer Acht und sprechen stattdessen von depressiver Verstimmung, reaktiver Depression, Melancholie. Dass Scheffel als Heiratskandidat Körbe einsammelt und von seiner schwangeren Frau noch vor der Entbindung verlassen wird, auch dass Marie ihre Hochzeit absagt, all dies spricht weniger für eine familiäre Geisteskrankheit als für mangelhafte Bindungsfähigkeit der Geschwister.

    Die Versuche, Scheffels beeindruckenden Alkoholkonsum herunterzuspielen und zu verharmlosen, sind rührend[63], aber nicht ganz überzeugend. So heißt es gleich im Vorwort zur ersten römischen Epistel:

    „Inzwischen ist viel Wasser den Rhein ab, – auch viel Weines halsabwärts geflossen…“.

    Als Scheffel im Café Greco in Rom eine „epistola encyclica“ der Freunde aus dem Heidelberger „Engeren“ in Empfang genommen und „un fiasco d’Orvieto“ dazu bestellt und „still gerührt getrunken“ hat, versucht er es mit einer scherzhaften Rechtfertigung, dass nämlich „in der zehrenden Hitz‘ und dem scirocco Welschlands eyne innere Ursach‘ liegt, dass der deutsche Mensch allhiero sträflich viel Weines tilgt…und eyn leiser Anflug von südlicher Färbung auf der Nase mag…eher zu den ‚wunderbaren Lufterscheinungen bei Sonnenauf-und Untergang‘ in der Umgegend Roms als zu eynem testimonium allzu scharfer Trinkung zu zählen sein.“

    In der 6. Römischen Epistel[64] berichtet er:

    ….“Und hat der Wirt eyn ungeheures pranzo hergerichtet – und haben die Italiener den alten Brauch, beim convivium zwischen jeder Schüssel eyns zu singen – und sangen auch – aber sehr unflätiger Lieder – und erhub sich eyn scharfes Trinken, … dass etzliche, sowohl  deutscher als italienischer Nation, unter den Tisch zu liegen kamen. Und hab‘ ich mich damals an der Seit‘ des wackern Meister Willers mannhaft gehalten, – und da selbiger bei solcher occasion gewöhnlich an eynem gewissen ,Nachdurst‘ zu leiden hat, so sind wir wie alte Recken auf der Totenwach gesessen,…und haben miteynand die letzt Flaschen getrunken, als kein Welscher mehr Bescheid tun wollte.“

    Das klingt nicht so, als ob Scheffel „die eigenen Trinkleistungen maßlos“ überzeichnete oder sie nur wie „eine Art von Sport“ betrieb[65]!

    Doch nun noch zu einem anderen Thema, nämlich der Beschäftigung des Dichters mit den Etruskern und ihrer Herkunft.

     

    5. Die Etrusker und die Theorie von der transalpinen Einwanderung:

    Zu Beginn des 19. Jahrhunderts hatten Aufsehen erregende Entdeckungen und Grabungen auf der Apenninenhalbinsel eine wahre Etruskomanie zur Folge[66]. Von den drei Haupt-Theorien zur Herkunft dieses Volkes favorisiert Scheffel  die Einwanderung der Etrusker aus dem Norden[67].

    „Item am dritten Tag sind wir…in Perugia eyngefahren, so eyne merkwürdige Stadt ist und guten Rotwein hat. Verfügte mich sofort nach dem Frühtrunk in das etruskische Museum und hab‘ dort…eyn kolossalen sarcophagum angeschauet…Ist auf demselben eyne Emigration des ganzen etruskischen Stammes dargestellt…und ziehen König und Priester, Weib und Kind, Gefangene und Stiere – alle fort, ’nix wie naus‘ – und ward mir sofort klar, dass dies eyn Denkmal des Auszugs nach Graubünden sey…Hab auch eynigen professoribus der Akademie von Perugia dies exponieret, so aber … mir kein Glauben schenkten. Mir aber hat die Sach‘ umso mehr geschienen, als auch die alten Städt‘ der Etrusker, insbesondere Cortona und Perugia mit ihren Cyclopenmauern ganz so auf Bergabhängen daliegen wie die Flecken im Unter-Engadeyn, und behalt‘ mir vor, hierüber meinem lieben Begleiter auf rätischen Fahrten Näheres mitzuteilen…“ (Römische Epistel 2, Panzer 4, 317).

    „Wir marschierten … dem Davoser Landwasser entlang…nach Dorf Alveneu. Der Ortsname „Alba Nova“ erinnert, dass wir schon in den Regionen angelangt sind, wo etruskische Einwanderer, einst aus Furcht vor dem Gallier oder Hannibals Scharen…sich eine zweite Heimat gründeten…Engadein, das klassische Etruskertal…“ (Aus den Rätischen Alpen, Panzer 4, 28)

    Im Übrigen erfährt Scheffel unterwegs, „dass in Urbino und ganz Umbrien eyn etwas leichtfertiger Gedanke ‚un pensiero etrusco‘ geschimpft wird, …woraus ich auf die alte Geschichte derer Etrusker und ihr Verhältnis zu ihren anderweyten italischen Nachbarn und Nachbarinnen belehrende Schlüsse zog.“ (Römische Epistel 2, Panzer 4, 315).

    Einige römische Schriftsteller meinten, dass die Räter eigentlich Etrusker seien, die sich unter der Bedrohung durch die Kelteneinfälle seit etwa 400 v. Chr. ins Gebirge zurückgezogen hätten (Liv. 5, 33, 11; Plin. n. 3, 24). Als Beweis diente allerdings nicht zuletzt, dass selbst für Livius…die Sprache der Räter ähnlich unverständlich war wie das Etruskische. Zudem „ging die Wildheit der Gegend auf sie über und ließ von allem Vererbten nichts übrig als den Klang der Sprache, und den noch nicht einmal rein“. Ob jedoch überhaupt eine Verwandtschaft zwischen den Sprachen der Etrusker und der Stämme in den Zentralalpen bestand, sei nach wie vor ungeklärt[68].

    6. Trivial oder geistvoll?

    Dies ist die Titel-Frage. In der Tat sind wir auf Triviales gestoßen, auf gereimtes Wort-Geklingel ohne tieferen Sinn, das der Verfasser selbst besser  „in Lethe“ versenkt hätte[69]. Gleichwohl fühlen wir uns berechtigt, die Angelegenheit etwas differenzierter zu betrachten, indem wir, entsprechend der Mahal’schen Anregung, den Meister Josephus lieber selbst zu Wort kommen lassen. Genieße wer kann den Reiz der spezifisch Scheffel’schen Ironie, seine Reimfreude und Wanderlust und seine für die Autorin dieses Elaborats einfach unwiderstehliche archaisierende Sprache:

    Aus Ekkehard Kap. 16, Cappan wird verheiratet:

    „In Hof und Garten schaltete dazumal eine Maid, die hieß Friderun und war hoch wie ein Gebäu von mehreren Stockwerken, drauf ein spitzes Dach sitzt, denn ihr Haupt hatte die Gestalt einer Birne und glänzte nicht mehr im Schimmer erster Jugend; wenn der breite Mund sich zu Wort oder Gelächter auftat, ragte ein Stockzahn herfür als Markstein gesetzten Alters…– itzt stand ihr Herz verwaist. Große Menschen sind gutmütig und leiden nicht unter den Verheerungen allzu scharfen Denkens. Da lenkte sie ihre Augen auf den Hunnen, der sich einsam im Schlosshof umtrieb, und ihr Gemüt blieb mitleidig an ihm haften wie der funkelnde Tautropfen am Fliegenschwamm…“

    Nachdem Frau Hadwig der Eheschließung zugestimmt hat und Cappan von Ekkehard gründlich in der christlichen Lehre unterwiesen und getauft worden ist, treten die Hochzeitsvorbereitungen in ihr entscheidendes Stadium.

    „Heilige Mutter von Byzanzium! rief [Praxedis, die griechische Zofe der Herzogin], muss das auch noch aufgesteckt werden? Wenn du mit dem Kopfschmuck einherschreitest, Friderun, werden sie in der Ferne glauben, es sei ein Festungsturm lebendig geworden und wandle zur Trauung. Es muss sein! sprach Friderun. […] Cappan war mühsam zu Tisch gesessen und hielt sich aufrecht an seiner Ehefrau Seite…In den langen Zwischenräumen schuf der Hunne seinen vom Sitzen gequälten Gliedmaßen durch Tanzen Luft…tat sieben wirbelnde Luftsprünge … zum Beschluss ließ er sich vor Frau Hadwig ins Knie fallen … als wollt‘ er den Staub küssen, den ihres Rosses Huf berührt … Die Hegauer … aber schöpften ein Beispiel löblicher Anregung aus dem ungewohnten Tanz … denn aus dem fernen Mittelalter klingt noch die Sage von den ’sieben Sprüng‘ oder dem ‚hunnischen Hupfauf‘, der als Abwechslung vom einförmigen Drehen des Schwäbischen … seit jenen Tagen dort landüblich ward“ (Panzer 3, 265-275).

    Der Rechtspraktikant hat in seiner Säckinger Amtsstube polizeiliche Aufgaben wahrzunehmen.

    „Polizei und Poesie … beide haben es mit den Abnormitäten des Lebens … zu tun; nur ist die Behandlungsweise etwas verschieden; ein und derselbe Gegenstand kann vom polizeilichen Standpunkte bei Wasser und Brot in den Turm gesteckt und vom dichterischen mit lyrischen Flötentönen verherrlicht werden … Also – was bringt der Gendarm heute für ein ,Subjekt‘? Ach Gott, wie klaffen die Schuhe, wie ungeniert sehen die Zehen durch die Lücken des Schuhs … und was für ein stillvergnügtes Gesicht macht das Subjekt! Was ist sein Verbrechen? ,Zweckloses Umhertreiben!‘ …Wie oft hat sich der Polizeirespizient als fahrender Schüler selber auf das zweckloseste umhergetrieben…Leider muss das Subjekt bei Wasser und Brot in den Turm – die Poesie verhüllt ihr Antlitz und trauert.“ (Aus der 6. Säckinger Epistel, Panzer 4, 254 f.)

    Noch heute sind die Betrachtungen des philosophierenden Katers Hiddigeigei  beherzigenswert:   

    Hiddigeigei spricht, der Alte:
    Pflück die Früchte eh’ sie platzen.
    Wenn die magern Jahre kommen,
    saug an der Erinn’rung Tatzen.

    (Trompeter, Strophe 3 aus Lied 9, 5951-5954, Panzer 2, 356[70]).

    Fruchtlos stets ist die Geschichte;
    Mögen sehn sie, wie sie’s treiben!
    – Hiddigeigeis Lehrgedichte
    Werden ungesungen bleiben.

    (Trompeter, Strophe 6 aus Lied 12, 6003-6006, Panzer 2, 358)

    Mögen die Liedersammlungen „Neueres“ und „Aus dem Weiteren“ zum guten Teil aus Gelegenheitsdichtung, langatmigen Festgrüßen, Lobliedern auf Orte, Landschaften und Personen bestehen, in epischer Breite daherkommen und ihren Leser rechtschaffen ermüden, so findet sich doch auch manches Perlchen darin: 

    Mir ist zum Geleite
    In lichtgoldnem Kleide
    Frau Sonne bestellt;
    Sie wirft meinen Schatten
    Auf blumige Matten,
    Ich fahr‘ in die Welt.

    (Panzer 1, 81, Strophe 2)

     

    7. Bestreuet die Häupter mit Asche…

    Ja, wir finden beim Meister Josephus durchaus Geistvolles, auch Anmutiges und viel Erheiterndes. Andere Meinungen sind natürlich das gute Recht der Kritiker und Rezensenten. Urteilen diese aber, weil es nun einmal Mode ist, nur nach der abwertenden Sekundärliteratur und in völliger Unkenntnis der Werke selbst, dann geben wir ihnen den einen Rat: „Bestreuet die Häupter mit Asche…“[71]

     

    Fußnoten

    [1] Herausgegeben von F. Panzer (Leipzig und Wien 1910).
    [2] Juniperus, Panzer 2, 422.
    [3] Berschin – Wunderlich 2003.
    [4] Wunderlich 2003, 204 f.
    [5] Eggert 1971, 164; Mahal 2003, 16.
    [6] Selbmann 1982, 11.
    [7] J. Lobe, Würzburg 1971, 236. 245, Selbmann a. O. 10 Anm. 13-17.
    [8] Eggert 1971, 21 f.
    [9] Ein “Prä-Simmel“, Mahal 2003, 14-16. 20.
    [10] Eggert 1971, 12; Selbmann 1982, 11.
    [11] Martini 41981, 313 f. Dort fälschlich: „Johann“ Viktor von Scheffel!
    [12] Mahal 2003, 20.
    [13] Selbst wenn die letzteren “nicht ohne Heines Prosa denkbar“ seien,
    Martini, 41981, 314.
    [14] Mahal a. O. 17.
    [15] Panzer 1, 197.
    [16] Panzer 4, 149 f.; dazu auch Rupp 2003, 110.
    [17]Krohn 2003, 37. S. 40 und Anm. 24.
    [18] Panzer 1, 5-70.
    [19] Panzer 1, 6 f.
    [20] Schmidt-Bergmann 2003, 32.
    [21] Panzer 1, 27 f.
    [22] In einem Brief an Bernhard von Arnswald, den Kommandanten der Wartburg, Krohn 2003,  45 f.
    [23] Schmidt-Bergmann 2003, 32.
    [24] Eggert 1971, 64-69. 164-171.
    [25] Scheffels Mutter an Schwanitz, Schmidt-Bergmann 2003, 34.
    [26] Es floriert noch heute, wenn auch nicht ganz an demselben Ort. Säckinger Epistel 1, Panzer 4, 1917, 215; Trompeter 6. 2416-18 und 2436 f. Panzer 2, 275.
    [27] Aus dem Hauensteiner Schwarzwald, Panzer 4, 72-75.
    [28] z. B. in der Epistel aus Donaueschingen, Ad fontes Danubii 18. Juli 1858, Panzer 4, 471.
    an Friedrich Eggers, Schmidt-Bergmann 2003, 30.
    [30] Zollner 1976, 10.
    [31] Panzer 1, 27.
    [32] Wunderlich, zit. bei Krohn 2003, 47.
    [33] Zit. nach J. Proelß, Scheffels Leben und Dichten (Berlin 1887) 507, Selbmann 1982, 55 mit Anm. 55.
    [34] Scheffel hat ihr im “Gaudeamus“, Aus dem Weiteren, ein Denkmal gesetzt, Panzer 1, 109 f.; Döring 1999, 97-100.
    [35] Dazu Zollner1976, “Mehr als ein Sauf-Poet“.
    [36] Wie schade wäre es um sein darin enthaltenes Wanderlied gewesen, das heute als “Frankenhymne“ bezeichnet wird: “Wohlauf, die Luft geht frisch und rein…“
    [37] „Das böse Wort des Heidelberger Philosophen Kuno Fischer vom “Saufpoeten in Wasserstiefeln“, Zollner 1976, 10; Mahal 2003, 16; “zum Saufpoeten und drittrangigen Reimeschmied machte ihn…“, M. Krüger-Hundrup zur Ausstellung für Frankenlied-Dichter Scheffel in Bad Staffelstein 2011; H. Seele, Der “Saufpoet“ mit dem Faible für Heidelberg, Heidelberger Geschichtsverein; “Scheffels Saufpoesie“, Möbius 1907, 21. .
    [38]Man denke nur an das „Sit vino gloria der „Maulbronner Fuge“, Panzer 1, 43-45.
    [39] Deutscher Maler, bei dem Scheffel in Italien Unterricht nahm, Panzer 4, 343.
    [40] Dazu auch W. Wamser-Krasznai, Nachwort zu: Die Quellen zum west-östlichen Divan, in: dies., Fließende Grenzen, 2015, 114-117.
    [41] Hafis, Der DIVAN. Aus dem Persischen von Joseph von Hammer-Purgstall ND 2007.
    [42] Panzer 1, 29.
    [43] Vorwort zu Juniperus, Panzer 2, 422.
    [44] Archipoeta, Vagantenbeichte, aus Carmen X.
    [45] Trompeter 2, 968, Panzer 2, 216.
    [46] Möbius 1907, 19 f.
    [47] Möbius 1907, 20 f.
    [48] Kussmaul, auf Grund eigener Beobachtung, Möbius S. 20f.
    [49] Dazu die Siebente Säkkinger Epistel: Myn lieb und frumm Schwesterlin Maria! Panzer 4, 265.
    [50] Möbius 1907, 5.
    [51] Möbius S. 21.
    [52] Die berüchtigten “retrospektiven“ Diagnosen!
    [53] Panzer 1, 17, 47; “Schwermut und innere Verödung“, Martini 41981, 314.
    [54] Möbius S. 6.
    [55] Möbius S. 9.
    [56] Möbius S. 13.
    [57] Möbius S. 12- 14.
    [58] Möbius S. 10.
    [59] Falls wir den Mode-Anglismus als ernsthafte Krankheit anerkennen wollen.
    [60] Möbius S. 11; aus dem Weiteren, Panzer 1, 32: Miasmen aus dem überschwemmten Rhonetal.
    [61] Gaudeamus, Panzer 1, 93.
    [62] Möbius S. 18 f.
    [63] Möbius S. 21.
    [64] Panzer 4, 330 f.
    [65] Möbius a. O.
    [66] Pallottino 1988, 18.
    [67] Torelli 1988, 31; Sprenger – Bartoloni 1977, 9.
    [68] Pauli 1992, 726 und Anm. 6; ebenso Gleirscher 1991, 11.21.
    [69] Panzer 1, 197.
    [70] “Typisch ist die Verharmlosung, die Scheffels ,Hidigeigei‘ gegenüber Hoffmanns ,Kater Murr‘ zeigt,“ Martini 41981, 318.
    [71] Scheffel: Asphalt, Panzer 1, 25 f.

     

    Abgekürzt zitierte Literatur:

    Döring 1999: R. Döring, Die Ilmenauer Promenaden (Ilmenau 1999)

    Eggert 1971: H. Eggert, Viktor von Scheffel, in: Studien zur Wirkungsgeschichte des deutschen historischen Romans (Frankfurt am Main 1971) 64-69

    Gleirscher 1991: P. Gleirscher, Die Räter (Samedan 1991) 11. 21

    Krohn 2003: R. Krohn, Mittelalter hausgemacht. Scheffels Schaffen zwischen Historie und Poesie, in: W. Berschin – W. Wunderlich (Hrsg.), Joseph Victor von Scheffel (1826-1886). Ein deutscher Poet – gefeiert und geschmäht (Ostfildern 2003) 35- 55

    Mahal 2003: G. Mahal, Erinnerungen an einen Vergessenen, in Berschin – Wunderlich a. O. 11-21

    Martini 41981: F. Martini, Deutsche Literatur im bürgerlichen Realismus 1848-1898 (Stuttgart 41981) 313-318. 446-448

    Möbius 1907: P. J. Möbius, Über Scheffels Krankheit. Kritische Bemerkungen über Pathographie (Halle 1907)

    Pallottino 1988: M. Pallottino, Etruskologie (Basel – Boston – Berlin 1988)

    Panzer: Scheffels Werke. Hrsg. Friedrich Panzer (Leipzig und Wien 1910)

    Pauli 1992: L. Pauli, Auf der Suche nach einem Volk. Altes und Neues zur Räterfrage, in: Die Räter – I Reti (Bolzano-Bozen 1992) 725-756

    Rupp 2003: M. Rupp, Ein Stück nationaler Geschichte in der Auffassung des Künstlers. Joseph Victor von Scheffel und die Mediävistik, in: Berschin – Wunderlich a. O. 109-134

    Scheffels Werke, Hrsg. F. Panzer (Leipzig und Wien1910)

    Schmidt-Bergmann 2003: Hansgeorg Schmidt-Bergmann, „mein bester Kern ist immer noch der Zug zur Kunst“. Briefe und Notizbücher Joseph Victor von Scheffels zwischen 1848 und 1853, in: Berschin – Wunderlich a. O.  23-34

    Selbmann 1982: R. Selbmann, Dichterberuf im bürgerlichen Zeitalter. Joseph Viktor von Scheffel und seine Literatur (Heidelberg 1982)

    Sprenger – Bartoloni 1977: M. Sprenger – G. Bartoloni, Die Etrusker (München 1977)

    Torelli 1998: M. Torelli, Die Etrusker (Wiesbaden 1998)

    Wunderlich 2003: W. Wunderlich, Scheffels Trompeter von Säckingen und Ekkehard in Oper und Konzert, in: Berschin – Wunderlich a. O. 191-222

    Zollner 1976: H. L. Zollner, Mehr als ein Sauf-Poet, in: Aufbruch 12. 6, 1976, 10

    Copyright Dr. Dr. Waltrud Wamser-Krasznai

     

  • Am Ende des englischen Textes steht die deutsche Übersetzung von Dr. Dietrich Weller

                        

    This is an amazing story of an old turtle shell found in the secret Imperial collection in the Emperor´s palace of Xian many centuries ago. The old shell was supplemented with an explanation written on rice paper, which partially was illegible.  The free translation reads as follows:

     

    simon-the-turtle-shell-secret-bild

    In the small kingdom of N…… located as a part of a peninsula and in the vicinity of the great lands of Imperial China reined a young King  K. Having ambitions to enlarge his Territory, he established a state founded on severe military principles and like a rapacious bird; was always ready to attack neighboring states. His Palace was without any splendor, and lacked of any gold ornaments. All ornaments were sold, and the revenue was utilized for the acquisition of new weaponry. Being always in the state of war, the gardeners were sent to the military units and the Palace garden was deprived of scenting flowers, singing birds and joyful butterflies. This gloomy garden was full-fledged with grass, weeds, and old dry trees. After many useless wars and costly weaponry, the Kingdom’s treasury was empty.

    Rice fields were abandoned and the peasants were drilled to be warriors. Even teachers and herbalists (physicians) had to join the military units. Deprived of food and the through lack of herbalists the number of ill subjects in the Empire increased quickly, and even the Sovereign became ill.

    His health conditions deteriorated rapidly. Weak and exhausted, he still reclined upon his bed, awaiting his natural end. In these terrible moments The King remembered the last words of his father: “In difficult times, study the engravings on the ancient turtle’s shell, deposited in the treasury safe.”

    He opened the treasury safe, which was so empty that he could hear his own breathing. Under the dust an old turtle shell laid there inside. He brought it out into the daylight and stared at its engraving. Astonished and incredulous, he realized that he was not able to comprehend the odd engraved inscription.

    Much too late, he remembered all those slaughtered teachers and herbalists, that had perished as simple warriors on the battlefields.  In the entire   Territory nobody was able to decode this old inscription and nobody could heal him.

    Also too late, he realized that during all his life he had caused many wars and countless deaths. Approaching the end of his life, he understood what an eternal burden remains between him and the Gods. King K  died…….

    Without meeting any internal resistance, the imperial army occupied the small territory of N… The Sovereign, acknowledging the terrible situation in his now seized land, declared: All the soldiers may receive an amnestyand benevolence. They all disarm and hand-over their weapons and start to exercise their previous trade or occupations. The Peasants of them should start to cultivate the rice-fields to nourish both the existing and the now additional population”.

    The mystery of the ancient inscription on the old turtle’s shell remained unrevealed.                   However, hundreds of years later, the old turtle’s shell was given to a sage Xi who lived retired like eremite. After examining attentively, the old inscription on the turtle shell, he gave his interpretation:

    simon-the-turtle-shell-secret-bild

    “This shell shaped like a sky vault reveals three celestial gifts:

    Nature ( ): live in harmony with nature . Every rice-field becomes plentiful, after hard work. It’s the labor of the peasants that makes it precious.

    Peace: ( ): live in harmony with others. Honor the preciousmasters of the teaching arts; it is them that cultivate young men’s natural goodness.

    Health: ( ): live in harmony with yourself. To remain in good health, follow the advices of the precious masters of the healing arts (physicians).

    Dr. med. André Simon   ©Copyright

     

    Das Geheimnis des Schildkrötenpanzers
    (Übersetzung von Dr. Dietrich Weller) 

    Dies ist eine erstaunliche Geschichte eines alten Schildkrötenpanzers, der vor vielen Jahren in der geheimen Kaiserlichen Sammlung im Kaiserpalast von Xian gefunden wurde. Der alte Panzer wurde durch eine Erklärung ergänzt, die auf Reispapier geschrieben und teilweise unleserlich war. Hier folgt die freie Übersetzung.

    In dem kleinen Königreich N…, das als Teil einer Halbinsel in der Nähe der großen Ländereien des Kaiserreichs China lag, regierte ein junger König K… . Da er den Ehrgeiz hatte, sein Territorium zu vergrößern, errichtete er einen Staat, der auf strengen militärischen Prinzipien gegründet und wie ein Raubvogel ständig bereit war, die Nachbarstaaten anzugreifen. Sein Palast war ohne Glanz, und jegliche Goldverzierungen fehlten.

    Alle Verzierungen wurden verkauft, und der Erlös wurde für die Anschaffung von neuem Kriegsgerät verwendet. Da man ständig im Kriegszustand war, wurden die Gärtner zu den militärischen Einheiten geschickt, und dem Palastgarten wurden die duftenden Blumen, die singenden Vögel und die fröhlichen Schmetterlinge entrissen. Dieser bedrückende Garten war überwuchert von Gras, Unkraut und alten vertrockneten Bäumen. Nach vielen nutzlosen Kriegen und kostspieligen Waffenkäufen war die Schatzkammer des Königreichs leer.

    Die Reisfelder waren verlassen, und die Bauern wurden hart zu Kriegern ausgebildet. Sogar Lehrer und Kräuterkundige (Ärzte) mussten den Militäreinheiten beitreten. Da man ihnen die Nahrung weggenommen hatte und ein Mangel an Kräuterkundigen bestand, stieg die Zahl der kranken Untertanen im Kaiserreich rasch an, und sogar der Herrscher wurde krank.

    Sein Gesundheitszustand verschlechterte sich rasch. Schwach und erschöpft lag er noch auf seinem Bett und wartete auf sein natürliches Ende. In diesen schrecklichen Momenten erinnerte sich der König an die letzten Worte seines Vaters: „Studiere in schwierigen Zeiten die Gravuren auf dem alten Schildkrötenpanzer, der in der Schatzkammer aufbewahrt wird.“

    Der sterbende König öffnete die Schatzkammer, die so leer war, dass er seinen eigenen Atem hören konnte. Unter dem Staub lag drinnen ein alter Schildkrötenpanzer. Er brachte ihn ans Tageslicht und betrachtete die Gravuren. Erstaunt und ungläubig erkannte er, dass er nicht in der Lage war, die seltsamen Schriftzeichen zu verstehen.

    Viel zu spät erinnerte er sich an jene niedergeschlachteten Lehrer und Kräuterkundige, die als einfache Krieger auf den Schlachtfeldern umgekommen waren. Im gesamten Reich konnte keiner die alten Inschriften entziffern, und niemand konnte ihn heilen.

    Ebenso zu spät wurde ihm klar, dass er während seines ganzen Lebens viele Kriege ausgelöst und zahllose Todesfälle verursacht hatte. Während er sich seinem Lebensende näherte, verstand er, welche ewige Last zwischen ihm und den Göttern bestehen blieb. König K. starb.

    Ohne auf inneren Widerstand zu treffen, besetzte die kaiserliche Armee das kleine Gebiet N…

    Als der Herrscher sich bewusst war, in welch schrecklicher Lage sich sein erobertes Land befand, verkündete er:

    Alle Soldaten sollen eine Amnestie und Wohlwollen erhalten. Sie sollen sich entwaffnen, ihre Waffen übergeben und beginnen, ihre alten beruflichen Gewerbe oder Beschäftigungen auszuüben. Die Bauern unter ihnen sollten anfangen, ihre Reisfeder zu bestellen und sowohl die bereits hier lebende als auch die zusätzliche Bevölkerung ernähren.

    Das Geheimnis der alten Inschrift auf dem Schildkrötenpanzer blieb ungelüftet.

    Aber hunderte von Jahren später wurde der alte Schildkrötenpanzer dem Weisen Xi übergeben, der wie ein Eremit zurückgezogen lebte. Nachdem er die alte Inschrift aufmerksam untersucht hatte, erklärte er seine Deutung:

    Der Panzer in Form eines Himmelsgewölbes entschleiert drei himmlische Geschenke:

    Natur ( ): Lebe in Harmonie mit der Natur. Jedes Reisfeld wird nach harter Arbeit reichhaltig. Es ist die Arbeit der Bauern, die sie wertvoll macht.

    Friede ( ): Lebe in Harmonie mit den Anderen. Ehre die kostbaren Meister der Lehrenden Künste. Sie sind es, die die natürliche Güte der jungen Menschen pflegen.

    Gesundheit (健康 ): Lebe in Harmonie mit dir selbst. Um bei guter Gesundheit zu bleiben, folge den Ratschlägen der wertvollen Meister der Heilkünste (Ärzte).