Schlagwort: Historie

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    Eine kleine, wahre? Geschichte über einen Einsatz der Bundesrepublik in Afrika  
    oder
    Ist der Mensch ein Werkzeug des Schicksals?

    Sie waren noch bei Dunkelheit aufgebrochen. Jetzt fuhren sie schon zwei Stunden über Straßen, die kaum als solche zu identifizieren waren. Die Landschaft ausgedörrt und ausgetrocknet. Es hatte seit Monaten nicht mehr geregnet. Die Vegetation war abgestorben. Nur hier und da an besonderen Stellen standen noch grün-braune Sträucher. Langsam stieg die Sonne und mit ihr die gnadenlose Hitze. Der Lastwagen zog eine kilometerlange rötlich-gelbe Staubwolke hinter sich her.

    Die zwanzig Soldaten saßen auf zwei gegenüberstehenden Holzbänken auf der offenen Ladefläche. Vornüber gebeugt, auf ihre Schnellfeuergewehre gestützt, die Helme tief ins Gesicht gezogen, sprach keiner ein Wort. Schweiß rann über ihre Gesichter und tropfte auf die Tarnkleidung. Schweiß floss auch über den Nacken. Er sammelte sich zu größeren Tropfen, die den Rücken hinunter rannen, bis sie vom Stoff aufgesogen wurden.  Es stank nach Schweiß, Männerschweiß. Unter ihren schusssicheren Westen waren alle durchgeschwitzt. Und es roch nach Angstschweiß. War da nicht auch der Geruch von Urin? Auch die Tarnhosen waren schweißnass, so dass keine urinfeuchte Stellen zwischen den Beinen erkennbar waren. In den hochgeschnürten Lederstiefeln stand ebenfalls die schweißige Feuchtigkeit. Die Stiefel ließen aber keine Gerüche frei. Jeder der Männer hatte seine Stiefel fest geschnürt, damit sie Schutz vor Insekten, vor allem Skorpionen – die waren zwar nicht gefährlich, aber unangenehm-  und natürlich vor Schlangen boten. Der Staub blieb in den schweißnassen Gesichtern kleben. Er ließ die Augen groß und weiß erscheinen in den rotbraunen Masken. Auch die Lippen waren staubverkrustet. Die Männer hatten schon lange aufgegeben, den Staub mit der Zunge wegzuwischen. Teilweise waren die Lippen aufgesprungen.

    Jedes Mal, wenn die Fahrer zu viel Zwischengas gab, zogen aus dem defekten Auspuff Abgasschwaben über die Ladefläche. Die weiter vorn Sitzenden husteten. Das Atmen war nahezu unmöglich, wenn sich Abgas und Schweißgeruch mischten. Immer wieder warfen sich die Soldaten einen kurzen Blick zu, bevor sie wieder ihre Blicke senkten. Keiner sollte die Angst bemerken.

    Ihre Gedanken kehrten immer wieder zu ihrem letzten Einsatz vor drei Tagen zurück. Auch an diesem Tag waren sie lange gefahren. Nach Stunden erreichten sie ein Dorf am Fuße eines kleinen Hügels. Die wenigen Bewohner, vielleicht fünfzehn oder zwanzig, waren schnell auf dem Dorfplatz zusammen getrieben. Dort standen sie: einige Frauen und alte Männer. Allesamt armselige Kreaturen in bunter abgetragener Kleidung. Die meisten hatten ihren Kopf ängstlich gesenkt. Maier eins, der Befehlshaber, ließ alle in einer Reihe antreten. Er trat vor die dunkelhäutigen Haufen Elend und blickte jeden durchdringend an. Dann ließ er zwei Frauen hervortreten. Er zog seine Pistole, trat zu ihnen und schoss ihnen in den Kopf. Einfach so. Beiden Frauen fielen lang nach hinten.

    Markus Müllert sah immer noch die angstvoll aufgerissenen Augen. Die beiden Frauen hatten keine Zeit mehr, um zu begreifen was mit ihnen passierte. Die anderen umso mehr.

    „Maier vier, Maier acht, Maier neun und Maier fünfzehn, ihr erledigt das hier. Ihr nehmt den Toyota und kommt nach ins Lager. Wir fahren schon vor.“

    Maier eins brüllte diesen Befehl kurz und zackig.

    Die Männer antworteten wie aus der Pistole geschossen: „Jawohl, Maier eins.“

    Immer wieder sah Maier zwölf, Markus Müllert, diese Szene auf dem Dorfplatz. Fast fror es ihn jetzt. Er war froh, nicht bei dem Erledigungskommado eingeteilt gewesen zu sein. Aber was wird heute kommen?

    Wenn er in die Gesichter schaute, sah er Angst und Betroffenheit.

    Als sich Markus vor Monaten zu diesem Einsatz gemeldet hatte, wusste er nicht, was auf ihn zukommen würde. Es sollte ein großes Abenteuer werden. Er war schon häufiger im Auslandseinsatz gewesen, auch mit Feindbeschuss. Aber er hatte sich alles irgendwie anders vorgestellt.

    Plötzlich hielt der Toyota, und der Lastwagen stoppte dicht dahinter. Die Soldaten standen auf, froh, ihre Beine vertreten zu können. Sie blickten sich um. Nichts war zu erkennen. Nur ganz am Horizont war ein dünner grüner Saum. Hier gab es offenbar länger Wasser.

    Maier eins ging um den Lastwagen herum.

    „Absitzen, Männer!“

    Die Soldaten sprangen und kletterten von der Ladepritsche und stellten sich in Reih und Glied.

    Der Kommandant trat vor die Männer.

    „Soldaten! In knapp einer Stunde werden wir das Ziel unserer heutigen Operation erreichen. Es ist ein kleines Dorf vor uns. Es gibt eine Straße und nur ein paar Häuser. Wahrscheinlich ist es verlassen. Unsere Aufgabe ist, sicherzustellen, dass sich wirklich kein Feind mehr dort aufhält. Wir haben das Dorf zu bereinigen. Zwei Männer zusammen gehen in ein Haus und inspizieren es. Seit jederzeit bereit, dass es zu Kampfhandlungen kommen kann und dass ihr aus einem Hinterhalt angegriffen werdet. Denkt auch daran, dass es hinter den Häusern Ställe oder Anbauten gibt. Manche Häuser haben einen geheimen Verschlag unter dem Haus. Überall kann sich ein Feind verstecken und angreifen. Unsere Aufgabe ist es, sicherzustellen, dass sich kein Feind mehr im Dorf befindet. Ist ein Haus sauber, dann macht ihr ein weißes Kreidekreuz mit einem Halbkreis darüber rechts neben der Eingangstür. Maier eins blickte von Mann zu Mann, von Soldat und Soldat.

    „Noch Fragen?“

    „Nein, Maier eins“, scholl es wie aus einer Kehle.

    Während die Soldaten wieder auf die Ladefläche des Lasters kletterten, teilte der Befehlshaber die Zweiergruppen ein.

    Markus wurde mit Maier vierzehn eingeteilt.

    Maier vierzehn war ein drahtiger, noch nicht bulliger Typ. Sein Gesicht war immer recht ausdruckslos. Man wusste nie, was in ihm vor ging. Es zeigte keine Emotionen. Die blaugrauen Augen lagen tiefen in ihren Höhlen und wurden von tiefhängenden Lidern verborgen.

    Die Fahrt wurde noch holpriger. Der letzte Regen hatte alle Reste einer möglichen Straße verwischt. Jedes Schlagloch oder jede gröbere Unebenheit wurden durch die schlechten Federn des Lastwagen an die Männer oben auf der Ladepritsche weitergegeben. Obwohl es jedes Mal einen Schlag auf die Wirbelsäule der Männer gab, spürten diese keinen Schmerz.

    Nach mehr als einer halbstündigen Fahrt wurden die Häuser des kleinen Dorfes sichtbar; nicht mehr als drei Dutzend Häuser.

    Die Soldaten sprangen vom Lastwagen und entsicherten ihre Schnellfeuergewehre. Nach und nach wurden die Zweierkommandos in die Häuser geschickt.

    Maier zwölf und Maier vierzehn betraten das vierte Haus links an der Straße. Es war größer und hatte als einiges einen zweiten Stock.

    „Du unten, ich oben“, sagte Maier vierzehn.

    Sofort rannte Maier vierzehn die Holztreppe in den ersten Stock.

    Markus betrat den Raum rechts. Es war so eine Art Büro. Jedenfalls standen ein großer Schreibtisch in der Mitte und ein kleinerer Schreibtisch, mit einer mechanischen Adler-Schreibmaschine neben der Tür. Auf dem großen Schreibtisch stand ein großer, schwarzer Telefonapparat. Überall auf dem Schreibtisch und über den Boden lagen Papierbogen verteilt. Das Büro musste fluchtartig verlassen worden sein. Maier zwölf trat über geöffnete Ordner und Briefe, auch Stempel lagen verstreut. Nur wenige Ordner standen noch auf ihrem Platz im Regal hinter dem kleinen Schreibtisch. Markus blickte unter die Schreibtische und öffnete auch die Rollos der Tische.

    Hier war niemand versteckt, und es gab auch keinen Sprengstoff. Er ging langsam auf die Tür im Hintergrund zu und trat sie auf. Dieser Raum diente offensichtlich als Depot oder Lager. In der Regalen an den Wänden lagen ordentlich verpackte Papierpakete, Briefpapier, bräunliche Kuverts. Auf der anderen Seiten standen landwirtschaftliche Geräte und neben der Tür ein altertümliches Faxgerät. Einen Keller oder eine versteckte Falltür gab es auch hier nicht. Markus trat zurück in das Büro. Er ergriff einen der Briefe auf dem Schreibtisch. Markus las ihn. Er war in französischer Sprache geschrieben und irgendjemand hatte eine Anfrage. Eher unbewusste griff Markus einen Stapel Papiere. Er faltete sie zusammen und steckte sie in seine Oberschenkeltasche. Gerade als er das Büro verlassen wollte, polterte Maier vierzehn aus dem oberen Stock herunter.

    „Alles klar, Maier zwölf“, rief er.

    „Alles sauber bisher“, antwortete Maier zwölf.

    Gemeinsam betraten sie durch die nur noch notdürftig in den Angeln gehaltene Tür den Raum gegenüber dem Büro. Die beiden Männer warteten einen Augenblick, bis sich ihre Augen an das Dämmerlicht gewöhnt hatten. Es war eine Art Waschraum. Es gab ein schmutziges Waschbecken und ein typisches Plumpsklo. Fünf Holzspinte standen an der Wand. Schlösser dazu gab es keine.

    „Also weiter“, rief Maier vierzehn.

    Als sie auf die Straßen traten, waren sie von dem hellen Licht geblendet. Plötzlich hörten sie eine Gewehrsalve und dann eine zweite. Meier zwölf und Maier vierzehn schreckten zurück und gingen im Haus in Deckung. Markus machte ein Zeichen, dass sich Maier vierzehn in den hinteren Raum positionieren sollte. Er selbst blieb neben der Tür, das Gewehr schussbereit, in Deckung. Aber jetzt blieb alles ruhig. Er rief Maier vierzehn. Vorsichtig blickten sie auf die helle, staubige Straße.

    Nur die einzelnen Zweiergruppen, wenn sie ein Haus verließen und ein anderes betraten, waren zu sehen. Maier vierzehn markierte das Haus rechts neben dem Eingang mit einem Kreuz und einem Halbkreis darüber. Gemeinsam gingen sie weiter. Das nächste Haus ohne Kennzeichnung war klein. Es hatte keine Tür oder keine Tür mehr und bestand nur aus einem Raum.

    Markus betrat vorsichtig den Raum. Maier vierzehn ging um das Haus herum zu einem Stall dahinter. Der Raum war spärlich möbliert. Ein grauer Tisch mit mehreren Plastikstühlen stand mitten im Raum. Daneben ein uralter Elektroherd. Markus erinnerte sich an den Generator außerhalb des Ortes. Maier eins und Maier zwo hatten angehalten und das Aggregat unbrauchbar gemacht. Zwei Betten, übereinander gestellt, mit zerwühlten Decken standen an der Wand gegenüber der Eingangstür.

    Plötzlich hörte er ein leises Geräusch, das aus dem Schrank in der Ecke zu kommen schien. Leise ging Markus zu dem Schrank und riss die Schranktür auf. Das Gewehr hielt er schussbereit in der rechten Hand. Im Schrank saß ein kleines Mädchen und starrte ihn mit ängstlich aufgerissenen Augen an. Langsam falteten sich ihre Hände zu einer Bitte. Markus blickte auf das Mädchen, das auf dem Boden im Schrank saß. Langsam führte er seinen Zeigefinger und legte ihn auf seinen geschlossenen Mund. Sachte nickte das Mädchen. Markus schloss leise den Schrank. An der Tür traf er Maier vierzehn.

    „Alles klar?“

    „Alles klar!“ antwortete Maier zwölf. „Los weiter, zum nächsten Haus.“

    Maier vierzehn schaute Markus in die Augen. Er schob zweifelnd seine Unterlippe vor.

    „Warte vor dem Haus auf mich.“

    Sein Ton ließ keinen Widerspruch zu. Er drückte Maier zwölf aus dem Haus. Markus blieb angespannt, an der Hauswand gelehnt, stehen. Trotz der Hitze und trotz des Schweißes fror er und hatte Gänsehaut. Keine Minute später hörte er eine Holztür zerbersten, dann einen kurzen kindlichen Schrei und sofort eine Salve aus einen Schnellfeuergewehr.

    „So, sauber!“

    Zufrieden trat Maier vierzehn auf die Straße. Er stellte sich vor Maier zwölf:

    „Wusste ich es doch.“

    Er nahm seine Kreide und malte ein großes weißes Kreuz neben die Tür und zog einen Halbkreis darüber.

    Wortlos gingen sie zum nächsten Haus ohne Kreidezeichen.

    Ab und zu hörte man Schreie und Schüsse. Dann blieb es ruhig, gespenstisch ruhig.

    Man konnte die Hitze fühlen und flimmern sehen. Und man konnte Angst und Blut riechen.

    Später saßen die Soldaten im Schatten des Lastwagens und warteten.

    „Aufstehen und antreten“, schrie Maier eins.

    „Irgendwelche Vorkommnisse?“ fragte der Kommandant.

    Maier vier trat einen Schritt vor und salutierte.

    „Ich bin von einer Frau mit einer Machete angegriffen worden“.

    Er zeigte auf seinen linken Oberarm. Der notdürftige Verband war durchgeblutet, aber die Blutung stand.

    „Den Feind abgewehrt und liquidiert.“

    „Gut gemacht, Maier vier“, lobte Maier eins.

    „Maier zwo, versorgen sie die Wunde“.

    Maier zwo salutierte und ging zum Toyota.

    Meier eins schaute weiter über die Reihe.

    Maier neunzehn trat einen Schritt vor und salutierte.

    „Zweimal von einem Feind mit Machete angegriffen worden. Beide Angriffe abgewehrt und die Situation bereinigt. Keine Verletzung und keine weiteren Vorkommnisse“.

    Meier neunzehn stand stramm. Er salutierte erneut und trat zurück ins Glied.

    Maier sechzehn trat vor.

    „Eine Feindberührung, die Situation geklärt. Sonst keine besonderen Vorkommnisse.“

    Er salutierte und trat zurück.

    Maier vierzehn machte einen Schritt vorwärts und salutierte.

    „Eine kleine Feindberührung. Situation geklärt, gereinigt ohne Verluste oder Verletzungen.“

    Er salutierte nicht, und er trat auch nicht in die Reihe zurück.

    „Maier vierzehn! Gib es sonst noch Vorkommnisse?“

    „Jawohl, Maier eins.“

    Maier vierzehn machte eine Pause.

    „Ich hatte den Eindruck, dass Maier zwölf den Feind absichtlich übersah.“

    „Noch etwas, Maier vierzehn“, fragte Maier eins laut.

    „Nein!“

    „Danke, Soldat.“

    Maier vierzehn salutierte jetzt und stellte sich zurück in die Reihe.

    Maier eins stellte sich vor Markus.

    „Maier zwölf, vortreten!“

    Maier zwölf trat einen Schritt vor und salutierte strammstehend.

    „Was haben sie dazu zu sagen?“

    Maier eins schob seinen Kiefer drohend vor.

    „Nichts, Maier eins“, sagte Maier zwölf fest.

    „Maier zwölf!“

    Maier eins machte eine gefährliche Pause.

    „Maier zwölf! Das ist eine schlimme Anschuldigung. Äußern sie sich.“

    Diese Aufforderung war ein Befehl und erlaubte kein Ausweichen.

    „Ich bin kein Mörder! Maier eins.“

    Markus antwortete steif. Sein Blick ging starr geradeaus. Bei der Vorstellung, was in dem Raum geschehen war, wurde es ihm fast übel.

    „Maier zwölf! Sind sie wahnsinnig? Wir sind keine Mörder. Keiner von uns. Wir sind Soldaten im Kriegszustand.“

    Die Stimme von Maier eins überschlug sich fast. Speichel spritzte und traf Markus im Gesicht. Dieser verzog keine Miene.

    „Das war ein kleines Mädchen. Keine fünf Jahre alt. Das bringt man doch nicht einfach um.“

    Markus wusste genau, dass die Situation zu seinem Nachteil kippen konnte.

    „Wir sind keine Mörder! Verdammt noch einmal! Wir haben hier eine Aufgabe zu erfüllen. Aus dem Mädchen wird später eine Terroristin und eine Gefahr.“

    Die Kopf und der Hals von Maier eins verfärbten sich unnatürlich rot.

    Markus konnte es nicht lassen:

    „Unsere Mission ist auf zwei Jahre beschränkt, so sagt man wenigstens, dann ist das Mädchen vielleicht sieben oder acht Jahre alt, aber niemals eine Terroristin oder eine Gefahr.“

    Die Augen von Maier eins traten hervor. Er sagte nichts. Er blickte nur in die Augen von Maier zwölf. Dieser blickte unverwandt zurück. Zwei Männer maßen sich.

    „Meier zwölf“, Maier eins sprach jetzt ruhig und leise, „wir wissen nicht, ob dieses Mädchen irgendwann, mit einem Sprengstoffgürtel auf eine belebte Straße oder einen Markt geschickt und dort in die Luft gejagt wird.“

    Markus holte Luft, um eine Antwort zu geben.

    Maier eins trat dicht vor ihn hin. Ihre Nasenspitzen berührten sich fast. Markus spürte die Hitze des Gesichts von Maier eins, und umgekehrt war es wohl ebenso.

    „Maier zwölf, sie halten jetzt ihren Mund. Sie sagen kein Wort mehr. Das ist ein Befehl. Ist das klar?“

    Maier eins hatte leise gesprochen, fast geflüstert.

    „Jawohl, Maier eins“, brüllte Markus ihm ins Gesicht.

    Maier eins wich keinen Millimeter zurück.

    Markus salutierte und trat an seinen Platz zurück.

    „Aufsitzen und Abfahrt“

    Maier eins ging zum Toyota, nachdem er Maier zwei ein entsprechendes Zeichen mit dem Kopf gegeben hatte.

    Spät am Nachmittag kamen die Fahrzeuge im Camp an. Auf der gesamten Fahrt war kein Wort gesprochen worden. Müde sprangen die Männer von der Ladefläche.

    Maier eins stand schon bereit.

    „Angetreten!“

    Die Soldaten murrten und fluchten innerlich, stellten sich aber sofort auf und bildeten zwei Reihen.

    Maier eins stand stramm. Er schwieg lange. Dabei blickte er jeden einzelnen an. Der kleine rote senkrechte Strich unterhalb der Unterlippe wippte auf und ab. Maier eins achtete peinlich darauf, dass sein Bart immer gut getrimmt war. Der Befehlshaber hatte sich so positioniert, dass den Männern die tief stehende Sonne genau ins Gesicht und in die Augen schien. Er selbst hatte sie im Rücken. Die tief ins Gesicht gezogenen Helme und die Sonnenbrillen halfen wenig, die Augen brannten. Auch vom Schweiß und vom Staub.

    Maier zwölf spürte die Wut und Abneigung seiner Kameraden. Auch er wünschte sich jetzt eine Dusche, auch wenn sie nur lau war.

    „Männer“, sagte Maier eins leise.

    „Männer!“ brüllte er das Wort jetzt.

    „Männer“, sagte er noch einmal, „wir haben hier eine Aufgabe zu erfüllen. Es ist eine spezielle Mission. Niemand weiß, dass wir hier sind und dass es uns gibt. Deshalb tragen wir auch keine Rangabzeichen, keine Namensschilder und auch kein Nationalitätenzeichen. Wir sind in geheimem Auftrag eingesetzt. Ich wiederhole ausdrücklich: Wir sind hier um eine geheime Mission zu erfüllen. Ihr seid bestausgebildete Elitesoldaten, und ihr seid speziell ausgewählt , weil ihr die besten seid. Jeder von uns muss jederzeit einhundert Prozent Einsatz bringen. Neunundneunzig Prozent sind zu wenig. Wer keine einhundert Prozent Einsatz bringt, gefährdet die gesamte Operation, gefährdet die gesamte Truppe, einzelne seiner Kammeraden und letztlich sich selbst. Unsere Aufgabe ist es, dieses Gebiet zu bereinigen, den Feind zu demoralisieren, zu schwächen und zu töten. Jeder hier ist ein potentieller Feind und Terrorist. Jeder, sage ich euch, Männer, Frauen, Junge oder Alte auch Kinder, jeder ist ein Feind und muss dementsprechend bekämpft werden. Männer, Soldaten, Kämpfer, tut alles, um den Feind zu destabilisieren, zu demoralisieren und zu liquidieren.“

    Maier eins machte eine Pause.

    „Habt ihr das verstanden?“

    „Jawohl, Maier eins“, schrien die Männer. Alle wollten in die Unterkünfte und ins Toilettenzelt.

    „Maier zwölf, sie melden sich in einer Stunde im Kommandozelt.

    Genau eine Stunde später betrat Maier zwölf das Kommandozelt. Er grüßte stramm. Maier eins saß geduscht, frisch rasiert und umgezogen hinter seinem Feldschreibtisch. Er ließ Markus einige Minuten stehen, ehe er ihm seine Aufmerksamkeit widmete. Wieder hüpfte der rote Bartstrich.

    „Ich will es kurz machen. Wir sind eine geheime Operation und diese Operation muss geheim bleiben und darf vor allem nicht gefährdet werden. Deshalb hat niemand von uns ein Handy, ein Laptop oder eine Digitalkamera. Es gibt nur ein Funkgerät, hier im Kommandozelt, mit einer Frequenz. Ich habe den Eindruck, dass Sie den Anforderungen dieser Aufgabe nicht gewachsen sind. Sie sind von allen weiteren Aktionen ausgeschlossen, mit dem nächsten Versorgungshubschrauber fliegen sie zurück nach Libreville. Sie haben absolutes Stillschweigen zu wahren, genau wie sie es schriftlich fixiert haben. Abtreten!“

    Maier zwölf salutierte und verließ das Kommandozelt.

     

    Sieben Jahre später

    “Markus, Markus“, Heideann kam suchend um die Ecke.

    Markus“, rief sie lauter.

    Ihr Mann saß im Liegestuhl und hatte die Ohrenstöpsel in den Ohren. Er hörte Musik. Sein Blick ging in die Ferne, durch den blauen Himmel ins Weite. Eigentlich sah er nichts, oder doch? Sein rechter Fuß wippte den Takt.

    Heideann ging zum Liegestuhl und kraulte Markus die Haare. Sofort riss er sich die Ohrstöpsel heraus und stellte die Musik aus. Er legte den Kopf in den Nacken um sie sehen zu können. Er musste blinzeln, denn jetzt schaute er direkt in die Sonne.

    Heideann ließ ihre beiden Hände langsam auf seine Brust heruntergleiten. Dabei beugte sie sich vor und legte ihre Wange auf seinen Kopf.

    Markus griff nach ihren Handgelenken und drückte sie fest an seine Brust. Wärme durchströmte ihn. Mit seiner rechten Hand zog er Heideann zu sich. Jetzt konnte er sie ansehen, ohne geblendet zu werden. Liebevoll betrachtete er ihren mächtigen, spitzen Bauch. Vorsichtig befühlte er ihre gespannte Haut.

    „Mein Baby“, sagte er.

    „Welches Baby meinst du?“ fragte sie lachend.

    „Meine drei Babys“, verbesserte er sich, ebenfalls lachend, „und euch zwei holen wir nächste Woche“, sagte er auf den Bauch zu.

    „Luisann kann man wohl nicht mehr als Baby bezeichnen. Sie wächst und wächst und hält mich ganz schön auf Trab.“

    „Meine süßen Babys bleiben immer meine Babys. Auch Du“, sagte Markus.

    Er stand auf und umarmte Heideann. Obwohl er seinen Bauch einzog, so richtig umarmen konnte er seine Frau nicht. Ihr Spitzbauch war einfach im Weg. Gerade als das Gewicht von Heideann wieder langsam nach unten ging, war sie wieder schwanger geworden, diesmal mit Zwillingen.

    „Markus, hast du heute Nacht schlecht geträumt? Du warst so unruhig“, fragte sie besorgt. Sie kannte die schlechten Träume von Markus.

    „Nein, eigentlich nicht. Nicht bewusst in den Morgen hinein“, antwortete Markus.

    „Hast du von dem kleinen Mädchen geträumt?“

    „Nein, nicht, dass es mir bewusst geworden wäre“.

    Markus blieb auch bei diesem Gedanken ruhig.

    „Nein, ich glaube nicht. Ich hatte schon lange keine schlechten Träume mehr. Es ist halt manchmal so, dass ich ihre großen, flehenden Augen und ihre gefalteten Hände sehe. Es ist, als sei etwas noch nicht abgeschlossen. Manchmal kommt mir ein Gedanke, nein es ist kein Gedanke, es ist so wie eine Ahnung oder Eingebung, ich weiß nicht, wie ich es beschreiben kann, dass das Mädchen nicht ihre Ruhe gefunden hat.“

    Markus tätschelte Heideanns Bauch. Dann pikste er mit spitzem Zeigefinger in den vorstehenden Bauchnabel.

    „Glaub´ mir, ich freue mich auf zwei weitere Mädchen. Es werden doch Mädchen?“

    Er schaute Heideann fragend an.

    „Wenn man dem Gynäkologen glauben will und der Ultraschall nicht gewaltig täuscht, dann ja“, lächelte sie. „Ich habe so ein Gefühl, dass es Mädchen werden. Eine Frau spürt das.“

    „In zwei Wochen fliege ich nach München auf die Messe. Hoffentlich sind meine Mädchen dann alle Zuhause. Ich will unbedingt bei der Geburt dabei sein.“

    Er stellte sich im Kreissaal stehend vor. In jedem Arm ein schreiendes Mädchen.

     

    Markus blickte auf die Landschaft unter sich. Er hatte jedes Mal einen Knoten im Bauch, wenn das Flugzeug startete. Heute war es weniger schlimm. Das Wetter war sonnig und windstill. Wieder und wieder dachte er an seine Babys zu Hause. Es war alles gut gegangen. Mutter und Töchter waren wohl auf. Gott sei Dank. Linde und Dora waren glatt auf die Welt geflutscht und hatten wirklich kräftig geschrien, als die Hebamme sie in seine Arme legte. Die Hebamme hatte mehrere Fotoaufnahmen gemacht und meinte, der Vater könne stolz sein. Das sagt sie zwar immer, aber Markus hörte es trotzdem gern.

    Er griff sich eine der kostenlosen Wirtschaftszeitungen, die er vor den Abflug eingepackt hatte. Gelangweilt und ohne Interesse blätterte er. Hie und da las er einen Artikel an. Weiter hinten informierte der Hersteller von Fertighäusern über die neue Modepalette. Das interessierte ihn. Heideann und er hatten genau mit dieser Firma gebaut. Den Artikel über eine neuen Herrenmodeausstatter, La Torre, las er wieder oberflächlich. Er hatte sich schon vorher entschieden, die Kollektion nicht für sein Sortiment zu ordern. Vielleicht würde er, wenn noch Zeit war, über den Messestand von La Torre schlendern. Er blätterte lustlos weiter. Sein Blick fiel auf eines dieser unsäglichen Firmenportraits, bei denen man nie weiß, ist es ein Firmenportrait oder ein Inhaberportrait. Er wurde plötzlich steif und bekam eine Gänsehaut über den Rücken.

    Schnell riss er diese Seite heraus und legte sie sorgfältig gefaltet in seinen braunen Lederaktenkoffer. Den Rest des Fluges blickte er aus dem Fenster, ohne wirklich etwas zu sehen.

    Nachdem er seine Termine erledigt, abgearbeitet hatte, zog er sich auf sein Hotelzimmer zurück. Er verzichtete auf sein geplantes Abendprogramm. Obwohl er die Oper liebte und seit vier Monaten eine Karte hatte, verzichtete er darauf. Bis spät in die Nacht und darüber hinaus bis in den Morgen saß er am Computer. In der Mittagspause verpasste er sein Mittagessen. Er telefonierte sein Handy heiß. Heideann schimpfte schon, weil er nicht wie gewohnt bei ihr anrief und sie ihn selbst nicht erreichen konnte.

     

    Markus horchte auf das Klingelzeichen.

    „Security by Terhagen. Sie sprechen mit Frau Weiler. Was kann ich für sie tun.“

    „Guten Tag, mein Name ist Maier. Ich möchte Herrn Terhagen sprechen.“

    „In welcher Angelegenheit? Was kann ich ihm dazu sagen?“, fragte die Stimme von Frau Weiler.

    „Wir planen eine Hausmesse, konnten dafür einen Minister gewinnen und benötigen dafür einen entsprechenden Schutz.“

    „Ich kann sie mit Herrn Mahler verbinden. Er ist der Ansprechpartner in solchen Angelegenheit.“

    „Nein, bitte nicht. Der Minister hat ausdrücklich Herrn Terhagen empfohlen und empfohlen, mit ihm persönlich zu sprechen. Bitte verbinden sie mich mit Herrn Terhagen“, sagte Markus bestimmt.

    „Einen Moment bitte“, hörte er Frau Weiler sagen.

    Nach einer langen Minute meldete sich zackig, eine männliche klingende Stimme.

    „Terhagen, was kann ich für sie tun.“

    „Guten Tag, Herr Terhagen. Mein Name ist Maier. Sie sind mir empfohlen worden. Ich will es kurz machen. Wir sind ein mittelständisches Unternehmen der Elektroindustrie und planen eine Hausmesse. Unser Wirtschaftsminister hat sein Kommen zugesagt. Zusätzlich wird eine Delegation aus Israel erwartet, und wir sind für die Sicherheit verantwortlich.“

    „Ja, ich verstehe. Wer hat unsere Firma empfohlen?“

    „Der Innenminister hat ausdrücklich ihren Namen genannt.“

    Es trat eine Pause ein. Markus hörte, wie Terhagen Seiten umblätterte.

    „Ich kann ihnen den 20. Mai um 14 Uhr als Termin anbieten. Passt das Ihnen?“

    „Nein, überhaupt nicht. Ich fliege gegen 22 Uhr zurück und möchte sie heute noch sprechen.“

    „Kommen sie um 19 Uhr in mein Büro.“

    „Wieder muss ich nein sagen. Die Sicherheitsorganisation wird über unser Büro in Haifa abgewickelt. Sie verstehen? Deshalb treffen wir uns auf der Wupperbrücke um 15 Uhr. Ich werde sie ansprechen. Es wird ein umfangreicheres Projekt werden.“

    „Gut. Ich werde auf Sie warten.“

    „Danke, Herr Terhagen, bis in einer Stunde.“

    Markus drückte die rote Taste auf seinem Handy. Dieses Handy hat er sich auf dem schwarzen Markt für dieses Gespräch besorgt. Er entnahm die SIM-Karte und vernichtete sie. Das Handy warf er in eine graue Tonne.

    Um 14 Uhr 54 stieg Markus an der Haltestelle Pestalozzistraße aus dem Bus und schlenderte in Richtung Wupperbrücke. Er sah einen Mann in mittelgrauen Anzug am Geländer gelehnt stehen. Einen schwarzen Ledergeschäftskoffer stand neben ihm abgestellt. Der Mann wirkte schlank und durchtrainiert. Markus ging nun zielstrebig auf den Mann zu.

    „Herr Terhagen, nehme ich an.“

    „Ja.“

    Der Mann drehte sich zu Markus. Unsicheres Wiedererkennen im Blick sagte er: „Maier zwölf?“

    „Richtig, Maier vierzehn. Gut, dass Sie sich erinnern.“

    Interessiert schaute Maier vierzehn auf seinen Gegenüber, den er als Maier zwölf kannte.

    „Wie geht es ihnen, Maier vierzehn.“

    „Gut, ich bin zufrieden. Wie geht es ihnen, äh, Maier zwölf“

    „Auch gut, soweit. Wie geht es Maier eins?“

    Terhagen oder Maier vierzehn blickte Markus prüfend an, dann lachte er trocken. Noch einmal lachte er freudlos. Diesmal war das Lachen eher ein Schnauben.

    „Auf der Rückfahrt vom Versorgungshubschrauber, übrigens der Flug, mit dem sie ins Hauptquartier nach Libreville geflogen wurden, geriet der Lastwagen in einen Hinterhalt. Maier zwei, Maier vier und Maier zehn wurden erschossen. Meier eins wurde die Kehle durchtrennt. Wir haben die Leichen am nächsten Morgen auf der Zufahrtsstraße zum Lager gefunden. Der Lastwagen mit dem Nachschub wurde gestohlen. Die gesamte Operation wurde daraufhin abgebrochen und das Camp aufgelöst.“

    Terhagen lehnte sich wieder auf die grün gestrichen Brückenbrüstung. Damit kehrte er in die Gegenwart zurück.

    „Wie ist Ihr Name, und was kann ich für Sie tun? Meine Sekretärin sagte, es handle sich um eine Sicherheits- und Personenschutzaktion?“

    Markus stellte sich dicht neben Maier vierzehn, fast berührten sich ihre Schultern. Er stützte sich ebenfalls auf die Brüstung. Beide starrten auf das gleitende Wasser.

    „Maier zwölf sollte genügen. Und tatsächlich handelt es sich um eine Personenschutzangelegenheit.“

    Markus nestelte an der Innentasche seine Jacketts und reichte Maier vierzehn einen Boden Papier.

    Terhagen griff nach dem Papier ,faltete es auf und las. Verständnislos blickte er zu Markus. „Ich verstehe nicht.“

    Er blickte erneut auf den Fax-Auszug mit seinem Bild, seiner Firmenadresse und seiner Privatadresse.

    „Können Sie mir das erklären?“ fragte er immer noch verständnislos.

    „Klar kann ich das.“, antwortete Markus locker, „Ich habe im Flugzeug Ihr Firmenportrait und vor allem Ihr Bild gesehen. Ich habe Sie sofort wiedererkannt, Maier vierzehn. Daraufhin habe ich mir mehrere Nächte um die Ohren geschlagen. Ihre Adresse herauszufinden, war nicht schwer. Schwieriger war es, mit dem Bürgermeister eines kleinen, mir unbekannten, Dorfes in Afrika in Kontakt zu treten. Als der Kontakt bestand, wurde er allerdings sehr lebhaft. Besonders die Familie des kleinen Mädchens war außerordentlich interessiert. Sie erinnern sich: das kleine Mädchen im Schrank? Sicher!“

    „Und Sie haben mein Bild und meine Adresse nach Afrika in das Dorf gefaxt?“

    „Ja, wahrscheinlich noch dasselbe Faxgerät, das damals im Nebenraum stand.“

    Markus war völlig emotionslos, obwohl er die Bestürzung und die Angst bei Maier vierzehn spürte, als diesem die gesamte Bedeutung klar wurde. Dieser drehte sich abrupt zu Maier zwölf und packte ihn am Oberarm. Markus wurde geschüttelt.

    „Aber wir waren damals im Krieg!“, schrie Maier vierzehn voller Panik. „Das ist doch vorbei. Wir haben keinen Krieg mehr.“

    Waren wir wirklich im Krieg damals? Im Krieg gegen wen? Sicher nicht im Krieg gegen das kleine Mädchen, übrigens: Sie hieß Hmgali. Haben Sie nie darüber nachgedacht, was wir damals gemacht haben? Wir waren nichts anderes als Söldner. Söldner der Bundesrepublik Deutschland, an den Meistbietenden verschachert. Das war bei uns so, und es ist heute noch so. Wer am meisten bietet, dem wird militärische Hilfe zu humanitären Zwecken, auch zum Töten Unschuldiger angeboten.“

    Die Augen von Terhagen waren angstvoll aufgerissen. Schweiß stand ihm im Gesicht.

    „Wissen Sie, was Sie da gemacht haben?“

    Seine Stimme überschlug sich.

    „Ja! Man muss fest davon ausgehen, dass sich die Familie von Hmgali jetzt im Krieg befindet. Im Krieg gegen Sie, Maier vierzehn.“

    Terhagen war kaum in der Lage zu antworten. Stotternd sagte er: „Aber, aber, wenn die nach Deutschland kommen und mich suchen, werden sie mich finden.“

    Jetzt verspürte Markus Genugtuung und Triumph.

    „Davon ist fest auszugehen“, sagte er kalt, „aber Sie sind ja Spezialist in Personschutzangelegenheiten: Security by Terhagen. Ich glaube, ihre Nächte werden furchtbar werden, Maier vierzehn.“

    Mit diesen Worten drehte sich Markus um und schlenderte zur Bushaltestelle.

    Terhagen blieb fassungslos an der Brückenbrüstung hängen.

     

    Sieben Wochen später.

    Markus war früh durch das Gezwitscher der Vögel aufgewacht. Fröhlich trat er vor die Haustür. Er blickte zum dämmrigblauen Himmel. Die Sonne würde gleich hinter den Baumspritzen empor kommen. Er genoss die frühmorgendliche Kühle und atmete tief durch. Als er die Samstagszeitung aus dem Briefkasten fischen wollte, bemerkte er einen Zettel auf dem Boden liegen. Markus hob den Zettel auf. In ungelenken Druckbuchstaben stand das Wort: D A N K E. Durch einen kleinen Riss war ein Blümchen gezogen.

    Markus atmete tief durch. Irgendwie konnte er besser atmen. Er fühlte sich schwebend.

    In den nächsten Tagen würde er keine Zeitung lesen oder Nachrichten hören.

    Copyright Dr. Gerhard Langenberger

     

     

     

     

     

  • (Nach dem Originaltext folgt die Übersetzung von Dietrich Weller)

    Simon-Katze

    EXPERIENCE – ERFAHRUNG

    “Homo faber fortunae suae” Everyone is a blacksmith of his own making. However, destiny awards one with the hammer to forge red-hot iron, whereas  others must forge the ice-cold iron with a bare fist. Nevertheless, those less privileged during their life’s journey are forced to the bitterest path to achieve knowledge. This rough path of continually learning through mistakes is known as experience.

    The word “experience” originates from from the latin noun experientia which ist derived from experiens, participle of the Verb experiri = through the trying“.

    Moreover, I believe that the origin of the word experience is older. Let’s propose a new hypothesis.

    The Greek language uses the term “piro” πείρω) for the word experience which further develops into the expression “empirical”.

    Empirical denotes information gained by means of experience.

    The greek prefix pyr- ist derived from pyro = fire.

    The new hypothesis is that the double meaning of the term “piro / pyro” = experience and fire, alludes to an old tale.

    “This very old tale is about a monkey who persuaded a cat to pull chestnuts out of the fire, so as to avoid burning its own paws”.

    Almost certainly is that the cat gained experience through fire. This tale and versions of it is present in many languages, as in English Proverbs from the 17th century: “Burn not thy fingers to snuff out another’s candle“.

    Harm oneself, as in “I’ve burned my finger “could mean “I have learned from personal experience.“

    Experience fills a space between capacities of perception and memory on the one side, and the dispositions of art and science on the other side. 
Simplified experience is generated from perception and memory.

    Even Hippocrates describes the role of experience in formulating medical theories and in following medical treatments. (experienced doctors!)

    More developed forms of experience come from the tendency to grow. It grows horizontally as in the knowledge of new facts at the level of generality. Moreover, experience grows vertically to a higher level.

    The German word for experience is “Erfahrung”, and it expresses its meaning more precisely. Die Erfahrung describes the growth (both horizontally and vertically), and the aspect of the time,that indicates the coherency of life’s experiences.

    Dr. med. André Simon  ©Copyright

     

    André Simon: Erfahrung

    Übersetzung von Dietrich Weller

    „Homo faber fortunae suae.“[1] Jeder ist der Schmied seines Schicksals. Das Schicksal jedoch belohnt den, der mit dem Hammer das glühend rote Eisen schmiedet, wobei andere das eiskalte Eisen mit der bloßen Faust schmieden müssen. Nichtsdestotrotz werden die weniger Privilegierten im Laufe ihres Lebens auf die bittersten Wege geschickt, um zur Erkenntnis zu kommen. Diesen groben Pfad des andauernden Lernens durch Fehler nennt man Erfahrung.

    Das Wort „experience“ stammt aus dem lateinischen Hauptwort experientia = Versuch, dieses wieder von dem Verb experiri = versuchen, erproben, ausprobieren.

    Ich glaube jedoch, dass der Ursprung des Wortes Erfahrung älter ist. Lassen Sie mich eine neue Hypothese aufstellen.

    Die griechische Sprache benützt den Begriff piro (πείρω)für das Wort Erfahrung, das sich weiter entwickelt zu dem Ausdruck empirisch.

    Empirisch bezeichnet Informationen, die durch Erfahrung gewonnen werden. Etymologisch bezeichnet die Vorsilbe pyro– Feuer[2].

    Die neue Hypothese besagt, dass die Doppelbedeutung des Begriffes piro = Erfahrung und Feuer sich auf eine alte Sage bezieht.

    Diese sehr alte Sage handelt von einem Affen, der eine Katze überredet hat, Kastanien aus dem Feuer zu holen, damit er sich seine eigenen Pfoten nicht verbrennt.

    Beinahe sicher ist, dass die Katze die Erfahrung durch das Feuer gewonnen hat. Die Sage und Versionen davon sind in vielen Sprachen vorhanden, so auch im englischen Sprichwort: Verbrenn deine Finger nicht, wenn du die Kerze eines anderen ausdrückst.

    Sich selbst schaden wie in „Ich habe meinen Finger verbrannt“ kann bedeuteten: Ich habe aus meiner persönlichen Erfahrung gelernt.

    Erfahrung füllt einen Raum zwischen den Fähigkeiten der Wahrnehmung und des Gedächtnisses einerseits und den Möglichkeiten des Kunst und Wissenschaft andererseits. Vereinfacht: Erfahrung wird durch Wahrnehmung und Gedächtnis erzeugt.

    Sogar Hippokrates beschreibt die Rolle der Erfahrung beim Formulieren medizinischer Theorien und der daraus folgenden Behandlungen (erfahrene Ärzte!).

    Weiter entwickelte Formen der Erfahrung entstehen durch die Tendenz zu wachsen. Sie wächst horizontal wie in der Kenntnis neuer Tatsachen auf allgemeiner Ebene. Außerdem wächst Erfahrung vertikal auf ein höheres Niveau.

    Das deutsche Wort für Erfahrung beschreibt die Bedeutung noch genauer. Erfahrung beschreibt das Wachstum (sowohl horizontal als auch vertikal) und den Gesichtspunkt der Zeit, die den Zusammenhang der Erfahrungen in einem Leben anzeigt.

     

    [1] Bemerkung des Übersetzers: Wörtlich übersetzt: „Jeder ist der Handwerker seines Schicksals.“ Im Deutschen benützen wir das Sprichwort „Jeder ist seines Glückes Schmied.“

    [2] Bemerkung des Übersetzers: Pyromanie ist eine psychische Störung: der zwanghafte Trieb, Brände zu legen und sich beim Anblick des Feuers sexuell zu erregen. Pyrotechnik ist die Feuerwerkerei (Herstellung und Gebrauch von Feuerwerkskörpern).

    Copyright für die Übersetzung Dr. Dietrich Weller

     

  • Langer Weg

    Ich bin vor die Haustür getreten, habe sie sorgsam zugezogen und, nur um ganz sicher zu sein, mehrfach am Knauf gerüttelt. Habe den Schlüsselbund tief in die Hosentasche geschoben und mit der flachen Hand nochmal und nochmal nach ihm getastet. Im Losgehen dann wie jedes Mal zum Küchenfenster hinauf gesehen, obwohl doch dort niemand mehr stehen kann. Als ich über meinen Rollator gebeugt um die Hausecke biege, springt der Aprilwind mich an. Gerade, dass ich meinen Hut noch halten kann.

    An der kleinen Busstation weiche ich den hingestreckten Beinen eines jungen Mannes aus, der nur Augen für eine kleine Kiste hat, auf der er herumdrückt, in jedem Ohr einen Knopf mit Kabel dran. Für ihn scheine ich gar nicht zu existieren. Wie aus dem Nichts jagt von hinten ein Radfahrer an mir vorbei, streift mich am Ärmel. Ich erstarre vor Schreck. Mein Herz rast, mich schwindelt. Auf meinen Rollator gestützt bleibe ich stehen, bis es wieder geht nach einer ganzen Weile. Ich atme auf, ohne erleichtert zu sein. Im Rinnstein neben mir rupfen zwei Raben an einem dreckigen Brotrest. Weiter jetzt. Nur noch an der ehemaligen Kaserne vorbei, die Apotheke und den Bestatter mit seiner farbenfrohen Urnen-Sammlung in der Auslage hinter mir lassen. Und schon bin ich fast da. Habe den Supermarkt mit den großen blau-gelben Leuchtbuchstaben vor mir. Fast werden die alten Füße mir so leicht, dass ich das letzte Stück laufen möchte. Doch selbst wenn das noch ginge, wie wäre ich dann außer Atem, wenn ich mich in die Reihe der Wartenden stelle und nicht aufhören kann, meinen Wunsch an die Bäckereiverkäuferin wieder und wieder vor mich hin zu flüstern.

    Wenn die Reihe schließlich an mir ist, möchte ich ihr gerne sagen können, dass ich von weit herkomme, eine elendig lange Reise durch viele Jahrzehnte hinter mir habe, nur um in diese Bäckerei zu gelangen. Dass meine Mutter mich dazu vor mehr als achtzig Jahren in einer Arbeitspause bei der Kartoffelernte zur Welt gebracht hat. Dass ich dafür diesen großen Krieg überlebt habe, den Hunger und die Ruhr, die Tieffliegerangriffe und das Strafexerzieren im belgischen Novemberregen. Den Granatsplitterhagel, der mir mein linkes Ohr abriss, habe ich genauso wie die abgefrorenen Zehen über mich ergehen lassen. Mehr als einmal hatten sie mich bereits aufgegeben. Vom Sudetenland wurde ich später dann hierher, in den Westen verschlagen. Habe geholfen, eure von unseren Befreiern zerstörte Heimat wieder aufzubauen und als ein Vertriebener, der ich war, noch einmal ganz von vorn angefangen. Ich will nicht unbescheiden sein, aber in diesem Bäckerladen ankommen zu dürfen, habe ich mir mehr als verdient. Und jetzt stehe ich hier, über meinen Rollator gebeugt und erbitte nichts mehr als ein Stück frischen Mohnkuchens. So etwa möchte ich zu ihr sprechen.

    Dann ist es soweit. Ihr gebräuntes Jugendgesicht streckt mir ein routiniertes Jabitte entgegen.

    „Ein Stückchen von dem Mohnkuchen“, bringe ich hervor und sehe wie sich unter ihren flinken Bewegungen schon alles zum Besten wenden will, als sie plötzlich innehält und mich prüfend anschaut. „Hier essen?“ – Ich nicke.

    Copyright Franz Jostberg

  •  

    Tabubruch am Bosporus

     

    Hans Adamski wusste, dass ihn niemand mochte: „Nun ja, ich bin schnell eingeschnappt, schnell aufgebracht, ich gehe allen auf die Nerven.“ Er hatte als Einzelkämpfer des Jahrgangs das Abitur erreicht; der Notenschnitt genügte für das Studium der politischen Wissenschaft. „Der Kapitalismus raubt uns aus. Der Westen vertritt falsche Werte, er hat keine Kraft“, waren seine Sprüche, „nur Alkohol, Drogen und Sex. Niemand macht etwas dagegen, der Untergang ist nahe!“

    Seine Ansichten verscheuchten die letzten Freunde. Mädchen mieden ihn, weil er auf nackte Schultern, kurze Röcke und Busenausschnitt mit missbilligenden Blicken reagierte. Die Kommilitonen im Politischen Seminar nahmen von Hans entfernte Plätze ein. Auf den Studentenfesten wuchs der Frohmut, seit Hans fernblieb.

    Ein Kommilitone aus dem Libanon, der zwei Auslandssemester an der Universität verbrachte, lud ihn ein: „Hans, ich sehe, du fühlst dich unter den Kollegen nicht wohl. Mir geht es genauso. Darf ich dich in unseren Kultur-Verein einladen?“

    „Was ist das, euer Kulturverein?“

    „Deutsch-Arabischer Kulturverein, Hans“, sagte Sad al Assad freundlich, „ganz unverbindlich. Ich stelle dich als Studienkollegen der internationalen Politik vor. Wir freuen uns über jeden, der uns kennenlernen will.“

    Sad al Assad stellte ihn dem Imam vor und bat, dass Hans mit ihm den Kulturverein besuchen dürfe. Die arabischen Freunde empfingen ihn freundlich, baten, sich nicht zu fürchten, denn man wolle Freundschaft pflegen und sich keinesfalls aufdrängen. Bei Festen gehe es, wenn die Frauen dabei seien, recht familiär zu. Doch er werde sicher nicht heiraten müssen.

    Nach dem ersten Gemeindefest fragte Sad al Assad, ob es ihm gefallen habe. Hans strahlte: „Ihr seid alle herzlich, eure Mädchen schauen mich an, zwar von weiter weg, aber mit Respekt.“

    „Ja“, bestätigte Sad al Assad, „sie interessieren sich für Deutsche und sind glücklich, wenn ihre Eltern den Umgang erlauben.“

    Hans gefiel es, als Mann im Mittelpunkt verstohlener Mädchenblicke zu stehen, noch mehr, von Männern ernst genommen zu werden. Der Bruder seines Freundes, Mahmed al Assad, ging jedes Mal auf ihn zu, teilte Hans Adamskis Ansicht vom gottlosen Sittenverfall des Westens.

    Er sagte: „Hans, du solltest unseren Prediger hören, der uns für einige Wochen besucht. Er ver-steht es, wach zu rütteln. Wenn du magst, nehme ich dich mit.“

    Der Prediger riss Hans mit. Hans gefiel es, Gleichgesinnte zu finden. Sie waren ein kleiner Kreis, außer den Assad-Brüdern noch Hans und ein junger Mann, der gerade die Arbeitsstelle verloren hatte. Der Prediger fasste die Situation der Zeit knapp und mit eindeutiger Perspektive zusammen. Er wies auf Schwachstellen der westlichen Demokratien hin, auf lasch eingreifende Ordnungskräfte, Mängel der Kirchen und ihrer Priester, deren Rufe nicht gehört würden. Die Zügellosigkeit der Jugend, der Verfall von Familie und Respekt würden gleichgültig hingenommen.

    Hans Adamski beschlichen Bedenken. Er nahm sich vor, die Freundschaft einschlafen zu lassen. Aber er fühlte sich verstanden. Die Assad-Brüder nahmen die Bedenken ernst, und der Prediger be-stärkte Hans‘ Überzeugung vom Bösen in den Herzen seiner deutschen Freunde. Der im Koran festgelegte Gehorsam der orientalischen Frau gegenüber dem Mann fesselte ihn. Er träumte von einem treuen Mädchen mit Kopftuch und langen Kleidern, unter die nur er schauen dürfe.

    Als die Assad-Brüder ihm anboten, einige Zeit in den Libanon mitzufahren, fühlte er sich auser-wählt, nahezu glücklich. Wie lange war es her, dass er sich stark fühlte, Mädchenblicke auf sich zog, Erkenntnisse und Erlebnisse mit Freunden besprechen konnte!

    Mahmed al Assad ergänzte: „Wir stellen Kontakt mit führenden Persönlichkeiten her, vielleicht hilft der eine oder andere Kontakt, einen Plan zu erfüllen. Wir haben Beziehungen zu Europa, du könntest bei uns Arbeit finden, geschult werden und in Europa eingesetzt werden.“

    Hans schlug ein. Triumphierende Gedanken jagten durch den Kopf: Arbeit, Aufstieg, als Macher zurückkommen, kein dekadenter Performer, sondern gottesfürchtiger Entscheidungsträger, verant-wortlich für das Schicksal jener, die seinen Weisungen zu folgen haben. Er werde Rache nicht zeigen, nur spüren lassen. Selbstgefällige Gedanken verscheuchten kritische.

    Mahmed al Assad versicherte, Hans zu begleiten, so oft er nur könne, bis Hans Firma und Be-ziehungen kennengelernt und sich eingebracht habe. Hans war es, als ob er an einem Punkt ange-langt sei, ab dem jeder Plan gelingt.

    „Erschrick nicht, Hans“, beruhigte Mahmed al Assad, „am Anfang geht es etwas rau zu, aber ich bin immer zu erreichen.“

    Im Libanon vermisste Hans die Assad-Brüder gar nicht. Der Kursleiter half, die Gegenwart in kla-ren Perspektiven zu erfassen, böse Imperialisten einerseits und gute Muslime andererseits, Atheis-ten und Gottesfürchtige, Gläubige und Ungläubige, Gutmenschen hier und Ungeziefer dort. Um gegen Überfälle Ungläubiger gewappnet zu sein, kamen Aufenthalte im Trainingslager hinzu. Die Fertigkeiten, Waffen zu benützen, sich zu wehren oder verbergen, Ungläubige in Angst zu versetzen, machten größten Spaß. Die Strapazen des Trainings nahm er nicht wahr.

    Denn jede vierte Wochen gab es Urlaub. Hans bewunderte die perfekte Organisation, den gewonnenen Durchblick. Frauen mit Schleier und langen Kleidern verwöhnten die Männer aus dem Camp. Sie verehrten den Mut der Männer, weckten Phantasien, erfüllten auch intime Wünsche. Sad al Assad fragte Hans, ob sich Suleika genügend um ihn kümmere.

    Hans schwärmte: „Sie ist sehr lieb, zärtlich, liest die Wünsche von den Augen ab. Sie bietet mir Drogen an, sagt genau, wie Stoff und Dosis wirken. Ihre Drogen steigern die Lust und Manneskraft, wie ich es bei unseren Emanzen nie erleben würde.“

    Mahmed al Assad fragte nicht weiter, freute sich mit Hans, der nichts von den Rachegefühlen preisgab, die er gegen alles Westliche hegte. Mahmed al Assad wusste, dass in Hans Gelüste auf-kamen, sich zu rächen, an wem auch immer. Er schlug Hans vor, sich einen arabischen Namen zuzulegen, Hassan al Acham, das helfe, sich zu tarnen. Es würde Suleika gefallen. Hans nahm an, denn er hatte in ihren Armen selbst daran gedacht.

    Hassan al Acham trainierte nun Taktik und Vorbereitung von Anschlägen auf Gebäude und Ansammlungen. Sein erster Auftrag führte ihn nach Nigeria. Dort übe man den Islam nachlässig aus.  Deshalb müssten die Respektlosen gestraft werden. Man versprach Hassan eine Jungfrau nur für ihn allein, wenn es ihm gelänge, Schülerinnen zu entführen, so viele wie möglich.

    Es gelang ihm, mit seiner Truppe zweihundert Mädchen zu fangen und ins Camp zu bringen. Suleika führte ein hübsches Mädchen in Liebeskunst und Drogenlehre ein. Es hieß Aische und erfüllte Hassan al Acham jeden Wunsch. Er gewöhnte sich an Aische, Kokain und Amphetamine. Hassan fühlte Riesenkräfte wachsen, auch die Wut auf Ungerechtigkeit wuchs. Er suchte nach Rache-Opfern.

    Mahmed al Assad erkannte den günstigen Moment. Er sagte beim Frühstück: „Hassan, du bekommst neue Mädchen, du wirst sie testen und beurteilen, denn das Mädchen hat von dir alles gelernt, du hast das Talent, unseren Dschihad-Kämpfern und den Mädchen Mut zu machen.“

    „Du hast einen Auftrag für mich“, fiel Hassan ins Wort, „ich nehme an, ich will Rache!“

    „Du bekommst mehrere Jungfrauen, um sie auszubilden.“

    „Gerne, aber zuerst muss ich ein Blutbad anrichten, ein Blutbad unter Ungläubigen. Allah fordert Gerechtigkeit, und nichts ist gerechter als Allah.“

    „Ich begleite dich“, sagte Mahmed al Assad leise, „den Umgang mit dem Sprenggürtel hast du gelernt. Aber in der realen Situation darf man nicht allein sein.“

    „Endlich, Mahmed!“ Hassan sprang auf. „Endlich kann ich mich bewähren. Zur Belohnung möge mir Allah Jungfrauen zuteilen.“

    Mahmed schlug für die Reise nach Istambul vor: „Sad und ich fahren mit und geleiten dich durch die Sicherheitskontrollen.“ Er wusste, das der kritische Punkt der Selbstmordtaktik noch nicht bewältigt war.

    Sie fuhren nach Antalya, stiegen in einen andern Wagen mit türkischem Kennzeichen, über-nachteten in kleinen Hotels. Mahmed beruhigte, indoktrinierte, motivierte, Sad schaffte in jedem Hotel Drogen und eine Frau an. Hassan nahm und fühlte sich wie Gott. Denn der Prediger des Camps hatte ein Mail geschickt: „Ich rechtfertige die Erfüllung des Auftrags. Du bist auf dem rechten Weg. Suche dir vor der blauen Moschee eine Gruppe aus! Das Ungeziefer ist ungläubig und gottlos, opfere böse Engländer oder besser, opfere Deutsche. Die Vernichtung westlicher Schweine steigert den Wert deiner Tat. Sie trifft auf das Wohlgefallen Allahs, er wird dich belohnen.“

    Aische, das Mädchen aus Nigeria, begrüßte ihn in Istambul. Die Drogen, die sie nach dem Liebes-dienst empfahl, dürften Hassans Aggressivität genügend steigern. Hassan genoss Nacht, Drogen und Aussicht auf gestillte Rache, vor allem das Gefühl der Allmacht. Er allein werde entscheiden, wer sterben wird, wer nicht sterben wird, die hier links oder die dort rechts. Die andern würden später an die Reihe kommen.

    „Wie grandios das ist“, sprach Hassan zu sich selbst, morgen bin ich Gott, mich bremsen keine  dekadenten Werte aus, niemand hindert mich, das Ungeziefer in den Boden zu treten! Blut wird spritzen, Schweine werden jammern, und ich – ich bringe das Blut der Gerechtigkeit Allahs dar.“

    Aische holte ihn aus der Traumwelt, steckte ihm Kokain zu und zog sich zurück, als Mahmed und Achmed al Assan ins Zimmer traten, um den Sprenggürtel anzulegen. Die Schnallen befestigten sie auf dem Rücken, die Zündleine vorne. Hassan konnte den Gürtel weder öffnen noch verschieben.

    „Du bist heute der Größte, Hassan“, sagte Mahmed, „du hilfst, Moral und Sitte herzustellen! Schau auf das Mail, der Prediger hat die Legitimation geschickt. Nun zeige, dass du furchtlos vor Allah trittst. Allah wird dich belohnen.“

    Hassan schlug Mahmed das Mobiltelefon aus der Hand. Er hastete auf die Straße, die Assad-Brüder holten ihn ein und mahnten, langsamer zu gehen, es seien nur ein paar hundert Meter zum Sultan-Achmed-Platz. Mahmed nahm Abstand, beobachtete aber jeden Schritt. Hassan mischte sich unter Touristen, fand eine deutsch sprechende Gruppe. Alle lachten, weil Hassan sich Hans nannte.

    Mahmed gefiel es nicht. Der hasserfüllte Blick Hassans traf ihn. Hassan schüttelte den Kopf. Mahmed tat, als ob er am Faden eines Westenknopfs ziehen wolle, schob seinen Bruder zum Deutschen Brunnen hin. Sie suchten den Blick des andern. Hassan schüttelte den Kopf. Die Brüder  traten in den Sichtschatten des Deutschen Brunnens, der Sprengsatz explodierte mitten in der Gruppe, Hassan war nicht mehr zu sehen. Die Brüder traten aus dem Schatten, entfernten sich gelassen vom Platz des absoluten Tabubruchs, niemand nahm sie wahr. In der Tomurcuk-Straße gingen sie in ein Haustor, und Mahmed schaltete das Funkfernzündgerät ab.

    *

    Bei dem Terroranschlag am 12. Januar 2016 in Istanbul wurden gegen 10:20 Uhr auf dem Sultan-Ahmed-Platz mindestens elf Menschen getötet und fünfzehn verletzt. Bereits ein Jahr zuvor war dort ein Sprengstoffanschlag durch eine tschetschenische Selbstmordattentäterin verübt worden.

    Copyright Dr. Harald Rauchfuß

  • Ketewan

    In Georgien wurde eine fromme Frau von einem Jungen entbunden.

    »Schau her«, munterte die Hebamme auf, »ein Bub, was für ein prächtiger Bub!«

    »Atmet er genug«, fragte Ketewan, die ängstliche Mutter.

    »Hör! Hör doch! Wie kräftig er schreit! Nimm ihn, den Buben, nimm ihn, leg ihn auf deine Brust!«

    Ketewan zögerte, die Hebamme drängte, die Mutter nahm den Knaben entgegen und betrachtete ihn.

    »Er ist ein Starker«, klatschte die Hebamme in die Hände, »sieh, wie er strampelt, wie er mit den Händchen winkt!«

    Ketewan erschrickt: »Er strampelt? Er tritt mit den Füßen! Er winkt? Er boxtundboxt, will alles nieder boxen!«

    Die Hebamme stutzt, sucht nach Worten. Endlich sagt sie: »Du hast eine lebhafte Phanta-sie, Ketewan, du, nicht das kleine Teufelchen!«

    »Hebamme«, antwortet Ketewan, »du musst es mir eingestehen: Mein Sohn richtet Furore an. Der böse Blick dringt mir ins Herz.«

    »Ketewan«, fordert die Hebamme, »beruhige dich! Das unschuldige Kind! Wirst du es gernhaben, von Herzen gern?«

    »Ich liebe es, weil es freigeboren ist. Aber jetzt, da ich es sehe, wird mir anders zumute … es ist ein Freier. MeinVater, sein Großvater ist leibeigen. Ich liebe Russland undweißnicht, warum ich mich schäme.«

    »Welchen Namen bekommt der Bub?« lenkt die Hebamme ab.

    »Josef«, flüstert die Mutter, »JosefWessarionowitsch. Mein Schwiegervater ist freigeboren, kein Leibeigener.«

    »Josef«, ruft die Hebamme, »er wird ein Priester.«

    »Wie kannst du es wissen?« Die Mutter weint. »Das glaube ichnicht. Das Kind wird nie-mals ein Diener Gottes.«

    Das Wochenbett überlebte Ketewan komplikationsfrei. Der Knabe wuchs heran; Pockennarben zeichneten das Gesicht. Nachdem JosefWessarionowitsch Dschugaschwili das Priesterseminar abgebrochen hatte, um das Glück des Revolutionärs herauszufordern, nahm er den Namen Josef Stalin an. Millionen wanderten hinter Stacheldrahtzaun, Millionen starben. Ohne Asyl gibt es keine Emigration.

  • Beitrag zur Lesung „Geheimnisse“ bei dem BDSÄ-Kongress in Würzburg 2016

     

    Die Leiden des Philoktet und der Lessing’sche Laokoon  

    Zu meiner Schulzeit war es in der gymnasialen Mittelstufe noch üblich, am Tag vor Beginn der Ferien an die Tafel zu schreiben:

    “Es ist schon immer so gewesen – am letzten Tag wird vorgelesen.”

    Unser vorlesender Mitschüler machte das ausgezeichnet, und die Texte, die er zu Gehör brachte, waren unterhaltsam und erheiternd. Eines Tages hörten wir  “Der Besuch im Karzer”, eine Humoreske des Gießener Autors Ernst Eckstein. Sie spielt im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts  an einem Gießener Gymnasium. Der Direktor, ein jovialer Altphilologe mit besonderen Aussprache-Gepflogenheiten – er verwandelt die hellen Vokale samt und sonders in dunklere – liest mit Schülern der Oberstufe das Sophokles-Drama Philoktet. Der Heros ist mit den anderen Griechen nach Troja aufgebrochen und wird unterwegs von einer Schlange gebissen. Er empfindet den Schmerz als so unerträglich, dass er fortwährend und durchdringend schreit und ihn die Gefährten entnervt auf der Insel Lemnos zurücklassen.

     

    Wamser-Krasznai-Die Leiden des Philoktet-Bild1

     

    Bild 1: Rotfigurige Bauchlekythos NY ca. 430 v. Chr.

     

    Zum Jubel der Klasse verdeutscht der übersetzende Primaner das Wehgeschrei des Unglücklichen mit ai, ai, ai, ai… “ Da fällt ihm der Direktor in die Rede: Sagen Sä au, au, au, au. Das “ai” als Interjektion des Schmerzes äst sprachwädrig”. Auch den Einwurf „nun, umso besser“ verwandelt die eigentümliche Diktion des Pädagogen in:  “non, omso bässer”, natürlich ebenfalls zum Entzücken der Schüler. Ich muss es mir leider versagen, den Fortgang des Unterrichts und seine Folgen mit Ihnen zu genießen; denn wir haben es hier mit einem leidenden griechischen Helden zu tun.

    In seiner Abhandlung “Laokoon oder über die Grenzen der Malerei und Poesie” bezeichnet Lessing subsummierend „die bildenden Künste überhaupt” mit dem Begriff  Malerei. So stellt er den hemmungslos mit weit aufgerissenem Mund schreienden Philoktet aus der Dichtung dem maßvollen Ausdruck des Schmerzes gegenüber, den die Bildhauer dem trojanischen Priester Laokoon und seinen Söhnen gegeben haben, obwohl alle drei in Kürze der tödlichen Umklammerung durch die gewaltigen Schlangen erliegen werden.

     

    Wamser-Krasznai-Die Leiden des Philoktet Bild 2.doc

    Bild 2: Laokoon, Vatikan

    Nach: W.-H. Schuchhardt, Die Kunst der Griechen, 1940, 440 Abb. 410

     

    Entgegen der Behauptung Winckelmanns, Laokoon leide wie der Philoktet des Sophokles, zeigt nun Lessing, dass es den Bildhauern gelang, beim Laokoon “unter den angenommenen Umständen des körperlichen  Schmerzes…auf die höchste Schönheit” hin zu arbeiten, wozu allerdings die entstellende Heftigkeit herabgesetzt, “Schreien in Seufzen” gemildert werden musste, “nicht weil das Schreien eine unedle Seele verrät, sondern weil es das Gesicht auf eine ekelhafte Weise” verzerrt. “Man reiße dem Laokoon in Gedanken“ einmal „den Mund auf und urteile”.

     

    Wamser-Krasznai-Die Leiden des Philoktet Bild 3.doc

    Bild 3: Was ist schon Sport ohne Schrei?

    Nur eine Darstellung, die “Schönheit und Schmerz zugleich” zeige, könne Mitleid  erregen, während der Anblick heftigen Schmerzes allein abscheulich sei und “Unlust erregt, ohne dass die Schönheit des leidenden Gegenstandes diese Unlust in das süße Gefühl des Mitleids verwandeln kann”[1].

    Was jedoch den schreienden Philoktet angeht, so ist der überwältigende, fast  unangemessene Schmerz nicht das einzige Übel, das ihn befallen hat. Die schlecht heilende Wunde entwickelt nämlich einen widerwärtigen Gestank, den Freunde und Kriegsgefährten nicht ertragen. Dieses in der Sekundärliteratur (z. B. DNP 9, 832 f. RE 1938, 2501[2]) durchweg geradezu genüsslich, manchmal sogar als einziges[3], beschriebene Symptom, spielt offenbar nicht in allen antiken Quellen eine vergleichbare Rolle. Im sog. Schiffskatalog im 2. Gesang der homerischen Ilias ist zwar von Schmerzen die Rede, nicht aber vom üblen Wundgeruch (Il. 2, 714-728). Auch Sophokles lässt Odysseus lediglich mitteilen:

    „Ihm fraß am Fuße eine Wunde, eitrig, nässend,
    und seine wilden Schmerzensschreie, Jammern, Stöhnen
    durchhallten unaufhörlich unser Heer und  machten
    uns Spenden, Opfer, jeden stillen Gottesdienst
    unmöglich.“ (Philoktetes 7-11).

    Später äußert sich der Betroffene selbst gegen Neoptolemos:

    „Du, edel nach Charakter wie nach Abstammung,
    mein Junge, fandest standhaft dich mit allem ab,
    mit meinen schrillen Schreien, meinem Pestgestank.“ (κακῂ ὀςμῂ).

    (Philoktetes 874-876).

    Die Ausdrucksweise der Weggefährten ist bemerkenswert zurückhaltend. Immerhin geht es um die Verletzungsfolgen eines befreundeten Kommandanten von sieben Schiffen mit Bogenschützen, den die Achäer schnöde vernachlässigen und auf einer unwirtlichen Insel zurücklassen[4]. Wollte Sophokles ein Geheimnis aus dieser unrühmlichen Tatsache machen? Oder hielt er – ein Priester des Heil-Heros Halon und Wegbereiter des Asklepioskultes in Athen, der wohl mit dem Medizinbetrieb einigermaßen vertraut gewesen ist – den Gestank einer eitrigen, nässenden Wunde für so selbstverständlich, dass er ihn nur nebenbei erwähnte? Wir heutigen Ärzte würden das Krankheitsbild als „feuchte infizierte, stinkende Gangrän“[5] bezeichnen. Werfen wir einen kurzen Blick auf andere retrospektive Differentialdiagnosen:

    1. Chronoblastomykose, eine Pilzinfektion der Wunde, geht auch bei eingetretener bakterieller Superinfektion gewöhnlich nicht mit derart heftigen Schmerzen einher[6].

    2. Gicht erklärt zwar exzessive Schmerzen, nicht aber die purulenten Exsudate[7].

    3. Aktinomykose, eine Mischinfektion, häufig durch Bakterien aus der Gruppe der Aktinomyzeten verursacht, führt nicht zu Schmerzen.

    4. Osteomyelitis – das Ausmaß der Schmerzen passt nicht dazu[8].

    5. Eine Anaerobierinfektion[9] wie Gasbrand hätte, ohne Antibiotika, wohl zu einem fatalen Ende geführt und kommt schon aus diesem Grund kaum in Betracht.

    6. Am wahrscheinlichsten ist eine chronische bakterielle Mischinfektion aus Aerobiern bzw. Anaerobiern mit der Folge einer Gangrän.

    In der Bibliothek Apollodors, einer vermutlich aus dem 1. Jh. n. Chr. stammenden Mythensammlung (Apollod. Epitome 3, 27), wird der Bezug zwischen Gestank und schmerzhafter Wunde klarer, und auch Hygin erwähnt in seiner Fabelsammlung (Hyg. fab. 102, 2. Jhs. n. Chr.) den ekelerregenden Geruch. Beide berufen sich vermutlich auf  ältere, für uns verlorene, Quellen wie den Philoktet des Aischylos oder des Euripides. Wir wissen zwar, dass die gleichnamige Tragödie des Euripides zusammen mit zwei anderen tragischen Stücken und einem Satyrspiel des Dichters an den Dionysien des Jahres 431 v. Chr. aufgeführt wurde, doch ihren Wortlaut kennen wir nicht[10]. Dies gilt auch für den früher entstandenen Philoktet des Aischylos[11]. Jener üble Geruch muss aber früh zum Philoktet-Mythos gehört haben, war er doch ein Argument, mit dem die Griechen ihr unmenschliches Verhalten – die Vernachlässigung eines kranken Gefährten – zu erklären suchten. Dass wir keine archaischen Darstellungen des Ausgesetzten haben, hängt vielleicht mit jenem ’schlechten Gewissen‘ zusammen. Als dann Aischylos und nach ihm Euripides und Sophokles die Tragik des Philoktet als Schicksal darstellten, trat er auch in der Bildkunst auf[12]. Doch während der Kranke in der Sophokles-Tragödie an der Grenze zum Wahnsinn einen regelrechten Schrei-Exzess absolviert[13], zeigen ihn die bisher bekannten bildlichen Darstellungen stets mit einem  geschlossenen, allenfalls nur leicht geöffneten Mund[14]. In ihrer dezenten Gestaltung bleiben sie sogar hinter dem maßvollen Ausdruck des Schmerzes zurück, der den Laokoon und seine Söhne kennzeichnet. Eine Wiedergabe ‚in Schönheit‘ siegte in klassischer Zeit allemal über tragischen Realismus[15].

    Philoktet aber wird, weil man ihn vor Troja braucht, später aus Lemnos abgeholt und durch die Söhne des Asklepios, Machaon und Podaleirios, von seinem Übel geheilt.

    Literatur:

    [1]Laokoon. Lessings Werke Band 3 (Stuttgart 1873) 69. 76 f.

    [2] Der Neue Pauly; Realezyklopädie der klassischen Altertumswissenschaften; dazu auch   M. Grmek – D. Gourevitch, Les maladies dans l’art antique (Paris 1998) 99. 109; E. Simon, Philoktetes – ein kranker Heros, in: H. Cancik (Hrsg.), Geschichte – Tradition  – Reflexion. Festschrift für Martin Hengel zum 70. Geburtstag (Tübingen 1996) 16; J. Söring, Das Schreien des Philoktet. Sophokles und Heiner Müller, in: J. Söring – O. Poltera – N. Duplain (Hrsg), Le théâtre antique et sa réception. Hommage à Walter Spoerri (Neuchâtel 1994) 154 f.  A. Thomasen,  Philoktet – ein Thema mit Variationen, Clio medica 18, 1983, 1.

    [3] So P. Blome, Der Mythos in der griechischen Kunst. Der troianische Krieg findet statt, in: Traum und Wirklichkeit Troia (Stuttgart 2001) 144; C. W. Müller, Das Bildprogramm der Silberbecher von Hoby, JdI 109, 1994, 321.

    [4] Simon a. O. 1996, 16 Anm. 8.

    [5] St. Geroulanos – R. Bridler, Trauma. Wund-Entstehung und Wund-Pflege im antiken Griechenland (Mainz 1994) 57 f.

    [6] H. A. Johnson MD, The foot that stalled a thousand ships: a controversial case from the 13th century BC, J R Soc Med 96, 2003, 507 f.

    [7] ders. a. O. 508.

    [8] ders. ebenda.

    [9] Geroulanos – Bridler a. O. 57 f.

    [10] Müller a. O. 322 Anm. 4.

    [11] Müller a. O. 340 Anm. 63 f.

    [12]Simon a. O. 18, dazu auch brieflich am 20.03.2016.

    [13]Soph. Phil. 735-816.

    [14] LIMC VII (1994) 376-385 Nr. 12-74 Taf. 321-326 s. v. Philoktetes ( M. Pipili); Simon a. O. 1996, 15 Anm. 4. 5.

    [15]Dazu W. Wamser-Krasznai, In Schönheit sterben, in; dies., Fließende Grenzen (Budapest 2015) 22-35.

    Copyright Dr. Dr. Waltrud Wamser-Krasznai

  • ART OF TEACHING

    (Übersetzung von Dr. Dietrich Weller am Ende des Textes)

     Simon-Art of teaching-Bild

                                                                  

    Many, many years ago, in the shade of an old tree, Master Ximéng gave a lesson. He focused his teaching on the importance of living in harmony with nature. Subsequently he spoke very gently of how human beings might accomplish this task.

    Afterwards he asked his students, in a whisper: “Have you any questions?”

    A student answered by asking; “Most honorable, what makes your method of teaching so outstanding?”

    He replied: “My method is based on the rules described in XUEJI. The essential rules are: gradual teaching, timing, prevention and imitation.

    Gradual teaching (SUN) means to consider the differences between the students. Its aim is to instruct them at diverse levels and give them particular teachings.

    The teaching is administered step by step and within the student’s level of knowledge. Learning can be effective only if the students can comprehend – within their ability.

    Timing (SHIH): Timing is teaching at an appropriate time. Without timing, twice as much effort as normal is needed to achieve success. Missing the timing by the time a student has reached a certain age, the student starts to engage himself in everyday’s ordinary tasks. The more personal engagements the student has, the less time he has left to study.

    Prevention (YUH): Prevention bears success. Failure happens due to insufficient prevention and lack of preparation. It is better to avert the problems instead of searching reasons for them afterwards. Prevention and preparation result in tough research and homework for the students. By preventing errors, the student is prepared for every possible life’s situations.

    When trouble occurs; it is usually already too late to make any substantive changes.

    Imitation (MO) is learning from others. Life is too short to make mistakes, or to find the best solutions all by oneself. By imitating what wise people have done successfully, one can decrease the chance of making mistakes or making the same mistake twice. After all, everyone has limited learning abilities. Collecting other people’s wisdom and adopting their methods is known to be successful.” 

     

    ANNOTATION:

    A standard textbook of education XUEJI was written during the ZHOU dynasty (1050 -256 BC), and it served as such until 1912. This book was adopted exclusively for teachers and was extraneous in the traditional Chinese medicine. It was especially frowned upon in the latter case, as traditional Chinese medicine had the rule MO (imitation), that the masters of healing arts kept their methods in secrecy and never exchanged their experiences.

    It is curious and remarkable that the ancient art of teaching XUEJI was adopted in classical medicine. Hippocrates taught their pupils the importance of proceeding step by step in the cure (SUN), the treatment without any delay (SHIH) and in the application of the cure to take preventive measures such as taking a proper diet, adequate exercise and getting enough rest (YUH).

    Our  21st century physicians, scientists, researchers and medical personnel worldwide put in the practice the gradual treatment (SUN), timing (SHIH) prevention (YUH).They implement imitation (MO), which means learning from others by collecting other people’s wisdom and adopting their methods. Thanks to the worldwide web the physicians are connected globally and permanently. In this way, they exchange their experiences online and update their medical knowledge. 

    Dr. med. André  Simon   © Copyright

     

    Übersetzung von Dr. Dietrich Weller

    Simon: Die Kunst des Lehrens

    Vor vielen, vielen Jahren hielt Meister Ximéng eine Vorlesung im Schatten eines alten Baumes. Er konzentrierte seinen Unterricht darauf, wie wichtig es ist, in Gleichklang mit der Natur zu leben. Deshalb sprach er sehr sanft darüber, wie Menschen diese Aufgabe erfüllen könnten.

    Danach fragte er seinen Schüler flüsternd: „Habt ihr irgendwelche Fragen?“

    Ein Schüler antwortete mit einer Frage: „Ehrenwerter, was macht deine Lehrmethode so außergewöhnlich?“

    Der Meister antwortete: „Meine Methode gründet sich auf die Regeln, die im XUEJI beschrieben sind. Die wichtigsten Regeln sind: schrittweise lehren, den richtigen Zeitpunkt erfassen, vorbeugen und nachmachen.

    Schrittweise lehren (SUN) bedeutet, den Unterschied zwischen den Schülern zu beachten. Das Ziel ist, sie auf unterschiedlichen Ebenen zu lehren und ihnen individuelle Schulung zu geben. Der Unterricht wird Schritt für Schritt erteilt und auf der Wissensebene des Schülers. Lernen kann nur wirkungsvoll sein, wenn die Schüler es erfassen können – mit ihren Fähigkeiten.

    Den richtigen Zeitpunkt erfassen (SHIH): Das bedeutet zum angemessenen Zeitpunkt zu lehren. Ohne den richtigen Zeitpunkt ist doppelt so viel Anstrengung erforderlich, um einen Erfolg zu erreichen. Wenn man den Zeitpunkt verpasst, wo der Schüler ein bestimmtes Alter erreicht hat, fängt er an, sich mit Alltagsaufgaben zu beschäftigen. Je mehr solche persönliche Beschäftigungen der Schüler hat, umso weniger Zeit hat er fürs Lernen.

    Vorsorge (YUH): Vorsorge trägt den Erfolg. Versagen geschieht durch ungenügende Vorsorge und Mangel an Vorbereitung. Es ist besser, Probleme abzuwehren statt hinterher nach Ursachen für sie zu suchen. Vorsorge und Vorbereitung führen zu genauer Nachfrage und Hausarbeit für die Schüler. Indem er Irrtümern vorbeugt, wird der Schüler auf jede mögliche Lebenslage vorbereitet. Wenn es Probleme gibt, ist es meist schon zu spät, irgendwelche grundsätzliche Veränderungen zu machen.

    Nachahmen (MO) bedeutet von anderen zu lernen. Das Leben ist zu kurz, um Fehler zu machen oder die besten Lösungen ganz allein zu finden. Wenn man nachahmt, was weise Leute erfolgreich gemacht haben, kann man die Chance verkleinern, Fehler oder einen Fehler zweimal zu machen. Immerhin hat jeder begrenzte Lernfähigkeiten. Die Weisheit anderer Menschen zusammenzutragen und ihre Methoden zu übernehmen ist bekanntermaßen erfolgreich.

    Anmerkung:

    Ein Standard-Lehrbuch der Erziehung XUEJI wurde während der Zhou-Dynastie (1050-256 vor Christus) geschrieben, und es diente als Lehrbuch bis 1912. Dieses Buch wurde ausschließlich für Lehrer angewendet und war unerheblich in der Traditionellen Chinesischen Medizin. Besonders in diesem Gebiet hat man es missbilligt, weil Traditionelle Chinesische Medizin die Regel des Nachahmens pflegte und die Meister der Heilkünste ihre Methoden geheim hielten und ihre Erfahrungen nie untereinander austauschten.

    Es ist seltsam und bemerkenswert, dass die alte Kunst des Lehrens XUEJI in der klassischen Medizin aufgenommen wurde. Hippokrates lehrte seinen Studenten, wie wichtig es ist, beim Heilen Schritt für Schritt vorzugehen (SUN), ohne Verzug zu behandeln(SHIH) und Vorsorgemaßnahmen wie passende Diät anzuwenden und angemessene Übungen und genügend Ruhepausen einzuhalten (YUH).

    Unsere Ärzte, Wissenschaftler, Forscher und medizinisches Personal des 21. Jahrhunderts führten die Praxis der abgestuften Behandlung (SUN), den richtigen Zeitpunkt (SHIH) und Vorsorge (YUH) ein. Sie verwirklichen die Nachahmung (MO), was bedeutet, von anderen zu lernen durch Sammlung der Weisheit anderer und Anwendung ihrer Methoden. Dank des weltweiten Netzes sind die Ärzte global und dauerhaft verbunden. Dadurch tauschen sie ihre Erfahrungen im Netz aus und frischen ihr medizinisches Wissen auf.

    © Dr. med. André Simon, copyright für die Übersetzung Dr. Dietrich Weller

     

    Nachtrag des Übersetzers:

    Dieser Aufsatz ist sehr interessant für mich. Er erinnert mich sehr an meinen Mathematiklehrer, Herrn Wolfgang Lechler, der einer der wenigen Lehrer in meinem Leben war, von denen ich wirklich etwas für die Kunst des Lebens gelernt habe.

    Einer seiner Lieblingssätze war: „Sie müssen die Aufgaben vor der Klassenarbeit, vor dem Test lösen. Wenn Sie erst in der Prüfung damit anfangen, über Lösungsmöglichkeiten nachzudenken, ist es schon zu spät, und Sie haben keine innere Ruhe dazu.“

    In der Woche vor dem schriftlichen Abitur sagte er: „Wenn Sie es bis jetzt nicht verstanden haben, lernen Sie es in dieser Woche auch nicht mehr. Deshalb machen wir jetzt eine Woche lang Mathematik anders.“ Und dann hielt er uns jeden Tag einen Vortrag über Leben und Werk eines anderen berühmten Mathematikers.

     

     

     

     

     

     

     

     

     

     

     

  • Wer das liest, von scharfen Strippern, Strings und Einsätzen im Beckenbereich, der denkt sicherlich an die Reeperbahn, St. Pauli und Rotlichtviertel. Und wer zur Kenntnis nimmt, dass scharfe Ringstripper aus Hygienegründen ausrangiert worden sind, der denkt an übertragbare Krankheiten, vielleicht an Tripper, Syphilis  oder noch Schlimmeres.

    Wir bewegen uns jedoch in ganz anderem Ambiente, gut ausgeleuchtet, Rot ist allerdings tatsächlich die dominierende Farbe.

    Wir blicken in ein eröffnetes arterielles Gefäß in der Leiste, umschlungen mit einem Bändchen, in dem ein Zylinder präpariert ist. Auf diesen wird nun ein Ringstripper aufgefädelt, der in der Beckenarterie günstigenfalls einen Gefäßverschluss ausschälen kann. Das gelingt nicht immer. Aber meistens. Manchmal, selten,  wird die Beckenarterie perforiert. Und weil das gefährlich ist, nannte man dieses Verfahren in den 80er Jahren „Hitchcock-Manöver“, als nämlich Hitchcock noch die bekannteste Krimiserie war und noch nicht „Großstadtrevier“ oder „Tatort“.

    Ein anderes Problem war, dass der Zylinder nicht immer dort durchtrennt werden konnte, wo man wollte, nämlich an der Abzweigung der inneren Beckenschlagader, sondern irgendwo abriss. Schlaue Leute armierten den Ringstripper deshalb mit einem Draht, der in einem Röhrchen verlief und das Ringmesser innen auskleidete. In korrekter Position konnte man dann am Draht, dem String,  ziehen und damit den Desobliterationszylinder durchschneiden. Das war der scharfe Ringstripper.

    Geniale Idee.

    Wenn man die Dinger nicht nach Gebrauch erstens wieder sauber machen musste und zweitens einen neuen Draht dort hineinpraktizieren musste. Weil das so schwierig war, wenn nicht gar unmöglich, wurde vor mehr als zehn Jahren deshalb der wiederholte Einsatz dieser Geräte verboten, und als Einmalinstrumente waren sie einfach zu teuer.

    Was passierte? Die Geräte landeten im Schrank.

    Mit der Etablierung der Ballondilatation und der Stents im Operationssaal als Hybridtechnik verlor der Ringstripper sowieso zunehmend an Bedeutung. Vergessen wurden sie nicht. Als wir nun aber unsere OP-Siebe durchgesehen haben, „reorganisiert“ heißt das im modernen Sprachgebrauch, wurden die Instrumente endgültig ausrangiert. Nicht ohne Wehmut.

    „Das waren noch Zeiten, als noch scharf strippt wurde“, flüsterte eine alternde Mitarbeiterin; nicht von der Reeperbahn, nein: aus Bremen.

    Copyright Prof. Dr. Heiner Wenk

  • Gemarterte Füße

    Unter dem Diktat der Schuhmode im Altertum

     

    Erinnern wir uns zunächst an die verschiedenen Fußtypen. Da gibt es den ägyptischen Fuß (Bild 1), bei dem die Zehen wie die Orgelpfeifen nebeneinander liegen.

    Wamser-Krasznai-Füße-Bild 1

                              

                               Bild 1. Figürliches Gefäß (Kreta?) um 600 v. Chr.

    Bonn, Akademisches Kunstmuseum. Photo: W. Wamser-Krasznai

     

    Beim griechischen Fuß dagegen ist die zweite Zehe am längsten (Bild 2).

    Wamser-Krasznai-Füße-Bild 2

     

                         Bild 2. Fuß des Kaisers Constantin, Anf. 4. Jh. n. Chr.

    Nachbildung Trier. Photo: W. Wamser-Krasznai

                          

    Sind alle Zehen nahezu gleich lang dargestellt, dann sprechen wir salopp von einem „Quadratfuß“ (Bild 3). In der Natur ist er nicht leicht zu aufzutreiben; doch bleiben wir hier bei der antiken Kunst.

    Wamser-Krasznai-Füße-Bild 3

     

                            Bild 3.  Dame d’Auxerre, Paris, ca. 640/630 v. Chr.

    Nach Martini 1990, 47 Abb. 13

    Sie – die antike Kunst nämlich – ist überraschend reich an Darstellungen von  Füßen, die wir heute als krankhaft verändert, als deformiert oder leicht beschönigend als „von der Norm abweichend“ bezeichnen würden. Jeder Orthopäde kennt das Bild der verdickten schmerzhaften Ferse, die nach einem schwedischen Kollegen Haglund-Ferse oder Haglund-Exostose heißt (Bild 4).

    Wamser-Krasznai-Füße-Bild 4

                                                       Bild 4. Haglundferse

    Nach Rössler – Rüther 2007, 331 f. Abb. 16.74 a

    Sie ist entweder die Folge einer Verknöcherungsstörung der Calcaneus-Apophyse im Wachstumsalter oder die einer überschießenden Verknöcherung am Ansatz der Achillessehne, die durch permanenten Druck der Fersenkappe bei einem Schuh von mangelhafter Passform entsteht. Da schon der bloße Anblick einer derartigen Ferse schmerzt, ist es verblüffend zu erfahren, dass ähnliche Höcker zu bestimmten Zeiten offenbar für besonders darstellenswert galten – etwa im Ägypten der Amarnazeit (Bild 5).

     Wamser-Krasznai-Füße-Bild 5                             

     

                                Bild 5. 14. Jh. v. Chr.Berlin, Neues Museum

    Photo: W. Wamser-Krasznai

    Auch im antiken Griechenland, das der Schönheit und dem Ebenmaß geradezu leidenschaftlich ergeben war, ist die Wiedergabe einer Exostose keine Seltenheit. So weihte man gegen 500 v. Chr. eine Kore, die Statue eines Mädchens, auf die Athener Akropolis, in der Absicht, der Göttin Athena, Schutzpatronin der Stadt, ein kostbares Geschenk zu machen. Die Vorwölbung oberhalb des Calcaneus, des Fersenbeins, ist nicht zu übersehen (Bild 6). Was kann den Bildhauer veranlasst haben, den hinteren Abschnitt eines Mädchenfußes mit einer derartigen Protuberanz auszustatten, um nicht zu sagen: zu verunstalten?

    Wamser-Krasznai-Füße-Bild 6                           

     

                       Bild 6.  Spätarchaische Kore, Athen, Akropolis Nr. 682

    Nach Richter 1968, 71 f. Abb. 364

    Die Vorwölbung erscheint uns als pathologisch, mindestens aber als unschön. Ihre Wiedergabe ist keine Ausnahme und beschränkt sich weder auf das weibliche Geschlecht, noch auf die Zeit der Archaik oder Frühklassik (Bild 7).

    Wamser-Krasznai-Füße-Bild 7

    Bild 7. Krieger vom Aphaia-Giebel West links, ca. 480/70 v. Chr.

    Glyptothek München. Photo: W. Wamser-Krasznai

    Sogar das Votiv-Bein auf einem Weihrelief an die Heilgötter Asklepios und Hygieia zeigt eine mäßige Verdickung am oberen Fersenrand (Bild 8).

      Wamser-Krasznai-Füße-Bild 8                                                                              

                                         

                             Bild 8. Weihrelief aus Melos, römische Kaiserzeit

    British Museum London. Photo: W. Wamser-Krasznai                              

                                        

    Was steckt hinter derartigen Äußerungen künstlerischer Gestaltung? Vermutlich war der Skulpteur durch ein lebendes Vorbild angeregt. Er mag es interessant, vielleicht nicht gerade „schön“, auf jeden Fall aber darstellenswert gefunden haben.

    Wodurch sind die Vorwölbungen verursacht?  Nun – sie entstanden und  entstehen auch heute noch durch den permanenten Druck eines Schuhwerks von mangelhafter Passform auf die empfindlichen Teile des Fußes. Damit ist nicht erklärt, weshalb der Höcker bei antiken Darstellungen zumeist etwas höher sitzt als die Fersenkappe eines heutigen Halbschuhs.

    Wie sieht das antike Schuhwerk aus, das einen Fuß zu quälen und krankhafte Reaktionen hervorzurufen vermag? Die Joch- und Netzwerksandalen des 6. und 5. Jhs. v. Chr. (Bild 9) eignen sich offensichtlich wenig dazu, den nötigen Druck zu erzeugen.

    Wamser-Krasznai-Füße-Bild 9

     

                      Bild 9.  Gefäß in Form eines Fußes mit Netzwerksandale

    Um 525-500 v. Chr. London, British Museum.
    Photo: W. Wamser-Krasznai

    Auch geschlossene Schuhe müssen nicht fußfeindlich sein, vorausgesetzt, sie bestehen aus einem schmiegsamen Material. Zwar ist die Ferse selbst (Bild 10) nicht zu sehen, doch lässt sich aus der Form des vorderen Schuhabschnitts auf einen weichen Stoff schließen. Ein Zusammenhang zwischen zeittypischem Schuhwerk und der Angabe eines Fersenhöckers am nackten Fuß ist hier nicht zu erkennen.

    Wamser-Krasznai-Füße-Bild 10

                                 

                           Bild 10. Füße der Nikandre, Athen, ca. 660 v. Chr.

    Nach Martini 1990, 92 Abb. 26

     Wenden wir uns noch einmal dem Fuß unserer Kore, und zwar dem vorderen Abschnitt, zu (Bild 11).

     Wamser-Krasznai-Füße-Bild 11                                                                                                      Bild 11. Kore Akropolis 682

    Nach Karakasi 2001, 172 Taf. 252 c

    Wir sehen, wie der Querriemen der zierlichen Sandale die kleine Zehe aus ihrer naturgewollten Stellung in die Adduktion drängt, d. h. an die vierte Zehe heranzieht. Das Martyrium hat begonnen. In allernächster Zeit wird ein schmerzhafter Kleinzehenballen entstehen, das Gegenstück zum Hallux valgus. Damit ist ein bedeutsames Stichwort gefallen.

    Sextus Pompeius Festus (2. Jh. n. Chr.) stellt hallux und hallestai= ἃλλεσθαι (hinaufspringen) sprachlich nebeneinander und beschreibt sie im Lateinischen als „pollex (pedis) scandens super proximum, dictus a saliendo“ – als großen Zeh, der über den nächsten steigt, weil er gleichsam auf diesen hinaufgesprungen scheint[1] (Bild 12).

    Wamser-Krasznai-Füße-Bild 12

                                                 Bild 12. Hallux valgus

    Nach Rössler – Rüther 2007, 331-333 Abb. 16.76 a

    Dass die große Zehe im Gegensatz zu den anderen nur aus zwei Phalangen besteht, war schon Galen[2] bekannt und wurde von ihm als eine der tektonischen Voraussetzungen für die Stabilität des medialen Längstragbogens gesehen[3].

    Die Entwicklung der geradeaus nach vorn gerichteten Großzehe zum Hallux valgus lässt sich an Bildwerken der Antike verfolgen. Beginnen wir mit den Jahren um 570 v. Chr., zunächst in Attika, in der Gegend von Athen. Trotz der hohen Sohle ist die Welt für den Fuß noch in Ordnung (Bild 13).

    Wamser-Krasznai-Füße-Bild 13

                          Bild 13. Detail der sog. Berliner Göttin, ca. 570 v. Chr.

    Photo: W. Wamser-Krasznai

    Wir bleiben ungefähr in dieser Zeit und bei demselben Sandalentypus, der von seiner Grundform her dem Fuß keine Gewalt antut, begeben uns aber nach Etrurien. Wie wir sehen, zieht der Sandalenriemen die große Zehe aus ihrer geraden Richtung nach außen gegen die 2. Zehe, nach lateral, wie wir sagen. Spreizfuß und Hallux valgus kündigen sich an (Bild 14). Bereits im Altertum müssen also negative Kräfte auf den Fuß eingewirkt haben, die stärker waren als dessen empfindlichste Teile.

    Wamser-Krasznai-Füße-Bild 14

     

    Bild 14. Detail einer Frauenstatuette aus Vulci/Etrurien, Anf. 6. Jh. v. Chr.

    Brit. Mus. London, nach Sprenger – Bartoloni 1977, 93 f. Abb. 46 b.

    Wir brauchen nicht weit zu suchen, um die Ursachen zu finden. Auch in der Antike gab es Zeiten, in denen es schick war, extrem spitze Schuhe zu tragen (Bild 15).

    Wamser-Krasznai-Füße-Bild 15

                            Bild 15. Kore Akropolis 683, spätarchaische Zeit

    Nach Richter 1968, 77 f. Abb. 384

    Die junge Frau ist mit einem vollkommen „symmetrischen“ Halbschuh bekleidet. Bei diesen hochgradig fußfeindlichen Konturen hilft es nicht viel, wenn wir annehmen, dass es sich um einen „griechischen Fuß“ handelt, dessen längste Zehe, die zweite, sich bis in die Schuhspitze hinein ausstrecken kann. Der Hallux, die Zehe Nr. 1, wird ja trotzdem rigoros nach lateral, nach außen, gedrängt. Das ist aber nicht alles. Auch die kleinen Zehen, die vierte und  fünfte, geraten unter Druck, und zwar nach medial, zur Mitte hin. Alles im Dienste der Schönheit! Vollends in der Spätantike scheint ein handfester Spreizfuß dem Schönheitsempfinden nicht widersprochen zu haben. Wie hätte sonst ein Elfenbeinschnitzer es wagen können, eine Göttin, noch dazu Hygieia, die Göttin der Gesundheit, mit einem so ausgeprägten Hallux valgus darzustellen (Bild 16)?

    Wamser-Krasznai-Füße-Bild 16

                   Bild 16. Hygieia mit Spreizfuß, Elfenbeindiptychon ca. 400 n. Chr.

    Nach Simon 1990, 25 Abb. 22

    Modische Narrheit war auch in der Antike nicht auf das weibliche Geschlecht  beschränkt. Das Schuhwerk des karischen Satrapen Maussolos von  Halikarnassos drängt die große Zehe ebenfalls in die Valgisierung, d. h. nach außen, den armen gequetschten kleinen Zehen entgegen (Bild 17).

    Wamser-Krasznai-Füße-Bild 17

                           Bild 17. rechter Fuß des Maussollos. Mitte 4. Jh. v. Chr.

    London, Brit. Mus. Photo: W. Wamser-Krasznai

    Was sagen die antiken Schriftsteller dazu? Von Plutarch ist die folgende Episode überliefert: Ein Römer, der von seinen Freunden getadelt wird, weil er seiner sittsamen, reichen und schönen Frau den Scheidebrief geschickt habe, streckt seinen Fuß vor und sagt: Auch dieser Schuh ist schön anzusehen und neu, aber niemand weiß, wo er mich drückt[4]. Pikanterweise sind es gerade die Füße des schönen Apollon vom Belvedere, die sich dazu eignen, einen solchen Text zu illustrieren (Bild 18). Die Art, wie der Sandalenrand die erste, zweite und fünfte Zehe beeinträchtigt und ihnen den notwendigen Spielraum nimmt, ist geradezu ein Musterbeispiel für das Martyrium des Fußes.

    Wamser-Krasznai-Füße-Bild 18

                             Bild 18. Linker Fuß des Apollon, 330/20 v. Chr.

    Nach Dohan Morrow 1985, 106 Abb. 96

    Aristophanes, der alte Spötter, legt einem Ehemann, der sich gern einmal ein Paar anständige Hörner aufsetzen lässt, die folgende Bitte in den Mund:

    „O Schuhmacher, meiner Frau quetscht der Schuh das kleine Fußzehchen zusammen, es ist ja so zart. Komm du zur Mittagszeit und weite ihn, auf dass er größer sei…“ (Lysistrate).

    Ein Exkurs ins Mittelalter zeigt, dass es dem vornehmen Ratsherren nicht genügte, Schuhe mit lang ausgezogenen Schnäbeln zu tragen, nein, er bindet sich noch ein Glöckchen an die Spitze, damit jedermann hören und sehen kann, wie er um der Mode willen einen Narren aus sich macht (Bild 19).

    Wamser-Krasznai-Füße-Bild 19

     

                             Bild 19: Gotisches Schuhwerk im Miniaturformat,

    Meister Richard Fenchel, Butzbach. Photo: W. Wamser-Krasznai

    Auch missgebildete Götterfüße lässt die antike Bilderwelt ausnahmsweise zu. Beim Klumpfuß handelt es sich bekanntlich um ein angeborenes Leiden. Hephaistos, der Gott der Schmiede, sagt von sich, dass er „als Krüppel zur Welt“ kam[5], was ihn aber nicht hindert, Karriere als Kunsthandwerker zu machen und mit seinen Erzeugnissen weithin berühmt zu werden. Auf Bitten der Göttin Thetis schmiedet er die Waffen für ihren Sohn Achilleus (Bild 20), allerdings ohne diesen damit vor dem tödlichen Pfeilschuss in die Ferse, seine einzige verwundbare Stelle, retten zu können.

    Wamser-Krasznai-Füße-Bild 20

                    Bild 20: Hephaistos / Sethlans zwischen Thetis und Achill

    Etruskischer Karneolskarabäus, 530/520 v. Chr. nach  LIMC IV, 1988

                    

    „Dem Musiker Dorion, der einen Klumpfuß hatte, kam“, wie Athenaios berichtet[6], „bei einem Symposion der Schuh des behinderten Fußes abhanden“  – man streifte ja bekanntlich die Schuhe ab, bevor man sich zu Tische legte – Dorion also sagte, „Ich will dem Dieb nichts Schlimmeres wünschen, als dass ihm der Schuh passt“.

    Unsere Betrachtungen zur Diktatur der Schuhmode im Altertum blieben unvollständig ohne einen Blick auf ihre Auswüchse. Wer Schillers Balladen noch kennt, dem fallen zum hochsohligen Schuh des Schauspielers „Die Kraniche des Ibykus“ ein. Dort heißt es:

    So schreiten keine ird’schen Weiber,
    die zeugete kein sterblich Haus.
    Es steigt das Riesenmaß der Leiber
    Hoch über Menschliches hinaus.

    Wamser-KRasznai-Füße-Bild 21

                                         Bild 21: Römisches Mosaik, 3. Jh. n. Chr.

    Altes Museum Berlin. Photo: W. Wamser-Krasznai

    Häufig wird der Kothurn vorschnell mit dem stelzenartigen Schuh der römischen Kaiserzeit assoziiert. Doch seine Grundform war flach. Er hatte einen weichen, weiten Schaft und eine schnabelartige Spitze[7]. Ein solches Paar war symmetrisch geschnitten, sodass beide Schuhe jeweils an beide Füße passten[8]. Sie waren, um es mit Galen zu sagen, über einen Leisten geschlagen[9]. Die Erhöhung der Sohlen beginnt erst im Hellenismus und steigert sich weiter in der römischen Kaiserzeit (Bild 21).

    Neben den hohen Kothurnen gab es die sog. Tyrrhenischen Sandalen[10]. Sie hatten vergoldete Riemen und Sohlen von extremer Höhe.                                                 

    Mit der Aufforderung: Folge mir! versprechen die Abdrücke genagelter Schuhsohlen allerlei Liebesfreuden (Bild 22).

    Wamser-Krasznai-Füße-Bild 23                                           

     

                                  Bild 22: Akolouthi! Folge mir! 2./3. Jh. n. Chr.

    Nach Lau 1967, 93 Abb. 19

    „Die Frauen treiben es so weit, dass sie mittels der Schuhnägel ihre Schuhsohlen…mit Liebesgrüßen…dekorieren…und dem Boden…wie mit einem Siegelstempel ihre Courtisanengedanken aufprägen“, klagt Clemens von Alexandria[11] .

    Wann und wo begegnen uns antike Fuß-Darstellungen, die dem natürlichen Ebenmaß Rechnung tragen und frei sind von Anzeichen des Martyriums?

    Ein erfreuliches Beispiel geben manche Statuen von Kleinkindern (Bild 23).

    Wamser-Krasznai-Füße-Bild 24

     

                            Bild 23. Der kindliche Herakles als Schlangentöter

    Rom, Kapitolinische Museen. Photo: W. Wamser-Krasznai

    Beim Erwachsenen ist das ebenso selten wie in unserer heutigen, ach so zivilisierten Welt. Wir begeben uns auf die Insel Samos und gehen weit zurück, in die Mitte des 6. Jhs. v. Chr. (Bild 24). Da schuf der Künstler die Bronzestatuette eines zierlichen Mädchens und umkleidete den „ägyptischen Fuß“  mit einem geschlossenen Schuh. Dabei ließ er den Zehen ihre naturgegebene Freiheit, ohne sie gewaltsam in eine andere Form zu pressen.

    Wamser-Krasznai-Bild 24-Korenstatuette aus dem HEraion

     

    Bild 24. Korenstatuette aus dem Heraion, um 550 v. Chr.

    Bronze. Berlin, Altes Museum. Photo: W. Wamser-Krasznai

    Nur – entspricht dies dem heutigen Schönheitsempfinden? Wohl kaum!

    Eher könnten wir uns mit der Form des Sandalengefäßes (Bild 1) befreunden. Auch da liegen die Zehen, wir sagten es schon, bequem nebeneinander „wie die Orgelpfeifen“.

    Es ist davon auszugehen, dass die antiken Künstler erstens ihre Anregungen aus dem Leben nahmen, und dass sie zweitens die kleineren und größeren Abweichungen von der physiologischen Norm in ihr und ihrer Zeitgenossen klassisch-hellenistisches Schönheitsideal aufnahmen. Weihgaben an die Gottheit oder gar Statuen von Göttern als unschön, hässlich, krankhaft darzustellen wäre verwerflich. Der Künstler hätte riskiert, nicht nur den Unmut der Gottheit hervorzurufen, sondern auch seine Auftraggeber zu verlieren. Die Wiedergabe verformter Füße wie im Fall von Hephaistos (Bild 20) stellt eine Ausnahme dar, die einen besonderen Gott auf besondere Art kennzeichnet[12]. So bleibt es nach allem, was wir gesehen haben, auch in der Antike bei der betrüblichen Tatsache: Wer schön sein will, muss leiden[13]. Um derart unangenehmen Wahrheiten zu entgehen, haben wir die Möglichkeit, das Symposion zu verlassen, nachdem wir uns die Schuhe haben bringen zu lassen[14], oder eleganter…

    wir schnallen uns Flügel an die Füße und gehen in die Luft! (Bild 25)

    Wamser-KRasznai-Füße-Bild 25

    Bild 25. Hermes mit geflügelten Schuhen, 500-490 v. Chr.

    Nach Zanker 1965, 31 Taf. 5 a

     

    Abgekürzt zitierte Literatur und Abbildungsnachweis:

    Bieber 1941: M. Bieber, Ne supra crepidam sutor iudicaret, AJA 45, 1941, 62f.

    Dohan Morrow 1985: K. Dohan Morrow, Greek Footwear and the Dating of Sculpture (Madison 1985)Bild 18

    Karakasi 2001: K. Karakasi, Archaische Koren (München 2001)  Bild 11

    Lau 1967: O. Lau, Schuster und Schusterhandwerk in der griechisch-römischen Literatur und Kunst (Bonn 1967)  Bild 22

    LIMC  IV 1988: LIMC IV (1988) 657 Nr. 18 a Taf. 405 s. v. Sethlans (I. Krauskopf)  Bild 20

    Martini 1990: W. Martini, Die archaische Plastik der Griechen (Darmstadt 1990) Bild 3. 10

    Michler 1986: M. Michler, Zum Hallux valgus in der Antike, in: W. Blauth (Hrsg.), Hallux valgus (Berlin – Heidelberg 1986) 1-18

    Richter 1968: G. M. A. Richter, Korai (London 1968)  Bild 6. 15

    Rössler – Rüther 2007: H. Rössler – W. Rüther, Orthopädie und Unfallchirurgie (München 2007) 331-333 Abb. 16.74 a und 16.76 a   Bild 4. 12

    Simon 1972: E. Simon, Das antike Theater (Heidelberg 1972)

    Simon 1990: E. Simon, Die Götter der Römer (München 1990)  Bild 16

    Sprenger – Bartoloni 1977: M. Sprenger – G. Bartoloni, Die Etrusker. Kunst und Geschichte (München 1977)  Bild 14

    Wamser-Krasznai 2005: W. Wamser-Krasznai, Wer schön sein will, muss leiden…oder Glanz und Elend des menschlichen Fußes, Orthoprof. 4/2005, 5-9

    Wamser-Krasznai 2013: W. Wamser-Krasznai, Hephaistos – ein hinkender Künstler und Gott, in: dies., Auf schmalem Pfad (Budapest 2013) 72-82.

    Zanker 1965: P. Zanker, Wandel der Hermesgestalt in der attischen Vasenmalerei (Bonn 1965)   Bild 25

     

    [1] Michler 1986, 2.

    [2] Griechischer Arzt, geb. ca. 130 n. Chr. in Pergamon, gest. nach 204 n. Chr. in Rom.

    [3] Gal., De usu partium lib. III, c.8; Michler 1986, 3 Anm. 11.

    [4] Plut. mor. conjung. praec. 141, 22.

    [5] Homer, Od. 8, 310-311.

    [6] Athen. Gelehrtenmahl 8, 338 a.

    [7] Simon 1972, 23 f.

    [8] Lau 1967, 128 f.

    [9] Gal., De sanitate tuenda lib. V, 11.

    [10] Dohan Morrow 1985, 183 mit Anm. 77. Eindrucksvolle Abbildung z. B. in: Pergamon. Panorama der antiken Metropole (Berlin 2011) 491 Nr. 4.3.

    [11] Paedagogus XI, 11.

    [12]Dazu: Wamser-Krasznai 2013, 72-82.

    [13]Wamser-Krasznai 2005.

    [14] Vorführungen durch Behinderte wurden von gewissen Zuschauern abgelehnt. Sie ließen sich „die Schuhe bringen“, um das Symposion zu verlassen, Pliniusbrief  9, 17.

  • Nach dem Originaltext folgt die deutsche Übersetzung von Dietrich Weller

     

    Gratitude

    Simon - Gratitude

    XU WEI ( 1521-1593)

     Once upon a time, in the small village of Zhèng in the province of Szechwan there lived a peasant called NONG.

    In this huge territory grew bamboo forests. A bamboo plant is not
    just a simple plant; it plays a major role in the life of the people of Szechwan. They live in bamboo houses, they are clothed in gowns made from bamboo, and for food, besides rice, they eat tender bamboo shoots. Bamboo grows very fast and needs no care whatsoever. When the villagers chop the bamboo down, it grows back again, but quicker than any other plant. Even the strong winds cannot destroy it. Tempests may bring any big tree down, but the bamboos only bend and bow. When the wind passes the bamboos just return upright once again.

    The following description is written by NONG’s grandson who is the sole person in the whole village able to write simple Chinese characters.

    “All villagers are grateful to the bamboo plants. However; my grandfather

    NONG is exceptional. He listens to the whispers of the rustling bamboo leaves, and talks to them. Through the passage of time, my grandfather decided to do something special for the bamboo plants. His thoughts were “What would make the bamboo plants happy?”

    For the answer to this thorny question, he decided to consult an old master, who leads a secluded life on mountain TIEN. After twenty eight days of vigorous walking, my grandfather arrived at the hut of the old master, He accepted a cup of tea which the master offered him on his arrival, and asked him

    Master Xi, the bamboos overwhelm us with all their gifts The bamboo just gives and gives just like a mother who gives everything to her children, knowing that her children are not in position to give her anything in return, except their love and smiles.

    How could I, a humble peasant, express my gratitude and donate something to the bamboo apart my smile?

    Master   replied: “The quality of life begins with bamboo and ends with bamboo. The Study of the meaning in life begins with familiarity and ends with mastery. A meaningful life is defined in relationship with bamboo. Bamboo is like a human being, standing poised between heaven and earth. However, it grows fast, high, towards the light and heaven. The growing bamboo looks towards the light and deduces its desire to unify with heaven.

    It should fly, and describe to all other plants what heaven is.

    没有比鸟飞得更远的动物(No other creature can fly as far as birds).

    To make a bamboo happy, let it fly high in the sky. To do this, then create flat kites of bamboo and paper. Construct these kites in the form of a bird and fit them with whistles to make musical sounds while flying. Then fly these kites high over the bamboo forests.“

    My grandfather returned home, and after many trials, he created a kite of bamboo and paper, apt to fly. Afterwards, he invited all the villagers to make identical kites. Countless bamboo kites, helped by a strong breeze, flew in the sky over the bamboo forests .Their tails equipped with whistles made sounds of bird’s songs, and the kites greeted heaven from all the bamboo forests.

    Before the astonished eyes of the crowd of kite constructors, the bamboos of the forests bowed, as a sign of gratitude, towards my grandfather, who adored the bamboos.

    Dr. med. André Simon   ©Copyright

     

    Dankbarkeit

    übersetzt von Dietrich Weller

    Vor langer Zeit lebte in dem kleinen Dorf Zheng in der Provinz Szechwan ein Bauer namens Nong.

    In diesem weiten Gebiet wuchsen Bambuswälder. Bambus ist nicht nur einfach eine Pflanze; er spielt im Leben der Menschen in Szechuan eine Hauptrolle. Sie leben in Bambushäusern, sie sind mit Umhängen aus Bambus bekleidet, und als Nahrung essen sie neben Reis zarte Bambussprossen. Bambus wächst sehr schnell und erfordert überhaupt keine Pflege. Wenn die Dorfbewohner den Bambus kurz schneiden, wächst er wieder nach und zwar schneller als jede andere Pflanze. Sogar die starken Winde können ihn nicht zerstören. Stürme können jeden großen Baum umwehen, aber die Bambusstängel biegen und beugen sich nur. Wenn der Wind vorbei ist, richten sich die Stängel einfach wieder senkrecht auf.

     

    Die folgende Beschreibung wurde von Nongs Enkel verfasst, der die einzige Person im ganzen Dorf ist, die einfache chinesischer Schriftzeichen schreiben kann.

    „Alle Dorfbewohner sind den Bambuspflanzen dankbar. Mein Großvater Nong jedoch ist außergewöhnlich. Er hört dem Flüstern der raschelnden Bambusblätter zu und redet mit ihnen. Im Laufe der Zeit entschloss sich mein Großvater, für die Bambuspflanzen etwas Besonderes zu tun. Er überlegte sich: `Was würde die Bambuspflanzen glücklich machen?`

    Um diese knifflige Frage zu beantworten, beschloss er, einen alten Meister zu befragen, der ein abgeschiedenes Leben auf dem Berg Tien führt. Nach achtundzwanzig Tagen Gewaltmarsch kam mein Großvater an der Hütte des alten Meisters an. Er nahm eine Tasse Tee an, die der Meister ihm bei seiner Ankunft anbot, und fragte ihn:

    `Meister Xi, der Bambus überwältigt uns mit all seinen Gaben. Der Bambus schenkt und schenkt genau wie eine Mutter ihren Kindern alles gibt in dem Wissen, dass ihre Kinder nicht in der Lage sind, ihr irgendetwas zurückzugeben außer ihrer Liebe und ihrem Lächeln. Wie könnte ich, ein demütiger Bauer, meine Dankbarkeit ausdrücken und dem Bambus etwas schenken außer meinem Lächeln?`

    Der Meister antwortete: `Die Lebensqualität beginnt und endet mit dem Bambus. Das Erfahren des Sinns im Leben beginnt mit Vertrautheit und endet mit Meisterschaft. Ein sinnvolles Leben wird bestimmt durch die Beziehung zum Bambus. Der Bambus ist wie ein menschliches Wesen, das selbstbewusst zwischen Himmel und Erde steht. Aber er wächst schnell hoch zum Licht und Himmel. Der wachsende Bambus schaut zum Licht und bezieht von dort sein Streben, sich mit dem Himmel zu vereinen.

    Er sollte fliegen und allen anderen Pflanzen beschreiben, was Himmel bedeutet.

    没有比鸟飞得更远的动物

    (Kein anderes Lebewesen kann so weit fliegen wie Vögel.)

    Um einen Bambus glücklich zu machen, lass ihn hoch in den Himmel fliegen. Um das zu erreichen, entwickle flache Drachen aus Bambus und Papier. Konstruiere diese Drachen in Vogelform und statte sie mit Pfeifen aus, damit sie im Flug musikalische Geräusche machen. Dann lass diese Drachen hoch über den Bambuswäldern fliegen.`

    Mein Großvater kehrte nach Hause zurück und schuf nach vielen Versuchen einen Drachen aus Bambus und Papier, der fähig war zu fliegen. Danach lud er alle Dorfbewohner ein, identische Drachen zu bauen. Zahllose Bambusdrachen flogen mit Hilfe einer starken Brise über die Bambuswälder. Ihre Schwänze, die mit Pfeifen ausgestattet waren, machten Geräusche wie Vogellieder, und die Drachen grüßten den Himmel von allen Bambuswäldern.

    Vor den erstaunten Augen der Drachenbauer verbeugten sich die Bambusstängel der Wälder als Zeichen der Dankbarkeit vor meinem Großvater, der die Bambuspflanzten anbetete.“