Schlagwort: Literatur

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    Reading is one of the greatest happiness I have won in my life.  The reading and writing are almost the same creation. The reader builds a kind of a cathedral which the author knocks down in words. With the imagination and knowledge, the reader gives the life to the book. The author wants to take a part of the fame that does belong partially to the reader.

    With the readers experience, intelligence and sensitivity the book lives on again. I praise the reader not for flattering the one who will open my book, but I also praise myself, when I open the books of other writers. Because of this circumstance, my book begins with the words: “Dear Reader”, as an acknowledgment to the readers. I am deeply convinced that there are readers who are in some way in their imagination better than the writers and who can change the insipid books into the lovelier one.

    The Austrian writer Robert Musil (1880-1942) wrote in his essay: “It is not true, that there is a time without masterpieces and no colossal works of art are produced. Nonetheless there is a time, that there are no readers who are able to comprehend those work of arts”.

    Dr. med. André Simon © Copyright

    Übersetzung von Dietrich Weller

    The Reader – Der Leser

    Lesen ist eines der großartigsten Glückserlebnisse, die ich in meinem Leben gewonnen habe. Lesen und Schreiben sind fast der gleiche schöpferische Vorgang. Der Leser erbaut eine Art von Kathedrale, die der Autor mit Worten niederreißt. Mit Vorstellungskraft und Wissen haucht der Leser dem Buch Leben ein. Der Autor will einen Teil des Ruhmes einnehmen, der teilweise dem Leser gehört.

    Mit der Erfahrung, Intelligenz und Einfühlungskraft  des Lesers lebt das Buch weiter. Ich lobe den Leser nicht dafür, dass er dem schmeichelt, der mein Buch aufschlägt, sondern ich lobe auch mich selbst, wenn ich das Buch anderer Autoren aufschlage.

    Aus diesem Grund beginnt mein Buch mit den Worten: „Lieber Leser“ als eine Anerkennung an den Leser. Ich bin fest überzeugt, dass es Leser gibt, die auf eine Art mit ihrer Vorstellungskraft besser sind als die Schriftsteller und fade  Bücher in reizvolle verwandeln können.

    Der österreichische Schriftsteller Robert Musil (1880-1942) schrieb in einem Essay: „Es ist nicht wahr, dass das es eine Zeit gibt ohne Meisterstücke in der keine kolossale Kunstwerke erschaffen werden. Dennoch gibt es eine Zeit, in der es keine Leser gibt, die fähig sind, diese Kunstwerke zu verstehen.“

  • Dichtende Bäume

    (2.11.2020)

    Betrachte mich als einen Baum
    und meine Gedichte als seine Früchte
    oder als seinen Schutz und Schatten
    für Suchende und Wanderer
    Die Wurzeln dieses Baumes
    verweilen auch im Iran
    mit seiner uralten reichhaltigen Erde
    Dynastien und Herrscher kamen und gingen
    wie Wolken und Stürme
    die Wiege barmherziger Betrachtungen
    blieb und bleibt

    ֎֎֎    

  • Tagebuch

    Was mir mein Freund, das Papierwesen, riet

    Auf dem Weg von der S-Bahn zu meiner Praxis komme ich an einem Straßenantiquariat vorbei. Jedes Buch, egal wie alt, wie neu, wie groß, wie klein, wie dick, wie dünn, wie gut erhalten oder weniger gut, kostet 1 Euro. Eine unendliche Versuchung für mich, aber zudem noch eine unendlich viel größere Bereicherung und … ich habe immer Geschenke parat. Heute fiel mein Blick auf den Anfang eines Titels, doch bevor ich ihn rausnehmen konnte, oder es, das Buch, sah ich ein anderes schönes Bild: die Sixtinische Kapelle. Ich nahm es, fing an zu lesen im Klappentext. Natürlich machte es mich neugierig, ich bin verführbar. Ich wollte aber auch das andere Buch anschauen. Da hörte ich wieder, ohne zu hören, es war mehr ein Gefühl, das ich grade hörte, dieses unangenehme Kreischen. Ich wusste, das ist jetzt ein Elementarwesen, ein Gnom oder ähnliches. Nein, es war mein Papierwesen. Es sagte: „Kauf beide, nimm beide mit!“ Ich zögerte einen Moment, guckte mir inzwischen das andere an, es war ein Thriller, ich wollte es zurücklegen. Es sagte: „Lies weiter.“ Ich las weiter. Da geht es darum: eine junge Schülerin, die Wahnideen hat und mit Wahnideen kämpft und in denen lebt. Also sozusagen Fachliteratur. Und dann wusste ich nicht, nehm ich nun den Roman über die Sixtinische Madonna und irgendeine obskure Geliebte eines Papstes? Da sagte das Papierwesen wieder: „Nimm es mit, leg es hin, dann lesen wir es. Und wenn wir es gelesen haben, sagen wir dir, welche Seiten wichtig sind. Und die liest du dann und dann weißt du, ob du es lesen musst, willst oder sollst. Du musst nur ab und zu das Buch in die Hand nehmen und darüber meditieren, dann können wir dir leichter sagen die Seiten, die du lesen musst. Das vergisst du immer. Und das ist dann so mühsam für uns, bis du endlich kapierst, dass du diese Seite aufschlagen sollst.“ Aha, ich hatte viel gelernt. Ich fing an, darüber nachzudenken. Da fiel mir ein: Ich stehe mit meinem Hund und zwei Gepäckstücken mitten auf der Straße, ich muss jetzt die 2 Euro einwerfen und gehen. Und als ich ging, sagte ich in Gedanken zu dem lieben Freund, ob er mir nicht gleich sagen könne, was am Buch für mich gut sei. „Nein, wir müssen es gelesen haben.“ „Okay, versteh ich. Ja aber dann könnt ihr mir doch sagen…“ „Nein. Wir lieben andere Bücher als du.“ Aha. Und dann hörte ich eine gesetztere, ruhigere Stimme, während das jetzige wie ein Kind klang, könnte das sein Vater gewesen sein? Diese Stimme sagte: „Wir brauchen andere Bücher für unsere Entwicklung als du.“ Ist das nicht schön gesagt? Das werde ich jetzt immer sagen, wenn sich so ein Oberlehrer-Besserwisser empört, dass – weiß nicht – Schwiegertochter, Schwiegermutter oder wer auch immer, natürlich ein weibliches Wesen, solche „Schundliteratur“ liest, dann werde ich lächelnd zu ihm sagen: „Es liest halt jeder Mensch das, was er gerade für seine Entwicklung braucht.“

    Dankeschön, ihr Papierwesen.

    07.07.2020

  • The art of composing and telling stories is the oldest art.

    What is the story? Aristotle’s definition: “The story takes with its fists from the magma of life, from the hot clay, from the living body its „pound of flesh“, and makes it something that we can understand as a whole, complete”.

    Nobody can live without the stories, because without it ,we cannot arrange our life. We are always in the core of a story, we have to determine the beginning, the middle and the end; we have to include the content; so that we can later view it as our life. Of course, life weighs on stories, not only from the material of what the life experienced, but also from, what the German philosopher Ernst Bloch (1885-1977) calls -waking dreams and hopes.

    Of course, not every story is a story. The story becomes a story only with a skillful, artistic narration. Content is important, and the beauty is in the narration. Regarding life’ stories is interesting the insight of American polymath Benjamin Franklin (1706-1790) “If you would not be forgotten, as soon as you are dead and rotten, either write things worth reading, or do things worth the writing”

    My respect for the story is even greater, because I have determined that every literary work at its core has a story. Even the poetry! Not only literature, but all other arts as well. The only art, that is above the story, is the music.  The music is certainly above all other kind of arts.

    Dr. med. André Simon © Copyright

    Übersetzung von Dietrich Weller

    Simon – The Story – Die Geschichte

    Die Art und Weise, wie Geschichten zusammengesetzt und erzählt werden, ist die älteste Kunst.

    Was ist die Geschichte? Die Definition des Aristoteles sagt: „Die Geschichte nimmt mit ihren Fäusten vom glühenden Lebensfluss, von der heißen Tonerde, vom lebenden Körper ihr „Pfund Fleisch“ und macht daraus etwas, das wir als Ganzes, als vollständig verstehen.“

    Niemand kann ohne die Geschichten leben, weil wir ohne sie unser Leben nicht gestalten können. Wir sind immer im Kern einer Geschichte, wir müssen den Anfang bestimmen, die Mitte und das Ende; wir müssen den Inhalt einfügen, so dass wir es später als unser Leben betrachten können. Natürlich lastet das Leben auf Geschichten, nicht nur wegen des Gehalts, den das Leben erfahren hat, sondern auch von dem, was der deutsche Philosoph Ernst Bloch (1885-1977) als Wachträume und Hoffnungen bezeichnet hat.

    Natürlich ist nicht jede Geschichte eine Geschichte. Die Geschichte wird zur Geschichte nur mit einer geschickten, kunstvollen Erzählweise. Der Gehalt ist wichtig, und die Schönheit liegt in der Erzählweise. Wenn man Lebensgeschichten betrachtet, ist die Ansicht des amerikanischen Universalgelehrten Benjamin Franklin (1706-1790) aufschlussreich: „Wenn du nicht vergessen werden willst, sobald du tot und verwest bist, schreib entweder Dinge, die lesenswert sind, oder mach etwas, über das es sich lohnt zu schreiben.“

    Meine Hochachtung für die Geschichte ist noch größer, weil ich beschlossen habe, dass jede literarische Arbeit in ihrem Kern eine Geschichte enthält. Sogar die Dichtkunst! Nicht nur die Literatur, sondern alle anderen Künste ebenso! Die einzige Kunst, die über der Geschichte steht, ist die Musik. Die Musik ist sicherlich allen anderen Arten von Kunst überlegen.

  • Herbert und Hölderlin – ein deutsches Requiem

    Prolog

    Dem Herbert und dem Hölderlin
    Das Lebenslicht einst beiden schien.
    Hölderlin, dem Geisttitan
    Herbert auch, dem armen Mann,
    Der sich aus der Armut raffte
    Zum Marine Maat es schaffte
    Dann bescheiden, pünktlich, klug
    Nach dem Krieg die Post austrug.
    Er wurde neunzig Jahre alt
    Als er aus dem Zeitenspalt
    Einsam in das Jenseits fuhr.
    Ein Grabstein ziert die Lebensspur.
    Er bleibt verschollen, unbekannt
    Auch sein Verdienst für Vaterland
    Anstand, Ehre, Einsatz, Pflicht
    Kümmern seine Nachwelt nicht.
    Hölderlin, in frischen  Jahren
    Ist bekannt und Kunst erfahren.
    Goethe, Schiller, Hegel, Fichte
    Zünden Friedrich Kerzenlichte.
    Die führen ihn dem Pindar gleich
    In ein neues Lyrikreich.
    Göttliches wird neu beschrieben
    Die Gunst des Höheren ist geblieben.
    Wohlstand, Größeres erreichen
    Wollte jeder von den Beiden.
    Herbert als Kind, Friedrich als Greis,
    Erfahren Jammer, Qual und Leiden.
    Hier ist zu berichten
    von vergangenem Sein.
    Berühmt und begraben
    Bei Brot, Wasser, Wein.

    Das Treffen

    Die Nacht war dunkel.
    Der Tag ward nicht hell.
    Das Leben zerfloss.
    Und Leben fließt schnell.
    Das Licht erlosch.
    Kein Traum schäumt den Schlaf.
    Als Hölderlin Herbert
    Herbert Hölderlin traf.

    Der Gesang

    Grausam und hungrig
    weht Herberts Jugendkleid.
    Wohl spielt behütet
    Hölderlins Kinderzeit.

    Die Jugend

    Linkshändig der Herbert
    Milch-intolerant
    Für Bildung zu arm
    Zum Knechtsein verbannt.
    Vaterlos Friedrich
    Im Pfarrhaus ernährt
    Von Sinclair zum Lehrer
    Von Hegel bekehrt.

    Der Gesang

    Ungerecht mächtig
    Dröhnt jedes Menschen Horn
    Wild peitschen Wellen
    Lust und Liebe nach vorn.

    Das Leben

    Herbert hofft Zucker
    Statt Salz, trocken Brot
    Findet im Krieg
    Auf See fast den Tod.
    Friedrich sucht Stimmen
    Im Wahnsinn der Welt.
    Fügt sorgsam zusammen
    Was wächst und erhält.

    Der Gesang

    Es lebt nur Heute
    Nur Heute ist wahr!
    Herbert vergangen.
    Wie Friedrichs Altar.

    Der Abschied

    Herbert war Kämpfen
    Frei von Armut im Krieg
    Führerlos und treu
    Kein Gott, keinen Sieg.
    Friedrich war Pfarrhaus
    Göttliche Liebe, Titan
    Denken, Sehnsuchtstriebe
    Turmzimmer in Wahn.

    Das Gebet

    Beide sprechen leise
    Das Gebet ihrer Zeit.
    Herbert bescheiden
    Friedrich Opferbereit.

    K.K. 8.3.2020

    Hölderlin digital

    Die Götter sind gegangen
    Nach Recht und Gesetz.
    Gesichter gefangen
    Im digitalen Netz.
    Es spinnen die Dämonen
    Youtube Freudenreich.
    Lassen Geister wohnen
    Unsterblich streiten gleich
    Glaube und Wissen, die beiden
    Halunken dieser Welt
    Singen von Freiheit und Leiden
    Dass ziellos zusammenfällt
    Was im Heute gegeben
    Morgen noch sicher scheint
    Zügelfrei das Leben
    Um Tod und Liebe weint.
    Die Götter sind verloren
    Digital verirrt.
    Glaube ist erfroren
    Wissen triumphiert.
    Nur in engen Räumen
    Virtuell in Bits
    Lässt Glaube sich erträumen
    Der Geister Farbensitz.

    K.K. 9.3.2020

    Hölderlins Gebet digital

    Möge der Himmel geben
    was die Erde versagt.
    Sei die Freiheit mein Leben
    digital geparkt.
    Sei Wissen im Netz geborgen
    Behütet den Göttern gleich.
    Bewirtet mit Früchten des Morgen
    im virtuellen Tafelreich.
    Möge die Freiheit siegen.
    Bleibe der Tod an der Macht.
    Lasse ihn Zäune biegen
    Bevor das Chaos erwacht
    Und selbst die Ziele schmiedet,
    Die den Göttern sind.
    Sei Menschenwahn befriedet
    Vom Netzwelt Götterkind.

    K.K. 9.3.2020

  • Lesen

    (9.12.2019)

     

    Lesen bildet blühende Landschaften

    wenn die Bereitschaft zum Staunen

    die Sehnsucht nach Begreifen

    der Mut zum Verwerfen

    die Ausdauer zum Gestalten

    und die Liebe für das Leben

    warmherzig vereint fließen

    ֎֎֎

  • Grand Tour 1958

    Beim Wieder-Lesen von D. Richters „Goethe in Neapel“[1] bin ich diesmal an dem Begriff „Grand Tour“ hängengeblieben. Damit ist die Kavaliersreise gemeint. die Aristokraten-Sprösslinge, später auch Söhne von wohlhabenden Bürgern, im 18. und 19. Jahrhundert nach Italien, und dort vor allem nach Venedig, Rom und Neapel unternahmen. In Begleitung der hoffnungsvollen jungen Männer waren oft Kunstgelehrte und Literaten, meist Dienerschaft und immer reichlich Gepäck, denn die Reise ging über viele Wochen und Monate. Nicht alle hatten einen so generösen fürstlichen Mäzen wie Goethe, den der Herzog von Sachsen – Weimar – Eisenach bei vollen Bezügen für weit länger als ein Jahr beurlaubte. Man bewegte sich mit der Postkutsche gemächlich vorwärts.

    Als mir mein Vater zum Abitur 1958 eine Italienreise schenkte, nahmen wir natürlich den Zug, und die erste Station war nicht Venedig sondern Florenz. Außerdem mussten die Osterferien, an die Papa als aktiver „Oberstudienrat“  noch gebunden war, ausreichen. Dennoch lässt sich das Unternehmen viele Jahre vor Beginn des Massentourismus, exakt geplant und wohl vorbereitet durch Lektüre und Kartenmaterial, als unvergessliches Erlebnis durchaus mit einer „Grand Tour“ vergleichen.

    Wir brachen gegen Abend aus unserer kleinen Stadt auf und hatten dann  stundenlang Aufenthalt in Frankfurt, bis unser „D-Zug“ abfahren sollte. Es gab ein Kino, und ich erinnere mich, angesteckt von meinem ‚geologischen‘ Vater, an einen faszinierenden Schwarz-Weiß-Film über das Nördlinger Ries. Dorthin machten wir später einen Ausflug, mit Photoapparat und Geologen-Hammer in der Tasche.

    Ende der 50-er Jahre verfügten die „Schnellzüge“ noch über richtige Speisewagen mit eigener Küche. Ein Kellner ging herum und legte einem Bratkartoffeln nach, toll! Auf dem Brenner standen wir mehr als eine Stunde lang im verschlossenen Zug, Höhepunkt der Südtirol-Krise. Kurz zuvor war ein halbes Postamt mit Bediensteten und Bombenpaket in die Luft geflogen. Polizei und Zöllner durchsuchten alles gründlich, sogar die Seifenschachteln mussten geöffnet werden.

    Gegen 17.00 Uhr waren wir in Florenz und pilgerten zu Fuß, die Koffer in der Hand, auf unsere Pension zu. Einmal fragte mein Vater in seinem besten Italienisch ein altes Mütterchen nach dem Weg. Es antwortete: „I bin do a frimd, aber i hob a Kartn in dera Taschn“, das half uns doch! In der Pension gab es „Table d‘ Hȏte, in Anwesenheit der Padrona di Casa. Man wartete mit dem Essen, bis sie „Buon Appetito“ gewünscht hatte. Das Wasser und der ausgezeichnete Wein waren inclusive. Abends wurden die Schuhe vor die Tür gestellt, und morgens holte man sie geputzt herein.

    Am meisten beeindruckte mich der Ausflug nach Fiesole. Die Uffizien haben mich gelangweilt. Palazzo und Ponte Vecchio waren und sind natürlich wunderschön.

    In Rom hatten wir die Empfehlung der Florentiner Pension an ein vergleichbares Etablissement. Es lag im Vatikan-Viertel. Am Gründonnerstag fand eine allgemeine Papst-Audienz in der Peterskirche statt. Pius der XII, sehr gebrechlich – er starb noch in demselben Jahr – wurde hoch an uns vorüber getragen. Zum ersten Mal erlebte ich in einer Kirche Applaus und lautstarke Begeisterung, Evviva!!! Man reichte ihm weiße Mützen hinauf, die er kurz aufsetzte und nach dieser rituellen Geste zurückgab. An Ostern hielt er seine Rede in fünf Sprachen; sein Deutsch war besser als sein Französisch. In der Pension gab es Schokoladeneier und Biskuit.

    Ich sah Tivoli, die Glanzlichter des Nationalmuseums mit dem  Diskuswerfer, damals noch in den Thermen des Diokletian, das Forum und den Palatin, die Caracalla-Thermen und die Michelangelo-Skulpturen, für die ich allerdings rennen musste, weil unser Zug nach Neapel nicht warten würde und die Heiligen ja erst am Ostersonntag wieder enthüllt wurden.

    Neapel und sterben? Na ja. Es war dort etwa 10 Grad kälter als erwartet. Wieder Fußmärsche zu unserem neuen Hotel, das einsam und allein auf einer öden Fläche lag. In jedem Zimmer gab es zwei Heizrippen, die sich sogar mehrmals am Tag erwärmten. Das war dringend nötig! Ich lehnte mich mit dem Rücken daran, wenn ich Postkarten schrieb.

    Papa lief zur Hochform auf: die Flegräischen Felder, Pozzuoli, der Bradyseismos, Monte Nuovo, Vesuv; aber natürlich auch Paestum, Pompeji, Herkulaneum, Capri. Wir wurden überall angestarrt, wohlwollend eigentlich, padre e figlia! Nicht alltäglich. Meine Schuhe – weiße vorn gerundete Ballerina-Slippers – erregten Aufsehen und Heiterkeit. Die Neapolitanerin trug schwarze spitze, hochhackige Schuhe. Was für ein Kontrast! In Rock und Pumps balancierte sie im Damensitz als Sozia auf der Vespa ihres Kavaliers. Helm? Das war noch sehr fern.

    Gefährdet fühlten wir uns nie. Das kam später. 1991 wurden meine Freundin und ich von Halbwüchsigen mit Steinen beworfen, als wir uns zu weit auf ihr Territorium vorgewagt hatten. 1998 traute ich mich in Neapel nur auf die Straße, wenn ich wie eine Athena Promachos gerüstet war, in der Hand nicht einmal eine Plastiktüte.

    Bei unserer Grand Tour hatte auch Ischia auf dem Programm gestanden, war aber buchstäblich ins Wasser gefallen. Ich bin seither noch nicht dort gewesen, habe es aber für den kommenden März gebucht, bei Leben und Gesundheit und wenn die Welt noch steht.

    Ich freu‘ mich ja so!

    [1] Berlin 22013, 9.

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    Im Gegensatz zur Liegestellung in mehr oder weniger horizontaler Körperhaltung, ggf. mit leicht unterstütztem Kopf, meint das „Lagern“ eine Position mit halb aufgerichtetem Oberkörper und erhobenem Kopf, englisch „reclining“, also zurückgelehnt lagern. Dabei stützt sich der Protagonist auf den linken Arm und streckt die Beine, vom Betrachter aus gesehen, nach links. Die Beinhaltung selbst variiert, was zur Unterscheidung in ein „östliches“ und ein „westliches“ Liegeschema führte[1]. Im letzteren Fall ist das linke Bein ausgestreckt, das rechte mit gebeugtem Knie aufgestellt (Abb. 1). Diesem Lagerungsschema folgen die meisten Vertreter einer besonders großen westgriechischen Gruppe, der Tarentiner Symposiasten[2].

     

    Abb. 1: Terrakottafigur eines gelagerten jungen Mannes, Tarent.  Gegen 500 v. Chr. Nach Langlotz 1963, 61 Taf. 23[3].

    Beim „östlichen Schema“ liegen die Beine Seite auf Seite übereinander. Die Stellung der Knie variiert von einer ausgeprägten Beugung (Abb. 2) über Zwischenstufen[4] bis zur unphysiologischen Überstreckung (Abb. 4).

     

    Abb. 2: Bronze. Samos, um 550 v. Chr.
    Nach: Die Antikensammlung Berlin (Mainz 1992) 85 Kat. Nr. 132.

    Gelagerte Frauen sind, wie Fehr konstatiert, in der Plastik selten[5]; auch bestand nicht immer Einigkeit unter den Autoren hinsichtlich der Geschlechtsbezeichnung. So nennt Marangou ein figürliches Gefäß in Form einer gelagerten Person „reclining woman“[6]. Die Gestalt, deren Kopfbedeckung zu einem Ausguss umgestaltet ist, lagert im östlichen Schema, mit leicht gebeugten Knien, ein Rhyton in der linken Hand. Auf die Brust fallen lange Strähnen, eine geschlechtsneutrale Haartracht der Früharchaik (Abb. 1. 2). Weibliche Körperformen sind nicht zu erkennen und das Rhyton wäre ein ungewöhnliches Attribut in der Hand einer Frau. Ähnliches gilt für eine aus Kamiros/Rhodos stammende ausgestreckte Gefäßfigur in London, die in einem früheren Katalog für weiblich gehalten worden war[7]. A. Plassart deutet die Figur einer östlich gelagerten Person mit niederem Polos und Bruststrähnen aus dem Votivdepot des Heiligtums der Hera auf Delos als die Göttin selbst, die hier unter dem Aspekt einer Schirmerin und Repräsentantin der Ehe erscheint[8]. Brüste hat sie nicht, dafür aber einen runden Bauch, ähnlich einer Gelagerten-Figur aus Samos[9]. Dazu hält sie in der linken Hand ein Rhyton. Wie der Autor selbst bemerkt, sind männliche Statuetten als Weihgaben an die Göttin nichts Ungewöhnliches[10].

    S. Besques behilft sich im Zweifelsfall mit einem unbestimmten „personnage“, wie bei einer im östlichen Schema gelagerten Figur mit unspezifischem Oberkörper, langen Locken und einem Rhyton in der Hand[11]. Auch Stillwell bezeichnet Matrizen aus dem Töpferviertel von Korinth vorsichtig als „reclining figure“[12]. Vor allem Haartracht, Polos und Schleier des Exemplars 57 suggerieren Weiblichkeit, während die Formen des nackten Oberkörpers keine klare Bestimmung erlauben[13]. Dass der Polos nicht immer und überall auf Weiblichkeit deutet, zeigt eine ebenfalls aus dem Töpferviertel von Korinth stammende Terrakotta-Gruppe. Der nach östlichem Schema gelagerte Mann trägt einen Polos mit herabfallenden Tänien[14]. Am Fußende der Kline thront eine mit Peplos und Mantel bekleidete Frau. Die Terrakotten aus diesem Viertel datieren in das 4. und 3. Jh. v. Chr.

    Statuetten in Form gelagerter Frauen werden bereits in archaischer und frühklassischer Zeit gefertigt.

    Im „Östlichen Liegeschema“:

                                     Abb. 3: Kerameikos/Athen, ca. 480/70                         Nach: Vierneisel-Schlörb 1997, 36 Nr. 117 Taf. 24

     

    1. Aus einem Skelettgrab vom Kerameikos/Athen stammt der Torso einer nackten auf ihre linke Seite „gelagerten Hetäre“ (Abb. 3). Am jünglingshaften Oberkörper deuten sich kleine Brüste an. Die Beine liegen mit gestreckten Knien locker auf einander. Scharf abgewinkelt zeigen die Arme nach oben; dabei ist der linke Ellenbogen auf eine Art Kissen gestützt, der rechte berührt die Hüfte. Die Hände sind verloren. Stilistisch entspricht die Statuette einer durch den Grabkontext bestätigten Entstehungszeit um 480/70 v. Chr.[15]
    2. Die Figur einer gelagerten jungen Frau (Abb. 4) im Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe[16] soll aus Thessalien stammen, dürfte jedoch, nach Landschafts-Stil und Tonfarbe, aus einer attischen Werkstatt hervorgegangen sein. Auch hier ergänzen Frauenbrüste einen schmalhüftigen männlichen Körper. Ein bis auf das angedeutete Schultermäntelchens nacktes Mädchen ist entstanden. Sowohl die Haartracht als auch die Proportionen des Kopfes weisen in die Zeit des Strengen Stils (gegen die Mitte des 5. Jhs. v. Chr.)

    Abb. 4: Gelagertes Mädchen, Terrakotta, 2. Hälfte d. 5. Jhs. v. Chr.                                  Nach Frey-Asche 1997, 38 f. Abb. 21

    3. Eine Parallele aus Orvieto in Paris unterscheidet sich vom letzteren nur durch eine Haube und die abweichende Gestaltung des Stirnhaars, das sich aus Registern von Buckellocken zusammensetzt[17]. Hinweise auf ein Gewand finden sich nicht.

    4. Ebenfalls nur mit dem Schultermäntelchen bekleidet ist eine Frauenfigur in Thessaloniki, die den Typus etwas modifiziert. Die Knie sind leicht gebeugt. Der Kopf neigt sich so weit zur linken Seite, dass eine fehlerhafte Zusammensetzung der Fragmente zu vermuten ist[18].

    5. Bei einer „im Kunsthandel photographierten“ Gelagerten[19] tritt die Diskrepanz zwischen dem plastisch modellierten athletischen Männerkörper und den weiblichen Brüsten besonders stark hervor. Die Beine sind ausgestreckt, mit leicht gebeugten Knien. Vor dem niederen Diadem rollt sich das Stirnhaar zu Buckellocken.

    6. Auf separat gearbeiteter Kline ruht eine voll bekleidete Frau, deren Körper freihändig modelliert ist, während der nach links gewandte Kopf aus einer Matrize abgeformt wurde. Außer einem Chiton trägt sie einen Mantel, der sich an der linken Flanke andeutet und von dem eine Stoffbahn über den Kopf drapiert ist. Die Knie sind leicht gebeugt. Unter dem Schleier treten Buckellocken und ein niederes Diadem hervor. Der Statuetten-Kopf reiht sich in eine große Gruppe thronender und stehender weiblicher Gewandfiguren ein[20], deren Ursprünge vermutlich in Attika liegen. Nach Müller weise die Tatsache, dass ein um etwa 500 v. Chr. datierbarer Kopf mit einem „freihändig und sehr flüchtig“ modellierten Körper verbunden wurde, auf eine böotisch-provinzielle Werkstatt hin[21].

    Im „Westlichen Liegeschema“:

    7. Diese oft beschriebene und abgebildete Statuette (Abb. 5) zeigt einen athletisch gebildeten Jünglingskörper mit weiblichen Merkmalen[22]:

     

    Abb. 5: ca. 490 v. Chr. Berlin, Altes Museum, Inv. 8256

    Aufnahme der Verfasserin[23].

    Am Original sind Spuren eines rot gemalten, an den Seiten herabfallenden Schultermäntelchens zu erkennen[24]. Das in Register aus Buckellocken differenzierte Stirnhaar tritt als dicker Wulst unter dem mäßig hohen Diadem hervor. Die Statuette soll aus Megara kommen, ist jedoch unzweifelhaft in einer attischen Werkstatt im Umkreis der Athener Akropolis[25] entstanden.

    8. Eine vermutlich in Großgriechenland konzipierte bronzene Gefäßrandfigur[26] stellt eine junge gelagerte Frau in vollständiger Kleidung dar. Sie trägt einen durchsichtigen Chiton mit Überschlag und einen faltigen Mantel, der die linke Schulter bedeckt und sich, wie die Rückansicht zeigt, um ihre Beine schlingt. Die Krotalen (Kastagnetten) in den Händen kennzeichnen sie als „ausruhende Tänzerin“[27]. Der leicht gesenkte Kopf wendet sich nach rechts. Das lange Haar ist über der Stirn und im Nacken eingerollt, ein während der Zeit der Frühklassik ein überwiegend an männlichen Gestalten dargestellter Frisurentypus[28]. Auch die Form des Kopfes und das Haltungsmotiv des Oberkörpers weisen in die Zeit zwischen 480 und 460 v. Chr. (Abb. 6).  

     

    Abb. 6: Nach Jantzen, 1937,  4. 18 f. Nr. 26 Abb. 8.9 Taf. 2

    9. Bleiben wir noch bei den bronzenen Gerätefiguren, begeben uns aber nach Etrurien. Vollständig verhüllt, einschließlich des Mundes und der Hände, ist die Statuette einer gelagerten Frau in Hannover wiedergegeben[29].

    Abb. 7: Hannover,  Kestner-Museum

    Nach Gercke 1996, 199 Abb. 253

    Das rechte Bein ist aufgestellt, das linke in liegender Position gegeben. Beide Knie sind gebeugt. Vermutlich entstand die Figur am Übergang vom 5. zum 4. Jh. v. Chr.

    10.  Ebenfalls in Hannover befindet sich ein bronzenes Geräteteil, das ein Mädchen auf dem Rücken eines Widders darstellt[30]. Die nach westlichem Schema Gelagerte hat den linken Arm auf den Kopf des Tieres gelegt. Dieses ‚kniet‘ auf drei gebeugten Beinen und streckt das rechte Hinterbein weit zurück, als ob der Widder dem Mädchen das Lagern auf seinem Rücken hätte bequemer machen wollen. Über Schoß und Beine ist ein Mantel gebreitet. Der unbedeckte Oberkörper zeigt weibliche Merkmale (5./4. Jh. v. Chr.).  

    11. Die Statuette einer jungen Frau in München[31] steht motivisch den Figuren bärtiger Symposiasten aus dem Kabirenheiligtum bei Theben nahe[32]. Wie ihre männlichen Parallelen ist sie nach westlichem Schema gelagert. In der linken Hand hält sie eine Lyra, in der rechten ein männerspezifisches Salbgefäß, den Aryballos. Der Oberkörper ist nackt, „die Brüste sind“, als der Ton noch feucht „und leicht zu bearbeiten war, dem männlichen Körper auf modelliert worden“[33]. Gewelltes Haar, ein Merkmal aus der ersten Hälfte des 5. Jhs. v. Chr., ist nicht auf weibliche Exemplare beschränkt[34]. In ihrer detaillierten Ausführung übertrifft die profilierte Kline diejenigen der Symposiasten aus dem Kabirenheiligtum. Trotz der motivischen Ähnlichkeit können die drei Stücke kaum aus derselben Matrize hervorgegangen sein, selbst wenn man ihre Bearbeitung nach dem Herausnehmen aus der Form, in „lederhartem“ Zustand, einkalkuliert. Allein die Drehung der Frau aus der Frontalebene heraus spricht gegen die Abformung aus ein und derselben Form. Die Koroplasten hatten vermutlich Skizzenbücher, nach denen sie sich richten konnten, wenn sie sich nicht nur auf ihren eigenen Gestaltungswillen verlassen wollten.

    12. Eine jugendliche Gelagerte aus Apulien ist mit der Bezeichnung „Personnage…allongé à gauche“ nicht auf ihr Geschlecht hin festgelegt[35]. Der Kopf mit Kurzhaarfrisur wurde hinzugefügt. Die Kleidung, Chiton und Mantel, sowie die Körperformen sind die einer Frau. Anders als bei den Abb. 3 und 5 können die Brüste nicht einfach nachträglich appliziert worden sein. Die Statuette soll Ende des 1. Jhs. v. Chr. entstanden sein.

     

    Kleiner Exkurs zu Deutungs-Fragen:

    Wie wir bestätigen können ist die Zahl der Statuetten in Form gelagerter Frauen klein; sie muss auch in der Antike überschaubar gewesen sein[36]. Offenbar war der Bedarf gering. Zudem konnte man einen männlichen Körper mit geringer Mühe in einen weiblichen umbilden (Abb. 4 und 5). So konnten Aufträge zur Anfertigung einer Gelagerten von den Koroplasten „just in time“ ausgeführt werden.

    Im Allgemeinen interpretierte man die Figuren weiblicher Gelagerter  als Hetären. Eine Darstellung wohlanständiger bürgerlicher Frauen mit entblößtem Körper ist im griechischen Kulturkreis nicht denkbar. Das gilt sogar für Göttinnen, wenigstens in archaischer und frühklassischer Zeit. Ungeachtet der weitgehenden Nacktheit hält E. Rohde die Gelagerte Berlin, Inv. TC 8256 (Abb. 6) für eine Göttin. Sie begründet das mit dem Diadem, das dem Kopfschmuck thronender und stehender weiblicher Terrakotta-Figuren von der Athener Akropolis vollkommen gleicht. Einige dieser Statuetten tragen auf der Brust eine Aegis und belegen so ihre besondere Nähe zur Stadtgöttin Athena[37].

    Eine andere Deutung, nämlich als Brautvotive oder Beigaben in Gräber unverehelichter Mädchen schlägt A. Schwarzmaier vor, wobei sie ebenfalls von der Statuette Berlin 8256 (Abb. 6) ausgeht. „Stephané und Schleier passen zu einer Braut besser als zu einer Hetäre.“ Dem wäre leichter zu folgen als der kulturanthropologischen These[38], nach der die Weihung einer weiblichen Figur „in aufreizender Haltung“ als Ersatz für die Ehe- und Mutterschaftsfreuden, die einem Mädchen während seiner allzu kurzen Lebenszeit entgangenen seien, zu gelten hätten.

    Im Laufe der Jahre und mit wachsender Entfernung von den griechischen Kernlanden hat anscheinend die Bereitschaft, gelagerte Frauen mit Göttinnen zu assoziieren, ein wenig zugenommen.

    12. Bei den Terrakotten von Morgantina/Sizilien führt ein kleiner Schritt von einer stehenden Kore mit Polos und Schleier, Fackel und Ferkel zu einer Gelagerten, die ebenfalls mit Polos und Schleier geschmückt ist und als „reclining Persephone“ bezeichnet wird.

    Wie in Korinth ist auch in Westgriechenland und Sizilien das Tragen eines Polos nicht auf weibliche Figuren beschränkt. In Tarent zum Beispiel dient dieses Attribut auch zur Bekrönung unzweifelhaft männlicher Symposiasten[39]. Möglicherweise gilt das ebenso für Morgantina, wo manche/r Gelagerte auf Grund der unklaren Oberkörper-Verhältnisse für beide Geschlechter in Anspruch genommen werden kann[40].

    13. Kekulé beschrieb gelagerte Frauen mit üppigen weiblichen Merkmalen aus Akrai, Centuripe und Syrakus[41]. Eine von ihnen, auf deren Schulter ein kleiner geflügelter Eros hockt, ist sicher als Aphrodite anzusprechen. Wegen ihrer reizenden Formen gäbe man diesen Namen gern noch einer zweiten Figur aus demselben Kontext. Sie trägt einen Polos und lüftet kokett den Schleier. Eine dritte hält in der linken Hand ein Ei oder eine Frucht[42].

    14. Das Fragment einer Artemis mit Hirschkuh kann in diesem Zusammenhang nur unter Vorbehalt genannt werden, denn der untere Teil der Gruppe fehlt und das Haltungsmotiv der Göttin ist unklar. Die vorhandenen Beispiele einer Artemis auf dem Rücken von Hirschkühen reichen vom Ritt im Damensitz bis zum entspannten Lagern[43].

    15. In dem Fall eines Terrakotta- Fragments in Amsterdam geht R. A. Lunsingh Scheurleer von einer auf der Kline gelagerten Artemis aus. Bogen, Jagdkleidung und die Kopfbedeckung, eine Löwenfellkappe, definieren sie als Italische Artemis[44]. Dass die Göttin als Lagernde gedacht ist, geht aus dem angedeuteten Schwung ihres Körpers hervor; worauf sie sich aber stützt, bleibt völlig unklar[45].

    16. Mit einem Figurengefäß in Form einer nach westlicher Manier gelagerten hässlichen Alten befinden wir uns bereits im fortgeschrittenen Hellenismus[46]. Vor der Vettel, die ein Trinkgefäß an den Mund setzt, steht eine Lagynos. Für Nachschub ist also gesorgt.

    Weitere Überlegungen zur Deutung:

    Bei der Kat.-Nr. 9 handelt es sich offenbar um Helle, die Schwester des Phrixos, deren tödlicher Sturz in die Meerenge der Dardanellen den zweiten Namen gab: Hellespont. Hier entspricht die gelagerte Frauenfigur also einer Heroine.

    Wenn wir nun die „ausruhende Tänzerin“ (unsere Kat.-Nr. 8, Abb. 6) als Werktätige im ältesten Gewerbe der Welt betrachten, müssen wir ihr innerhalb der Berufsgruppe wenigstens eine gewisse Spezialisierung zubilligen.

    Die in unserer Kat.-Nr. 10 besprochene bronzene Gerätefigur einer gelagerten Frau zeichnet sich durch eine Ganzkörperverhüllung einschließlich der Hände und des Mundes aus. Nur die Augen und die Stirnpartie sind unbedeckt (Abb. 7). Im Katalog firmiert sie ohne Weiteres als Bankett-Teilnehmerin[47]. Das verwundert schon deshalb, als ihr die eingewickelten Hände eine Teilhabe an Speis und Trank verwehren. Die Ärmste müsste sich denn füttern lassen. Den ggf. mythologischen Hintergrund kennen wir nicht. Haben die patriarchalisch-griechischen Gepflogenheiten im 4. Jh. v. Chr. die ‚freieren‘ etruskischen Sitten bereits so weit beeinflusst, dass eine Frau, wenn ihr schon die Teilnahme am Symposion erlaubt wird, wenigstens kein Vergnügen dabei haben soll? Oder – falls es sich um eine Hetäre handelt – lag vielleicht ein besonderer Reiz in einer subtotalen Verhüllung?

    Die jugendliche Gelagerte aus Apulien (Kat.-Nr. 11) wurde von Besques in die Nähe der Jünglinge Louvre D/E 3604 und 3605 gerückt, doch die Vergleichbarkeit beschränkt sich auf die Mantel-Drapierung über der linken Schulter[48]. Das Mädchen, das weder einer Hetäre noch einer Göttin zu entsprechen scheint, war vielleicht eine Grabbeigabe oder das Weihgeschenk einer Adorantin.

    Die bauchige Weinflasche vom Gefäß in Form einer gelagerten Alten (Kat. Nr. 16) ist eng mit den in Alexandria zu Ehren des Dionysos gestifteten Lagynophorien, dem Flaschenfest, verbunden[49]. Man denkt an die Statue der Trunkenen Alten, die in römischen Kopien des 1. und 2. Jhs. n. Chr. überliefert ist und bald als heruntergekommene Hetäre, bald als ehemalige dionysische  Amme oder Priesterin gedeutet wird[50].

    Ein Kapitel für sich bilden die in Gruppen mit Männern oder zusammen mit  Geschlechtsgenossinnen gelagerten Frauen.

    1.Eine Terrakotta-Gruppe in München setzt sich aus einem zum Symposion gelagerten Paar und einem kleinen am Ende der Kline stehenden Mundschenk zusammen[51]. Der Mann ist mit einem Wulstkranz, die Frau mit einer kunstvoll drapierten Haube geschmückt. Sie halten Trinkschalen in den Händen (nur beim Mann erhalten). Beide sind mit nacktem Oberkörper wiedergegeben. Obwohl kein Zweifel an der Profession der Gefährtin[52] besteht, belegt der gemeinsame Mantel, der über Schoß und Beine gebreitet ist und zwischen den Schultern sichtbar wird, eine über das Geschäftliche hinaus gehende Harmonie des jungen Paares. Die Gruppe entstand in Athen, etwa in der 1. Hälfte des 4. Jhs. v. Chr.

    2.Das Schulterbild auf einer Hydria des Malers Phintias gilt als Darstellung zechender Hetären. Die mit entblößtem Oberkörper gelagerten Frauen geben sich dem Kottabos-Spiel hin[53] (Abb. 8). Dabei gilt es, den letzten Tropfen, die Neige, so aus dem Trinkgefäß zu schleudern, dass eine im labilen Gleichgewicht auf einer Stange balancierende Metallscheibe getroffen wird und scheppernd herunterfällt – ein beliebtes Amüsement während des Symposions.

     

    bb. 8: Attisch, ca. 525-510 v. Chr. München

    Nach Reinsberg, 1989, 113 Abb. 61

    3.Im Gegensatz zu den griechischen Kernlanden, wo die Anwesenheit der legitimen Gattin bei einem Symposion unvorstellbar ist, nimmt in Etrurien die bürgerliche Ehefrau ganz selbstverständlich in festlicher Kleidung am Gelage teil (Abb. 9).

    Abb. 9: Tomba dei Leopardi, Tarquinia, ca. 480 v. Chr.

    Nach Ducati[54] 1941, 8 Taf. 15 a.

    4.Die Frauen auf einer im 6. Jh. v. Chr. für Etrurien hergestellten sog. pontischen Amphora sind vollständig, einschließlich ihrer Kopfbedeckung, dem Tutulus, in große Mäntel gehüllt[55]. Abweichend vom üblichen Schema lagern sie auf dem Rücken. Von ihren Klinen, die mit dicken gemusterten Polstern bedeckt sind, hängen Stoffbahnen über das Fußende herab. Davor stehen kleinere Klinen mit Stoffen, die in Quasten enden. Weitere Textilien mit gemusterten Borten stapeln sich auf einem schmalen hohen Beistelltisch zwischen den Klinen. An der Wand hängen Schnabelschuhe. Das Ambiente wirkt eher häuslich als symposial. Mythologische Szenen wurden ebenfalls diskutiert[56].

    5.Hetäre oder bürgerliche, zum Symposion gelagerte Frau? Eine der spätarchaischen Terrakotta-Reliefplatten aus Velletri zeigt eine Gelage-Szene mit einer nach westlichem Schema gelagerten Frau[57]. An ihrem nackten Oberkörper deuten sich Brüste an. Den rechten Oberarm schmückt ein Reif. Schoß und Beine sind von einem Gewand bedeckt, das dieselbe hellere Farbe aufweist wie der Tutulus, während Körper und Gesicht in dunkelbraunem Ton erscheinen. Die Frau wendet den Kopf dem neben ihr auf der Kline lagernden Mann zu, der ihr grüßend oder gestikulierend den rechten Arm entgegenstreckt. In seiner linken Hand hält er anscheinend eine Schreibtafel.

    Auch in Etrurien werden Hetären an Symposien teilgenommen haben; doch nach der Art wie dieses Paar miteinander kommuniziert, fragt man sich, ob hier nicht ein gebildeter Mann eine ebenbürtige Partnerin ins Gespräch zieht?

    6.Angesichts der gelagerten Paare auf den berühmten Sarkophagen aus Caere/Cerveteri stellen sich keine derartigen Fragen (Abb. 10).

     

    Abb. 10: Ehepaar- Sarkophag aus Cerveteri, Rom, Villa Giulia

    Etwa 530/520 v. Chr. Nach Sprenger – Bartoloni, 116 Abb. 114

    Der bärtige Mann wendet sich seiner Frau zu und legt ihr den Arm um die Schultern. Sie trägt ein langes Gewand, Schnabelschuhe und den Tutulus.

    Ein zweiter „Ehepaarsarkophag“ gleicher Qualität aus derselben Zeit befindet sich im Louvre in Paris[58].

    Eine Quintessenz:

    Pauschale Benennungen, seien es Hetäre, Göttin, Heroine, Braut o. a., werden den gelagerten Frauen offenbar so wenig gerecht, dass es sich lohnt, jede einzelne Vertreterin dieser inhomogenen Gruppe für sich zu betrachten und sie im Hinblick auf ihre Deutung näher zu überprüfen.

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    [1] Fehr 1971, 120. 123.

    [2] Wamser-Krasznai 2013, 24 Anm. 100.

    [3] Wamser-Krasznai 2013, 137. 219. 246  Abb. 1. 84; Bencze 2010, 25 f. Abb. 4; Iacobone 1988, 54 Taf. 42 b; Neutsch 1961, 156 Taf. 66, 2 u. v. a.

    [4] Mollard-Besques 1954, 47 Nr. B 293 f. Taf. 32.

    [5] Ders.1971, 124; ebenso Stillwell 1952, 104 Anm. 3.

    [6] Marangou 1985, 124 Abb. 181.

    [7] Maximova 1927, 136 f. Abb. 28; anders Higgins 1954, 54 f. Nr. 81 Taf. 16.

    [8] „Es gab ein Bett der Hera im Prodromos des Heraion von Argos. Paus. II, 17, 3“ Plessart 1928, Délos 11, 158 f.  Abb. 115.

    [9] Sinn 1977, 38 Nr. 63 Taf. 22.

    [10] Gefäßfigur eines knienden Mannes mit langen Bruststrähnen; weiblich Fragment einer stehenden Terrakottafigur mit Angabe der weiblichen Geschlechtsmerkmale, Plessart 1928, Délos 11, 158 f. Abb. 111. 113.

    [11] Aus Elaious, dem thrakischen Chersonesos an den Dardanellen, Mollard-Besques 1954, 47 B 293. 294 Taf. 32.

    [12] Stillwell 1948, 105 Nr. 56-59 Taf. 38 f.

    [13] Ähnlich Stillwell 1952, 110 Nr. 26 Taf. 22.

    [14] Stillwell 1952, 111 Nr. 30 Taf. 20.

    [15] Schwarzmaier 2015, 311 f. Abb. 2; Vierneisel-Schlörb 1997, 36 Nr. 117 Taf. 24, 1.2.

    [16] Frey-Asche 1997, 38 f. Abb. 21; von Mercklin, AA 1928, Sp. 373 f. Nr. 70 Abb. 88.

    [17] Besques 1994, 28 Abb. 42; Charbonneaux 1936, 12. 23.  Nr. 24 Taf. 22; Mollard-Besques 1954, 83, C 7 Taf. 56.

    [18] Sindos, Katalogos tis ektesis, Archaiologiko Mouseio Thessalonikis (Athena 1985) 35 Nr. 41.

    [19] Bulle 31922, 102 Abb. 73 Taf. 146; jetzt in Boston, Frey-Asche 1997, 39.

    [20] Graen – Recke 2010, 45 f. Abb. 11; Higgins 1954, 175 f. Nr. 655-660 Taf. 85 f.; Mollard-Besques 1954, 4 Nr. B 7 Taf. 3. böotisch z. b. ebenda 15 Nr. B 87 Taf. 11; Sinn 1977, 32 Nr. 40 Taf. 14; Wamser-Krasznai 02.10.2017, Thronende Frauen, T I-4, homepage Antikensammlung Uni Gießen, Terrakotten.

    [21] Müller 1925, 151 Nr. 110 Abb. 47.

    [22] Köster 1926,  55 f. Taf.  28; Nicholls 1982, 103 N 1, 1 Abb. 25a. fermer ebenda Exemplar Akropolis N 1, 204 Taf. 25 b; Rohde 1968,  39 Taf. 13; Schwarzmaier 2015, 306 Abb. 1..

    [23] Bildbearbeitung H. Zühlsdorf, Gießen.

    [24] Furtwängler 1892, 108 Abb. 27; Winter 1, 1903, 191, 4.

    [25] Anm. 10 und 12; ferner Knoblauch 1937, 182 Nr. 353 (ohne Abb.); Nicholls 1982, 89-122 Abb. 23-29;  Schneider-Lenyel 1936, 20 Abb. 38, Megara, „liegende Göttin“; Prins de Jong 1944, 38 Abb. 35.

    [26] Jantzen 1937,  4. 18 f. Nr. 26 Abb. 8. 9 Taf. 2; Küthmann AA 1928, 690 Abb. 12; Stillwell 1952, 104 Anm. 3; Stutzinger – Wamers 2012, 91 f. Abb. 88.

    [27] Jantzen 1937, 19.

    [28] Bronzestatuette des blitzschwingenden Zeus aus Dodona, Bruns 1947, 36 f. Abb. 24; Bronzefigur des Bogen schießenden Apollon, Bari; Aktaion von einer Metope des Tempels E in Selinunt; Jüngling von Agrigent, letztere Langlotz 1963, 73 Taf. 73. S. 69 f. Taf. 54 f. S.75 Taf. 82 f. S. 82 Taf. 102.

    [29] Gercke 1996, 198 f. Abb. 253.

    [30] Gercke 1996, 199 Abb. 254.

    [31] Hamdorf 2014, 154 D 9.

    [32] Besques 1994, 82 Abb. 67; Schmaltz 1974, 95. 171 Nr. 245 Taf. 20; Sieveking 1937, 89-94 Taf. 22.1.

    [33] Sieveking 1937, 91.

    [34] Besques 1994, 53 Abb. 23; Hamdorf 2014, 151 f. D 2. D 4; Poulsen 1937, 49 Abb. 27. S. 53 Abb. 31. S. 59 Abb. 38; ähnlich bei männlichen  Symposisten: Besques 1994, 82  Abb. 67; Vorläufer zu Beginn des Jahrhunderts, Jeammet 2003, 102 Abb. 59.

    [35] Besques 1986, 58 Taf. 49 b.

    [36] Fehr 1971, 124.

    [37] Rohde 1968, 17. ebenda auch Abb. 12; Nicholls 1982, 93-122 Abb. 23-29.

    [38] Schwarzmaier 2015, 306-312.

    [39] Wamser-Krasznai 2013, 238 Abb. 64.

    [40] Bell 1981, 132-138 Taf. 17-22, mit einem Exkurs zum Mythos der chthonischen Gottheiten Demeter und Kore im griechischen Westen, ebenda 98-103; Pugliese Carratelli 1996,  750 Nr. 383.

    [41] Kekulé 1884, 67 Taf. 25, 1-4.

    [42] „un pomo“, zit. bei Kekulé ebenda.

    [43] LIMC II (1984) 673 f. Nr. 685-697 Taf. 500 f. s. v. Artemis (L. Kahil).

    [44] Wamser-Krasznai 2018, 51.

    [45] Lunsingh Scheurleer 1986, 71 f. Abb. 72; für Information dazu danke ich G. Jurriaans-Helle, Amsterdam; Wamser-Krasznai 2018, 51.

    [46] Aus einer Privatsammlung, Kunze 1999, 78 f. Abb. 15.

    [47] Gercke 1996, 198 f. Abb. 253.

    [48] Besques 1986, 58 Taf. 48 a und b.

    [49] Zanker 1989, 50 f.

    [50] Wamser-Krasznai 2015, 64 f. Abb. 7. 8.

    [51] Hamdorf 1996, 82 f. Abb. 104; ders. 2014, 160 D 28.

    [52] Gefährtin=Hetäre.

    [53] Boardman 1981, 40 Abb. 38.

    [54] So auch Brendel 21995, 255 f. Abb. 178; ferner Sprenger – Bartoloni 1977, 127 f. Abb. 158-161.

    [55] Bonfante 1975, 205 Abb. 147; de Marinis 1961, 9 Nr. 1 Taf. 3 a; Hampe – Simon 1964,  35-40 Taf. 12. 15; Steingräber 1979, 219 Ne. 98 Taf. X, 2.

    [56] Streit der Göttinnen bei der Hochzeit von Thetis und Peleus, Hampe – Simon 1964,  35-40 Taf. 12. 15; Achilles unter den Frauen von Skyros, Bonfante 1975, 205 Abb. 147.

    [57] Fortunati 204 Nr. 17; Torelli 2000, 595 Nr. 166, Abb. 209 b; Torelli 2009, 6 Abb. 6 a.

    [58] Pallottino 1992, 352-357. 411 Nr- 539.

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    Römer und Germanen, Italiener und Deutsche sind von alters her verbunden in Freud und Leid, in Freundschaft und Feindschaft, in Herablassung und Bewunderung. Was dem Deutschen sein Fleckerl-Teppich (Sachsen-Weimar-Eisennach, Reuß jüngere Linie, Löwenstein-Wertheim-Freudenberg) ist dem Italiener sein Campanilismo. Germanicus war ein Beiname derjenigen römischen Feldherren und Kaiser, denen es gelang, die Scharte der verlorenen Varusschlacht auszuwetzen und sich – vorübergehend – ein namhaftes Stück Germanien einzuverleiben.

    Anfangs bestehen die römischen Militärlager aus Erdwällen mit hölzernen Palisaden, die Unterkünfte aus ledernen Zelten[1]. Im Jahre 2 n. Chr. beschreibt der Geometer Hygin (Hyginus Gromaticus) wie ein Castrum entsteht. Vermessungs-Ingenieure stecken die beiden Hauptachsen, den Cardo und den Decumanus, ab. Für rechte Winkel benutzt man eine Kombination aus Lot und Visiergerät, die  Groma[2]. Das Haupttor, die Porta praetoria, öffnet sich in Marschrichtung, gegen den Feind, An der höchsten Stelle des Lagers befindet sich die Porta decumana. In der Mitte liegen die Stabsgebäude/Principia, mit dem Fahnenheiligtum und dem Bildnis des Kaisers[3], das Praetorium, der Sitz des Kommandanten und die Mannschaftsbaracken/Centuriae. Vorratsgebäude, Werkstätten und Lazarett/Valetudinarium, schließen sich an. Letzteres gehört, wie wir aus Xanten/Vetera wissen, zu den ersten unter Kaiser Claudius (41-54 n. Chr.) aus Stein errichteten Bauwerken[4], deren Identifizierung mit Hilfe der dort gefundenen medizinischen Instrumente gelingt. Im Valetudinarium  wurden die Soldaten sowohl ambulant als auch stationär behandelt. Ihre Gesundheit zu erhalten ist erstrangig. Über Aquädukte wird frisches Wasser  herangeführt.

     

    Abb. 1: Pont du Gard bei Nîmes, Provence,  Aufnahme der Verfasserin

    Die Badegebäude/Thermen liegen meist vor den Kastell-Mauern. Mittels  Fußbodenheizungen/Hypokausten werden die Warmbäder/ Caldarien erwärmt.

     

    Abb. 2: Hypokausten, Leptis Magna/Libyen, 2. Jh. n. Chr., Aufnahme der Verfasserin (2009)

     

    Wie die Stabs- und Mannschaftsgebäude verfügen auch Thermen über Gemeinschafts-Toiletten/Latrinen. Viele sind mit einer ständigen Wasserspülung ausgestattet.

    Abb. 3: Latrine in der Hafentherme von Leptis Magna / Libyen, Aufnahme der Verfasserin (2009)

     

    Die Therapie ist nicht in jedem Fall unangenehm. In Aquincum erhält die Legio Secunda Adiutrix zollfreien Wein für das Lazarett. Der griechische Arzt Dioskourides (1. Jh. n. Chr.) empfiehlt Wein gegen Husten. Arzneien werden häufig mit Wein gemischt[5].

    Vor der Einstellung des Rekruten steht eine körperliche Untersuchung.  Ungeeignete werden ausgesondert. Exerzieren ist an der Tagesordnung.  Marschübungen im Laufschritt bezeichnet man als ambulatus – Spaziergang[6]!

    Militärärzte sind im Allgemeinen Unfreie, oft griechische Kriegsgefangene. Sie bekleiden keinen besonders hohen Rang, bringen es allenfalls zum Hauptmann, oft nur zum Sanitätsgefreiten; doch da sie die medizinische Versorgung der Truppen gewährleisten, verleiht ihnen bereits Caesar im Jahr 46 v. Chr. das römische Bürgerrecht[7].

    Müssen Rekruten wegen schwerer Verletzungsfolgen oder körperlicher bzw. geistiger Gebrechen vorzeitig ausgemustert werden, so entspricht das der ehrenhaften Entlassung. Sie durften dann heiraten und erhielten ein Stück Land[8].

    Seit Augustus gilt für dienstverpflichtete Soldaten das Eheverbot. Erst mit der ehrenvollen Entlassung, also nach wenigstens 25-jähriger Dienstzeit, erhalten sie das Recht auf Eheschließung. Das ändert sich unter Septimius Severus (193-211), der auch den aktiven Soldaten die Heirat gestattet. Vorher waren Soldatenehen und die vielen eheähnlichen Verhältnisse rechtsunwirksam; sogar  eine vorher geschlossene Ehe begann mit dem Eintritt des Rekruten ins Heer zu ruhen. Die zahlreichen Kinder „ex castris“ hatten vor allem erbrechtliche Nachteile. Darüber wissen wir aus den erhaltenen Militärdiplomen:

    „Der Imperator Caesar………..gibt denjenigen Reitern und Fußsoldaten………deren Namen unten angegeben sind, ihren Kindern und Nachkommen das Bürgerrecht und das Eherecht mit den Frauen, die sie zu diesem Zeitpunkt schon hatten, oder wenn sie Junggesellen sind, mit denen, die sie später nehmen, jedoch nur mit einer.“

    Dass die Sorge des Kaisers für seine Soldaten noch in anderer Weise über den Zeitpunkt der Dienstentlassung hinaus gehen konnte, besagt die Bauinschrift an einem Balneum in Singidunum/Moesia superior (Belgrad): Dieses Bad steht  ausschließlich „in usum emeritis quondam Alexandriae“, dem Gebrauch durch die Veteranen der 4. Legion Severiana Alexandrina zur Verfügung[9]. Aus dem Namen der Legion geht der des Kaisers Severus Alexander hervor. Wir befinden uns in der ersten Hälfte des 3. Jahrhunderts n. Chr.

    Die Kleidung des Soldaten besteht gewöhnlich in einer kurzärmeligen Tunica, einem Mantel und den Caligae[10] für die Füße. Der Feldzeichenträger/Signifer (Abb. 4) ist mit einer langärmeligen Tunicaa mancata bekleidet. Sein Haarschnitt entspricht dem des Kaisers, Traianus.

     

    Abb. 4: Grabrelief, Aquincum/Pannonien, 2. Jh. n. Chr., Aufnahme der Verfasserin

     

    Gefangene Barbaren (Chatten?) stellt man spärlich bekleidet, mit grobschlächtigen Körpern und strähnigen Haaren dar (Abb. 5). Sie sind schmachvoll  aneinander gekettet, die Hände hinter dem Rücken gefesselt[11].

     

    Abb. 5:  Sockelrelief aus Mainz-Kästrich, 2. Jh. n. Chr., Aufnahme der Verfasserin

     

    Als Schutzgötter verehren die Soldaten Diana, Merkur, Kastor und Pollux,  aber auch die Heilkundigen, Asklepios und Hygieia/Salus. Die Auxiliartruppen behalten ihre Stammesgötter wie die keltische Pferdegöttin Epona. In einem Militär-Schwimmbad in Bu-Ngem/Tripolitana fand sich ein aus dem Jahr 203 n. Chr. entstandenes Weihgedicht an die Göttin Salus, verfasst von dem Zenturionen Q. Avidius Quintianus[12], der einerseits die glückliche Rückkehr des Heeres und andererseits die Wohltat des Wassers in der Gluthitze des Südens preist.

    Am germanischen Limes liegen im Abstand von 15 bis 20 km die durch Wachtürme kontrollierten Auxiliar-Kastelle. Einen florierenden kleinen Grenzverkehr bezeugen noch heute die lange vor dem Einmarsch unserer Befreier aus dem Westen genetisch fixierten klassischen Nasen und das dunklere Hautkolorit meiner Cousinen!

    Joseph Victor von Scheffel (1826-1886)  hat es in unnachahmliche Verse gegossen:

    Ein Römer stand in finst’rer Nacht
    Am deutschen Grenzwall Posten…
    An eine Jungfrau Chattenstamms
    Hat er sein Herz vertandelt,
    Er war ihr oft im Lederwams
    Als Kaufmann zugewandelt…

     

     

    Abgekürzt zitierte Literatur:

    Busch 1999: St. Busch, Versus Balnearum (Stuttgart und Leipzig 1999)
    Johnson 1987: A. Johnson, Römische Kastelle (Mainz 1987)
    Junkelmann 82000: M. Junkelmann, Die Legionen des Augustus (Mainz 82000)
    Selzer 1988: W. Selzer, Römische Steindenkmäler. Mainz in römischer Zeit (Mainz 1988)
    Steger 2004: F. Steger, Asklepiosmediin. Medizinischer Alltag in der römischen Kaiserzeit (Stuttgart 2004)
    [1] Die älteste ausführliche Beschreibung stammt von Polybios aus der Mitte des 2. Jh. v. Chr. Pol. VI.
    [2] Johnon 1987, 54 f. Abb. 22.
    [3] Tac. Hist. III, 13; An. IV, 2.
    [4] Johnon 1987, 257.
    [5] Johnson 1987, 182.
    [6] Vegetius I, 27; III, 2; Johnson a. O. 179.
    [7] Steger 2004, 49 und Anm. 207.
    [8] Steger 2004, 69.
    [9] Busch 1999, 266 f.
    [10] Junkelmann 82000, 96 Taf. 25. 158-161 Abb. 9.
    [11] Selzer 1988, 69. 241 Kat. 263 Abb. 47.
    [12] Busch 1999, 560-563.

  • Beitrag Dietrich Weller zum BDSÄ-Kongress 2019 in Bad Herrenalb

    Moderation Helga Thomas, Samstag, 22. Juni 2018, 11 h 

    Was wäre, wenn wir alle immer ehrlich wären?

    In der Bibel steht: „Deine Rede sei ´ja, ja`, oder ´nein, nein`.- Alles andere ist vom Übel.“

    Das wird bestätigt durch den Satz eines Autors, dessen Namen ich nicht mehr erinnern kann:

    „’Ja‘ ist richtig. ‚Nein‘ ist richtig. ‚Ja aber‘ ist immer falsch.“

    Wenn doch alles so einfach wäre!

    Wikipedia definiert Ehrlichkeit als

    Aufrichtigkeit und Wahrhaftigkeit, auch als Zuverlässigkeit, besonders in Hinblick auf Geld- und Sachwerte.

    Um aufrichtig und der Wahrheit verhaftet zu uns selbst stehen zu können, müssten wir zuerst einmal wissen, was wir selber wirklich, also authentisch und nicht angelernt – sind und wollen!

    Damit meine ich, dass es nicht darum geht, umzusetzen, was uns anerzogen wurde. Sondern es geht darum zu erkennen, was in uns wirkt, wenn wir auf unsere „innere Stimme“  hören und nicht auf die Menschen, die uns prägen mit Schuldgefühlen und Gewalt aller Art und sogenannten gesellschaftlichen Regeln. Diese sind ohnehin von Gesellschaft zu Gesellschaft von Land zu Land und von Kultur zu Kultur verschieden.

    Grob gesagt gibt es zwei Gruppen von Menschen: Die eine Gruppe weiß, was sie will; die andere weiß, was sie nicht will. Wenn man die zweite Gruppe fragt, was sie will, hat sie darauf keine Antwort. Ihre Welt ist dominiert von Ablehnung.

    Wenn wir dazu berücksichtigen, dass wir immer am Anderen das am schnellsten erkennen und ablehnen können, was wir an uns selbst nicht wahrhaben wollen, wird die Sache schon komplizierter.

    Um ehrliche Kinder erziehen zu können, müssen die Eltern ehrliche Leute sein. Aber wer erzieht die Eltern?

    Die Vermittlung von Schuldgefühlen ist eine der wirksamsten Formen der Gewaltausübung, denn sie scheint die Selbstgerechten zu berechtigen, ihre Mitmenschen auf den angeblich rechten Weg zu führen. Und das meine ich im weitesten Sinn – vom Elternhaus, im Freundes- und Arbeitsbereich und nicht zuletzt in der Schule und Kirche. Und Schuldgefühle verführen oder zwingen sogar manchmal zu Unehrlichkeit.

    Natürlich wird normalerweise Gewalt nicht als solche deklariert. Sie kommt durch die Hintertür: „Du solltest das tun, was ich für richtig halte. Wenn du das nicht tust, geht es mir schlecht.“ Noch hinterhältiger: „Du solltest immer gehorchen, denn dann kommst du besser zurecht im Leben.“- Oder mit dem Versprechen: „Wenn du gottgefällig lebst, kommst du in den Himmel, sonst erwartet dich die Hölle! Und ich sage dir, was Gott will!“ Ketzerische Frage: Woher wissen wir, was er gesagt hat, wenn ihn noch keiner gesehen oder gar gehört hat?

    Wenn die Anpassung lang genug gefordert wird, verstummen in uns die Empfindungen, was wir „eigentlich“ fühlen und tun würden. Statt primärer Gefühle von Ablehnung und Protest entstehen in uns Ersatzgefühle, die helfen, den Druck in eine andere Richtung lenken und besser zu ertragen: Statt des Gefühls der Unterordnung macht sich zum Beispiel das Pflichtgefühl zum Helfen breit. Dort erhalten wir soziale Anerkennung, die wir brauchen und wollen, und das verstärkt unsere angepasste Meinung als angeblich richtig.

    Ein anderes Ersatzgefühl ist Müdigkeit, die sich bis zur Trauer und Depression steigern kann. Der Druck von außen entfacht Gegendruck in uns, der aber nicht nach außen geäußert werden darf. Also bleibt die Energie in uns und wendet sich gegen uns selbst. Wir glauben schließlich sogar, dass wir selbst nicht gut genug sind. Wer lange genug Druck – also Aggression! – anstaut, ohne Erleichterung  zu erfahren, verhält sich wie ein Dampfkessel, der platzt, wenn der Druck zu hoch ist. Überspitzt gesagt: Wenn jemand sich selbst tötet, muss man fragen, wem die Aggression wirklich galt.

    Fremdbestimmung sorgt typischerweise auch dafür, dass wir unsere eigene Überzeugung und unsere eigenen Gefühle zunehmend infrage stellen und nicht mehr wahrnehmen oder gar als störend empfinden. Deshalb brauchen wir auch so viele Psychiater und Psychologen, die uns bei der Erkennung und Bewältigung unsere Konflikte helfen.

    Wenn wir wirklich immer ehrlich sein wollen, müssen wir zuerst erkennen, welche Gefühle und Glaubenssätze in uns echt und welche aufgesetzt, anerzogen, fremdbestimmt sind.

    Selbst wenn wir diese Grundbedingung weglassen und überlegen, was wir in dem Zustand, in dem wir gerade jetzt sind, denken, fühlen und tun wollen, werden die Meinungen ungedämpft aufeinander prallen. Ich sehe da schwarz: Bei totaler Ehrlichkeit kommt der totale (Über-) Lebenswille sofort hinterher. Hauen und Stechen um Macht bricht offen aus – und zwar schlimmer als ohnehin schon.

    Ehrlichkeit ist nicht immer befreiend, gut und erstrebenswert. Ehrliche Aussagen können entmutigend, beleidigend, zerstörerisch, rechthaberisch und gemein sein.

    Wenn wir alle immer ehrlich wären, müsste ich manchen Patienten sagen, dass ich sie fett, unästhetisch, ungezogen, ungepflegt, ungerechtfertigt anspruchsvoll finde. Und ich müsste damit rechnen, dass sie mich als arrogant, hochnäsig, egoistisch und eingebildet bezeichnen.

    In den vergangenen Jahrtausenden hat es sich als lebenserhaltend erwiesen, dass Menschen nach außen freundlich und hinter den Kulissen heimlich und oft hinterhältig sind. Dadurch entstanden einerseits die Diplomatie und offizielle Politik und anderersetis die Geheimdiplomatie und Geheimdienste, die meist das Gegenteil beabsichtigen. Skrupellosigkeit, Hass, Menschenverachtung werden kaschiert und schöngeredet. Erst wenn Verrat und Betrug nicht mehr zu verbergen sind, werden sie zögernd zugegeben und durch das Verhalten des Gegners begründet und gerechtfertigt.

    Mit Ehrlichkeit würde die Kommunikation einfacher, direkter und schonungsloser. Eigentlich ist es ja gut, wenn Aussage und Verhalten des Gegenübers unmissverständlich sind. Dann wissen wir, woran wir sind und können, ehrlich, wie wir sind, unmissverständlich reagieren.

    Ich vermute, das wird noch lebensgefährlicher als ohnehin schon. Es sei denn, der Drang zur Ehrlichkeit ist größer als der Überlebenswille.

    Wenn alle ehrlich wären, könnten viele Priester und andere Männer offen zu ihrer Pädophilie stehen. Die Katholische Kirche müsste auch das Verhalten einiger Priester nicht decken, die – wie eine sorgfältig recherchierte Dokumentation von ARTE nachgewiesen hat[1]– ihre Macht missbrauchend weltweit Nonnen zum regelmäßigen Sex zwingen unter dem Vorwand, ihnen Jesu Liebe zuteilwerden zu lassen. Doris Wagner ist eine der Frauen, die als Nonne regelmäßig von ihrem vorgesetzten Mönch und später von dessen Bruder, ebenfalls Mönch(!), missbraucht wurde und inzwischen mit ihrem Schicksal an die Öffentlichkeit ging und zwei Bücher[2] schrieb. Sie ist eine der wichtigen Stimmen, um den Vatikan zur Aufarbeitung der Skandale zu bringen.[3]

    Es gibt laut ARTE nachgewiesene Fälle, wo Priester den Oberinnen eines Ordens Geld gegeben haben und diese dafür den Priestern die Nonnen lieferten. Nonnen, die schwanger werden, müssen oft auf Geheiß ihres Ordens abtreiben und werden dann mittellos aus dem Orden verstoßen. Das alles wurde vom Vatikan verschwiegen, der sich damit selbst der Vertuschung und Unterstützung krimineller Handlungen schuldig gemacht hat. –  Man müsste mal juristisch klären, ob dieses Verhalten der Katholischen Kirche die Merkmale des organisierten Verbrechens erfüllt.

    Jetzt beginnt erst die Aufklärung, nachdem die Medien zunehmenden Druck gemacht haben und der Papst den „Missbrauchsgipfel“ im Februar 2019 einberufen hat. Allerdings muss der Verdacht oder die Tatsache des Missbrauchs nur an kirchliche Stellen gemeldet werden. Die Organisation, zu der die Übeltäter gehören, kontrolliert sich selbst. Damit bleibt von vornherein und wie bisher die Transparenz ausgeschlossen.

    Wer diese Missstände nicht wahrhaben will, sie ableugnet, ihnen aus dem Weg geht, trägt seinen Teil dazu bei, dass sie weiter so bestehen. wie sie schon immer waren. Quis tacet, consentire videtur. Wer schweigt, scheint zuzustimmen.

    Wenn wir alle ehrlich wären, würde Herr Trump sagen: „Ich bin einer der größten Lügner, die jemals US-Präsident waren.“

    Konkretes Beispiel: Die Washington Post veröffentlicht täglich nach sorgfältiger Faktenüberprüfung die Lügen und irreführenden Behauptungen von Donald Trump seit seinem Amtsantritt. Am 07. Juni 2019, also 869 Tage nach Amtsantritt, war Trump bei 10.796 Lügen und irreführenden Behauptung angekommen. Interessant ist, dass er im ersten Jahr als Präsident durchschnittlich täglich etwa 5,9 falsche oder irreführende Behauptungen aufgestellt hat, während es im zweiten Jahr 16,5 pro Tag waren, also fast dreimal so viele!

    Und viele Republikaner könnten offen zugeben, dass sie Trump nur unterstützen, weil sie um ihren eigenen politischen Posten bei der nächsten Wahl fürchten.

    Was mich wirklich besorgt, ist die Tatsache, dass immer noch so viele Amerikaner Trumps Verhalten und Politik sehr gut finden. Es ist also keineswegs nur Trumps Verantwortung, dass er so rücksichtslos und kriegstreiberisch handelt. Die Überzeugung, das naturgegebene Herrschervolk der Welt zu sein, ist offen erkennbar seit vielen Jahrzehnten tief in der amerikanischen Bevölkerung verwurzelt. Die US-Politik der Neuzeit war und ist eine hegemoniale Politik, die nach Verwirklichung des einzigen weltweiten Imperiums strebt. Und dafür sind den Vertretern dieser Politik alle Mittel recht. Die meisten Kriege, in die die USA verwickelt waren und sind, stellen klare Brüche des Völkerrechts dar: Es sind Angriffe auf fremde Länder, die die USA nicht angegriffen haben. Und die UNO hat diese Angriffe nicht genehmigt!

    Wenn wir alle ehrlich wären, würden viele Eheleute sofort auseinander gehen, statt auf Dauer vergiftet und entmutigt nebeneinander her zu leben. Viele gedemütigte Frauen würden die Kraft finden, zu ihrem Wissen um die Freundin des Ehemanns zu stehen und die Ehe mit erhobenem Haupt verlassen, statt weiterhin deprimiert und verzagt die brave Ehefrau zu spielen. Viele Ehemänner würden ehrlich sagen, dass sie fremdgehen, und sie würden die Konsequenzen ziehen.

    Diplomaten würden keine Politik der vielen Gesichter machen, sondern in den Verhandlungen und dem Volk gegenüber(!) Klartext reden.

    Viele Ärzte würden häufiger ihre Unwissenheit zugeben, statt die Überlegenen zu spielen.

    Wenn der Drang zur Macht größer bleibt als die Macht der Ehrlichkeit, wird sich nichts ändern am derzeitigen Zustand der Menschheit.

    Wenn wir alle ehrlich wären, würden wir die Lüge gar nicht kennen. Die Ehrlichkeit lebt ihren hohen ethischen Wert nur im Kontrast zur Lüge. Licht erkennen wir auch nur, weil wir das Dunkel kennen.

    Wenn wir alle ehrlich wären, könnten wir trotzdem versuchen, Kompromisse zu schließen, aber dann keine faulen, sondern ehrliche.

    Jetzt leben viele Berufsgruppen von der Unehrlichkeit. Die Werbeindustrie zum Beispiel hat als Maxime, den Umsatz ihrer Auftraggeber zu steigern und nicht etwa, die Wahrheit zu verbreiten. Das macht sie, indem sie gute Gefühle in den Menschen weckt, die wiederum glauben, mit dem Kauf des beworbenen Produktes eben diese Gefühle zu erwerben. Es geht nicht darum, ehrlich mit dem Kunden umzugehen, sondern ihm seine Wunschwelt vorzuspielen, ihm sein Geld aus der Tasche zu ziehen und Einfluss auf ihn auszuüben. Wenn die Werbeindustrie immer ehrlich wäre, dürfte sie viele Aufträge gar nicht annehmen, weil diese nichts anders bezwecken, als die Vorspiegelung falscher Tatsachen so alltäglich zu machen, dass sie als Wahrheit akzeptiert werden. Das Motto lautet: Eine Lüge wird umso mehr zur Wahrheit, je häufiger sie überall wiederholt wird.

    Ebenso ist es mit der PR-Industrie, die eine Imagekampagne nach der anderen zu enorm hohen Preisen führt, um bestimmte Menschen und ihre Ideen zu preisen und andere zu diffamieren. Das ist der übliche Propagandarummel vor den Wahlen, vor Kriegen, vor wichtigen politischen Entscheidungen. Das erste, was schon vor dem Krieg stirbt, ist die Wahrheit. Zuerst muss eine Ideologie entwickelt und propagiert werden, der das Volk folgt. Denn nur damit lassen sich Lug und Trug, Mord und andere Grausamkeiten scheinbar rechtfertigen. Nur drei solche historische Propagandasätze als Beispiele: „Die Polen haben unsere Grenzsoldaten angegriffen!“ – „Der Irak besitzt Massenvernichtungswaffen!“ – „Die Juden sind eine minderwertige Rasse!“

    Die PR-Firmen müssten komplett ihre Strategie umstellen, wenn sie immer ehrliche Aussagen veröffentlichen wollten. Stellen wir uns mal vor, wie die Zeitungen, Fernsehsendungen und sozialen Medien langweilig werden, wenn alle dieselben Tatsachen bringen! Dann gibt es keine Verleumdung, keine Hassbotschaft, keine Lügen mehr! Dann sind die Beschuldigungen und Angriffe ehrlich und offen auf dem Markt und werden mit Namen und nicht mehr anonym veröffentlicht.

    Die Verteidigung der Wahrheit und des Rechts obliegt den Juristen. Es ist bekannt, dass im Allgemeinen nicht der Recht bekommt, der Recht hat, sondern der den besseren Anwalt hat. Das weiß ich aus meiner Lebenserfahrung und aus mehreren Gesprächen mit Anwälten und Richtern. Zeitung und Fernsehen liefern täglich Beweismaterial zu dieser These. Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich, aber manche sind eben doch ein bisschen gleicher.

    Wenn wir alle ehrlich wären, würde nur noch offen um das gestritten, was jetzt hinter vorgehaltener Hand umkämpft wird. Man kann dann ehrlich sagen, dass der Neid die Welt antreibt und nicht das Geld und schon gar nicht die Ehrlichkeit. Denn hinter jedem angestrebten Wertgegenstand oder Zustand steht der Wunsch, ein Gefühl zu verwirklichen. Dann brauchen wir Anwälte, die unsere tiefsten menschlichen Bedürfnisse nach Geltung, Ansehen und Macht offensiv vertreten. Welches Gericht wird das be- und verurteilen, wenn es sich doch um ehrliche und authentische Anliegen handelt?

    Wir können auch den „halben Weg“ der Wahrheit gehen: „Alles, was du sagst, muss wahr sein, aber nicht alles, was wahr ist, musst du sagen!“

    Dieses Prinzip kann uns zum Beispiel in schwierigen Lagen bei einem Schwerkranken helfen, von dem wir glauben, dass er die ganze Wahrheit mit allen Konsequenzen jetzt nicht auf einmal erträgt. Die Grenze dessen, was ich sage, prüfe ich nach meiner Darstellung der Diagnose mit der Frage „Möchten Sie noch etwas wissen?“ und dem Satz „Wenn Sie mehr wissen wollen, sagen Sie es mir bitte.“

    Jeder Patient hat das Recht auf Information und auf Nicht-Information. Ich denke, wir dürfen ihn nicht überfrachten mit Wissen, das er möglicherweise nicht ertragen kann. Aber wichtig ist, dass – wo immer das noch möglich ist – der Patient das Ausmaß der Information entscheidet und nicht der Arzt oder Pfarrer oder Ehepartner. Die Zeit der patriarchalischen Haltung ist vorüber, in der wir glaubten, es besser wissen und über den Patienten erhaben zu sein und über ihn bestimmen zu dürfen.

    Eine richtige und für mich lebens- und berufsprägende Antwort bekam ich von einem früheren Oberarzt, der eine Sprechstunde für Brustkrebspatientinnen leitete. Ich fragte ihn, ob er allen Frauen die Wahrheit sage. – Er sagte: „Ja, ich sage allen Frauen die Wahrheit. Denn erstens bin ich Christ und glaube, dass ich nicht lügen darf. Und zweitens habe ich so ein schlechtes Gedächtnis, dass ich morgen nicht mehr wüsste, wen ich angelogen und wem ich die Wahrheit gesagt habe. Ich nehme mir immer Zeit, auf die Reaktionen und Gefühle der Frauen einzugehen.“

    Auch in der Beziehung unter Partnern ist das Vertrauen auf Ehrlichkeit eine Voraussetzung für das Gelingen. Trotzdem muss man nicht alles wissen, nicht alles fragen, nicht alles erzählen. Wichtig sind Verständnis für den Partner, Rücksicht auf seine Gefühle, Verletzlichkeit und Eigenständigkeit. Ehrlichkeit sich selbst gegenüber ist die Voraussetzung, dem Partner gegenüber ehrlich sein zu können.

    Der Begriff der Notlüge ist allgegenwärtig. Wir meinen damit Situationen, in der wir uns selbst oder jemand anderen schützen wollen, indem wir bewusst etwas Falsches sagen.

    Lüge ist eine Form von Gewalt, weil sie das Vertrauen, mit dem wir leben wollen, erheblich stört.“ Dieser Gedanke steht im Katholischen Jugendkatechismus. Ausgerechnet die Katholische Kirche sagt so etwas!

    Aber im DUDEN steht nicht das Wort Not-Ehrlichkeit! Trotzdem kenne ich Situationen, in denen es wichtig ist, jemanden mit Tatsachen zu konfrontieren, die ihn von Entscheidungen abhalten, die er nicht trifft, wenn er diese Tatsachen kennt. Beispiel: Jemand will unbedingt dieses Haus kaufen, und seine ganze Seligkeit hängt von diesem Kauf ab, aber ich weiß, dass er schwer krank ist und die Schulden nie abzahlen kann, sondern sie seiner Frau hinterlässt, die damit in die Armut stürzt. Dann denke ich, sollte ich taktvolle und ehrliche Wege finden, um ihn von dem Kauf abzuhalten.

    Ich bin mir nicht sicher, ob das Leben leichter und besser wäre, wenn wir alle ehrlich wären. Wir wären uns aber sicher über unsere echten und ehrlichen Gefühle und Gedanken, und wir könnten dazu immer stehen. Wir müssten wenigstens nicht fürchten, betrogen und belogen zu werden. Stattdessen werden wir ehrlich und offen angegriffen. Dann werden wir aber auch ehrlich und offen geliebt.

    [1] In ARTE am 04.03.2019 um 20.15 h gesendet.

    [2] Nicht mehr ich, Taschenbuch und Spiritueller Missbrauch, Herder-Verlag

    [3] Siehe auch Interview mit Doris Wagner und Kardinal Schönborn, Wien: www.br.de/fernsehen/das-erste/sendungen/report-muenchen/videos-und-manuskripte/missbrauch-kirche100.html