Schlagwort: Medizin

  • Brustkrebs. Das Wort hängt schon monatelang wie eine giftgelbe Wolke im Haus und dringt in jeden Gedanken ein. Nach gelungener Operation und Chemotherapie war die Bedrohung zwar etwas verdrängt und hat einem leisen Wind der Hoffnung Platz gemacht. Aber die Angst durchfließt jetzt in der Kliniksprechstunde trotzdem wieder alle Poren von Judiths blassgelber Haut und ist wie dicke Luft im Raum zu spüren, während Judith und Arno auf den Befund der neuesten Untersuchung warten.

    Der Professor verdirbt die Stimmung von Judith und Arno mit wenigen Worten: „Leider haben wir mehrere Metastasen in der Leber gefunden. Das ist der Grund für Ihre Gelbsucht. Die Kernspinbilder zeigen, dass wir auch nicht mehr operieren können!“

    Tränen rinnen über Judiths Gesicht, Arno putzt sich verlegen die Nase, wischt wie zufällig über die Augen und streichelt unbeholfen die Schulter seiner Frau. Dann macht er rasch einen Vorschlag: „Da gibt es aber doch Lebertransplantationen. Damit ist meine Frau sicher zu retten! – Sie schaffen das, Herr Professor!“

    Der Professor wiegt langsam seinen Kopf: „Einige Metastasen haben sich auch in der Lunge angesiedelt. Das schließt eine Transplantation aus.“ Er macht eine kurze Pause und lässt den Satz wirken. Dann ergänzt er: „Ich schlage vor, Sie verdauen den Schreck erst einmal. Ich werde den Fall heute Nachmittag in unserer Tumorkonferenz vorstellen. Dann treffen wir uns übermorgen zu einem Gespräch über die Behandlung, die wir Ihnen empfehlen.“

    Die Verabschiedung ist kurz und wortkarg. Rasch verlassen sie den Raum wie auf einer Flucht. Auf dem Flur sinkt Judith in einen Stuhl. Arno setzt sich daneben. Schweigend verharren sie wie gefangen in einem tiefen Loch der Verzweiflung.

    Da sagt Judith fast tonlos: „Ich glaube, wir müssen uns aufs Schlimmste einstellen. Lass uns überlegen, was wir in der Zeit noch tun können, die mir verbleibt!“

    Arno braust auf und beherrscht seine Stimme nur mühsam: „Das kommt überhaupt nicht infrage! Du wirst wieder gesund! Ich weiß das! Ich will dein Gerede vom Sterben nicht mehr hören! Wir werden weiter kämpfen! Du hast doch gehört, dass der Professor dir übermorgen eine Therapie anbietet!“

    Judith schweigt bedrückt und sinkt weiter in sich zusammen. Sie spürt, dass sie Arno ihre Empfindungen und Bedürfnisse nicht vermitteln kann. Dabei braucht sie ihre Kraft, um mit sich und ihren Ängsten zurechtzukommen.

    Arno hat sich nach seinem Ausbruch rasch wieder im Griff und nimmt Judith liebevoll an der Hand: „Es tut mir leid, dass ich so heftig geworden bin. Komm, lass uns nach Hause gehen! Du musst daran glauben, dass du gesund wirst!“

    Judith spricht auf dem Nachhauseweg und beim Abendessen nur wenig. Beide sind in sich abgekapselt, und die unsichtbare Wand scheint zwischen ihnen gedankendicht zu sein. Nach dem Essen sitzen sie wortlos vor dem Fernseher vor einer Politdiskussion, aber beide können nicht zuhören. Nach einer Weile steht Judith auf: „Ich gehe ins Bett, ich bin müde!“

    „Gute Nacht, Judith, schlaf gut!“

    Arno gießt sich noch ein Bier ein.

    In den nächsten Tagen bleibt die Unterhaltung zwischen Judith und Arno oberflächlich, ja auffallend belanglos. Jeden Versuch, über die schlechten Aussichten oder über mögliche Verhaltensweisen, Therapieangebote oder andere Konsequenzen zu sprechen, biegt Arno glatt ab mit dem Versprechen: „Du wirst sehen: Alles wird gut! Dann können wir planen, was wir machen, wenn du gesund bist.“

    „Wenn du meinst!“, sagt Judith und dreht sich um, damit Arno nicht sieht, wie sie mit den Tränen kämpft. Auch die Chemotherapie, die der Professor „als Therapieversuch“ vorschlägt, begrüßt Arno mit Begeisterung und demonstrativer Hoffnung, während Judith zögert mit ihrer Antwort. Arno entscheidet für sie: „Ja, natürlich will meine Frau die Chemotherapie!“

    Judith gibt sich geschlagen, sie ist still und nickt nur. Sie schaut den Professor an. Er versteht sie wortlos und nickt ebenfalls.

    In den nächsten Tagen kommentiert Arno jede einzelne Nebenwirkung der Therapie: „Du siehst, es wirkt! Du wirst gesund! Es wird dir besser gehen nach der Therapie!“

    Arno spielt Tennis mit seinem Freund und freut sich über die Ablenkung. Judith verbringt die Stunden überwiegend zuhause im Bett oder auf dem Sofa. Sie nimmt weiter ab, ist zum Umfallen schwach und völlig appetitlos. Sie versucht, den Haushalt so weit wie irgend möglich aufrecht zu erhalten und macht häufige und immer längere Pausen.

    Arno bleibt trotzdem bei seinem Optimismus und wiederholt bei jeder Gelegenheit: „Du wirst gesund! Ich verspreche es dir! – Lass uns über den Urlaub reden, den wir bald machen! Da kannst du dich von der Therapie erholen. Schau hier, ich habe neue Prospekte mitgebracht!“

    Lustlos blättert Judith in den Heften, legt sie weg, schließt erschöpft die Augen und nickt ein. Arno geht in die Küche und räumt das Geschirr in die Spülmaschine.

    Am Abend nimmt Judith im Bett noch einmal ihren ganzen Mut und alle Kraft zusammen. Sie greift liebevoll nach Arnos Hand: „Arno, wir müssen miteinander reden! Bitte hör mir zu! Ich kann nicht mehr! Ich werde nicht mehr gesund. Ich weiß es! Wir dürfen nicht länger den Kopf in den Sand stecken!“

    Arno wird sofort wütend: „Ich will das nicht mehr hören! Ich brauche dich! Ich liebe dich! Du musst gesund werden! Und jetzt hör auf mit deiner Schwarzseherei! Schlaf gut!“

    Er dreht Judith den Rücken zu und zieht sich die Decke über den Kopf. Judith hört an seinem Atem, dass er ihr vorspielt zu schlafen. Sie liegen lange wach, und das Schweigen baut eine undurchdringliche Mauer ins Bett zwischen sie.

    In den Tagen danach beobachtet Arno mit Sorge, wie Judith immer langsamer wird und nur noch mit seiner Hilfe stehen und wenige Schritte gehen kann. Jedes Wort macht ihr Mühe, und der Juckreiz quält sie sehr.

    Eines Nachmittags liegt Judith auf dem Sofa im Wohnzimmer und schläft. Arno sitzt daneben und schaut ein Tennisturnier im Fernsehen an. Da bemerkt er plötzlich, dass Judiths Atem aufgehört hat. Er schüttelt sie am Arm. Keine Reaktion. Judiths Arm fällt leblos neben ihren Körper. Da springt Arno auf und schreit: „Das kannst du mir nicht antun! Judith, komm zurück!“

    Seine ganze Panik bricht aus ihm heraus, er weint, schluchzt, versucht, Judith wachzurütteln, er wählt 112, brüllt ins Telefon: „Schnell, meine Frau atmet nicht mehr!“

    Aber der Notarzt kann nur bestätigen, was Arno längst weiß und nicht wahrhaben will.

    Als Arno in den Tagen nach der Beerdigung das Schlafzimmer aufräumt, findet er in Judiths Nachttischschublade obenauf einen Brief Für meinen geliebten Arno. Er setzt sich in den Sessel vor Judiths Bett und liest:

     

    Mein Liebster,

    ich kann Deinen Wunsch nicht erfüllen, wieder gesund zu werden, so sehr ich mich danach gesehnt habe. Seit der Diagnose mit den Metastasen in Leber und Lunge weiß ich, dass ich sterben werde. Es tut mir bitter weh, Dich verlassen zu müssen. Ich weiß, Du hast Dir und mir meine Heilung einzureden versucht, um mich zu schonen.

    Aber, Du geliebter Mann, wir sind beide schlechte Schauspieler. Du hast Dir so viel Mühe gegeben, mich aufzumuntern. Und ich wollte heiter und gelassen sein. Stattdessen habe ich resigniert und dadurch mein Schicksal immer mehr angenommen und mich zurückgezogen.

    Ich sehe und spüre Dein Leiden und Deine Verzweiflung, ja, auch Deine Hilflosigkeit. Ich habe es nicht übers Herz gebracht, und ich hatte keine Kraft mehr, Dich aus Deinem Traum von meiner Genesung zu reißen und Dich mit den Fakten und Konsequenzen zu konfrontieren. Du willst Dich nicht mit meinem Sterben, unserer Trennung und Deiner drohenden Einsamkeit im Gespräch auseinander setzen.

    Nach so vielen herrlichen Jahren mit Dir voll Liebe, Ehrlichkeit und Vertrauen hätte ich unsere Ehe gern gekrönt mit gemeinsamer Arbeit an unserer Angst und Trauer in dieser schwersten Krankheitsphase. Ich habe gehofft, mit Offenheit und Annahme unseres Schicksals meine letzten Lebenswochen -die letzten Wochen unserer Liebe!- zu durchleben. Aber das war uns nicht vergönnt. Wir haben es beide nicht geschafft.

    Hoffentlich kommst Du über meinen Tod hinweg und kannst mit unserer Lebenslüge weiterleben. Bitte nimm professionelle Hilfe an, damit Du die Trauerarbeit gut bewältigen kannst. Ich wünsche Dir von ganzem Herzen ein glückliches und erfülltes Leben.

    Ich habe keine Kraft mehr und sehne mich jetzt danach, endlich und ewig auszuruhen.

    Ich bin voll Dankbarkeit für Deine Liebe und mein Leben mit Dir.

    Ich werde sterben und immer bei Dir bleiben.

     

    In Liebe,

    Deine Judith.

    Copyright Dr. Dietrich Weller

     

  • Am Abend in der Notfallpraxis.

    „Können Sie noch eine Patientin anschauen, die der Chirurg nebenan schon gesehen hat? Er bittet Sie darum.“

    Die Arzthelferin schiebt eine ältere Dame herein, die gepflegt gekleidet und mit nacktem linkem Fuß im Rollstuhl sitzt. Sie lächelt mich zur Begrüßung freundlich an und beginnt nach der Begrüßung, ohne Aufforderung zu erzählen. Ich höre den italienischen Akzent und sehe die lebhafte Mimik und die leuchtenden Augen.

    „Wissen Sie, ich war noch vor ein paar Tagen in Venezia, da war herrliches Wetter, und die Pasta hat so delikat geschmeckt auf der Piazza San Marco! Und dann habe ich eine Freundin besucht in Mazedonia. Die ganze lange Strecke bin ich gefahren, obwohl ich habe diesen Bauchspeicheldrüsenkrebs und eine große Operation hinter mir. Jetzt sind trotzdem in der Leber Metastasen. Ich weiß, dass ich nicht mehr so lange lebe, aber ich freue mich über jeden Tag! Es ist wunderbar, so viele Freunde zu haben. Ich bin so dankbar!“

    „Und warum sind Sie jetzt hier? Ich sehe, dass Ihre Zehe entzündet ist, aber das hat der Chirurg schon gesehen.“

    Ja“, sagt sie, „aber manchmal bekomme ich so schlecht Luft. Deshalb möchte er, dass Sie mich untersuchen! Im Moment kann ich gut atmen.“

    Neben meinem Schreibtisch sitzt die Begleitperson der Dame, eine schlanke junge Frau mit kurz geschnittenen dunklen Haaren und hellwachen Augen. Mir fällt ihre altrosa Kostümjacke auf.

    Ich frage: „Und wer sind Sie? Die Tochter?“

    „Nein, ich bin die Arzthelferin des Hausarztes von Frau Sorriso. Wir kennen uns schon seit vielen Jahren und wohnen nahe beieinander. Deshalb habe ich sie begleitet.“

    Ungewöhnlich, denke ich, aber das ist ein sehr freundlicher Hilfsdienst.

    Ich untersuche den Fuß, sehe die Entzündung eines Hühnerauges und bitte die Arzthelferin,  einen Salbenverband anzulegen. Dann höre ich die Lunge von Frau Sorriso ab, stelle einen normalen Befund fest und bitte die Arzthelferin, eine Blutuntersuchung zu machen. Ich will wissen, ob ich ein Antibiotikum verordnen soll.

    Ich möchte die Unterredung trotz der draußen wartenden Patienten weiterführen. Das ist ein ungewöhnlicher Moment mit einer besonderen Patientin.

    „Es beeindruckt mich sehr, dass Sie so gut gestimmt sind und angesichts der schwerwiegenden Diagnose eine so lebensbejahende Ausstrahlung haben. Was hilft Ihnen dazu?“

    Sie lächelt mich an: „Wissen Sie, ich genieße mein Leben, weil ich geliebt werde und viele Menschen mir helfen. Ich lebe allein, aber ich bin nicht einsam. Meine Krankheit kann ich so gut tragen. Und ich weiß, dass ich nicht mehr lange Zeit habe. Ich bin dankbar für jede Stunde und jede gute Begegnung. Ich weiß, dass ich allein mir gute oder schlechte Stimmung machen kann. Und da ist es besser, mit Freude zu leben.“

    Sie macht eine kurze Pause, dann fragt sie: „Haben Sie einen Vorschlag, was ich noch tun kann?“

    Ich überlege: „Möchten Sie ein Buch über den guten Umgang mit schweren Krankheiten lesen oder ist das eher nicht so gut für Sie?“

    „Oh, wenn Sie eines empfehlen, lese ich es gern!“

    Ich gebe ihr meine Visitenkarte mit der Adresse meiner Homepage, wo meine Bücher verzeichnet sind und schlage eines meiner Bücher vor, das ich vor einigen Jahren speziell für Patienten wie Frau Sorriso geschrieben habe. Dann nimmt die Arzthelferin Blut ab, und ich bitte die beiden Damen, im Wartebereich auf das Ergebnis zu warten.

    Während ich die nächsten Patienten behandele, kommt mir nach ein paar Minuten auf dem Flur die Begleiterin entgegen und streckt mir einen Becher mit Cappuccino entgegen: „Das ist für Sie ein freundlicher Gruß von Frau Sorriso! Wir freuen uns, dass wir Ihnen begegnet sind!“

    Ich bedanke mich überrascht, gehe in mein Sprechzimmer zurück und schließe für einen Moment die Tür. Auf dem Stuhl trinke langsam den Becher leer und mache mir bewusst, dass ich noch nie von einem Patienten in der Praxis oder in der Klinik einen Kaffee bekommen habe. Und diese Frau dort draußen mit ihrem unheilbaren Krebs, die mich überhaupt nicht kennt, denkt an mich und lässt einen Kaffee für mich bringen! Welch eine ungewöhnliche Situation. Ich bin sehr dankbar.

    Nachdem das Blutbild fertig ist, hole ich die Patientin und ihre Begleiterin wieder herein: „Das Blutbild zeigt jetzt keine Entzündungszeichen. Wie waren die letzten Blutwerte?“, frage ich die Begleiterin. Sie ist genau informiert. Ich verschreibe kein Antibiotikum.

    Für Frau Sorriso ist aber etwas ganz anderes wichtig. Sie sagt feierlich und mit einem strahlenden Gesicht: „Wir haben draußen überlegt, dass ich Sie zu meiner Trauerfeier einlade! Ich weiß schon genau, wo sie stattfindet – bei einem sehr guten Italiener in der Innenstadt. Das wird ein großes Fest! Die Liste der Gäste ist schon fertig! Alle meine Kollegen werden eingeladen! Herr Doktor, Sie werden auch eine schriftliche Einladung erhalten, wenn es soweit ist! Es dauert nicht mehr lang! Und Sie müssen mit Ihrer Frau kommen, das müssen Sie versprechen! Ich werde von oben zuschauen und auf Sie warten! – Danke, dass Sie mich hier versorgt haben. Das war eine gute Begegnung für mich!“

    „Ja, für mich auch! Geht es Ihnen auch so wie mir? Ich treffe immer die richtigen Menschen, die richtigen Bücher und die richtige Musik im richtigen Moment.“

    Sie lacht: „Das stimmt genau. Vielleicht sind wir uns deshalb jetzt begegnet! Alles Gute für Sie! Bis bald!“

    Sie drückt meine Hand fest mit ihren beiden Händen, schaut mich lächelnd an und lässt sich winkend hinaus schieben.

    Ich bleibe sehr nachdenklich zurück.

     

    PS:

    Der Name Sorriso ist natürlich nicht der wirkliche Name der Patientin. Ich habe ihn gewählt, weil er im Italienischen Das Lächeln bedeutet.

    Copyright Dr. Dietrich Weller

    Der Text wurde beim BDSÄ-Jahreskongress 2014 zum Thema „Zauberei und Realität“ vorgetragen.

     

  • Spät abends kam eine Patientin in die Notfallpraxis, begleitet von ihrer Tochter. Es fiel mir auf, wie gebeugt die Patientin beim Betreten des Sprechzimmers ging und wie sie mich mit tief traurigen Augen anschaute. Ich erwartete, dass sie gleich anfangen würde zu weinen. Sie klagte mit gedämpfter Stimme über starke Nacken- und Kopfschmerzen. Ich stellte einige Fragen, untersuchte sie und fand dabei “nur” eine erheblich verspannte Schulter- und Halsmuskulatur. Alle Zeichen und die Vorgeschichte sprachen für die Diagnose Spannungskopfschmerzen.

    „Können Sie meine Mutter ein paar Tage krankschreiben?“, fragte die Tochter.

    „Ja, das kann ich, aber das löst die Probleme nicht. Es lindert vielleicht ein paar Tage den Druck, unter dem Ihre Mutter leidet.“

    Dabei legte ich meine Hände auf die Nackenmuskulatur und sagte: „Der Rucksack, den man Ihnen aufgeladen hat und den Sie sich haben aufladen lassen, ist zu schwer! Dadurch wird der Nacken ganz hart. Und dann kommen noch die Nackenschläge dazu, die sie im Alltag einstecken müssen!“

    Ich symbolisierte mit dem erhobenen Arm einen Handkantenschlag ins Genick.

    „Und das halten sie im Kopf nicht aus. Sie haben das Gefühl, der platzt bald.“

    Die Patientin erschrak: „Ja, genau so ist es!“

    „Sie können Krankengymnastik machen, den Nacken einreiben, Schmerzmittel nehmen, sich von mir in die verspannte Muskulatur spritzen lassen, in Urlaub gehen – alles in Ordnung – für eine Weile, aber die Probleme sind dadurch nicht gelöst. Die Beschwerden kommen wieder! – Ich bin überzeugt, Sie wissen genau, woher die Anspannungen kommen und was Sie tun müssen, um eine dauerhafte Lösung zu bekommen!“

    Die Patientin sagte spontan und mit fester Stimme: „Ja, Schluss damit!“

    „Sehen Sie, das ist die Lösung, auf die Sie selbst gekommen sind. Ich glaube, Sie sind nur hier, um dafür eine Bestätigung zu erhalten. Sie brauchen einen kleinen Schubs, um das zu tun, was Sie längst als richtig erkannt haben, stimmt´s?“

    Die Augen der Frau fingen an zu leuchten: „Woher wissen Sie das? So hat mir noch niemand gesprochen!“

    Wir ändern erst etwas in unserem Leben, wenn der Leidensdruck größer ist als die Angst vor der Veränderung! Sind Sie so weit?“

    Die Patientin saß jetzt aufrecht auf der Liege und schaute mir entschlossen in die Augen. Sie hatte eine klare und feste Stimme: „Ja, es reicht! Das mache ich jetzt, Schluss mit dem Druck, dann geht´s mir wieder besser! Danke!“

    Ich sehe immer noch, wie die Augen der Frau strahlten und wie straff und entschlossen ihr Gang und ihre Körperhaltung waren, als sie die Praxis verließ, aufgerichtet im wörtlichsten Sinn.

    Copyright Dr. Dietrich Weller

  • Ignaz Fülöp Semmelweis ist am 1. Juli 1818 in Buda geboren.

    Die Familie stammte aus Szikra/Sieggraben im Burgenland, wo sie als Winzer tätig waren. Der Vater betrieb einen Gewürz- und Kolonialwarenhandel im alten Budaer Stadtteil Tabán, am Fuß der Burg. Sie waren angesehene, wohlsituierte Bürger.

    Wamser-Krasznai Semmelweis Bild 1

     Bild 1:  Geburtshaus in der heutigen Apród-utca, unten Geschäft, oben Wohnung

     

    Nach zwei Jahren Philosophiestudium  an der Pester Universität geht Ignaz Semmelweis 1837 für ein Jahr zum Jurastudium nach Wien. Dann beginnt er das Studium der Medizin in Wien und Pest. 1844 wird er in Wien mit dem Thema  „Tractatus de vita plantarum“ promoviert. Er absolviert einen Lehrgang in Geburtshilfe und wird Aspirant, ohne reguläre Stelle und ohne Salair, bei Prof. Klein an der Geburtshilflichen Klinik. 1846 ist er provisorischer Assistent bei Klein.

    Unter L. J. Boër als Leiter der Wiener Geburtsklinik hatte die Todesrate der Gebärenden und Wöchnerinnen 0,84% betragen. Die Hebammen übten nur an Phantomen. Semmelweis wird bald klar, dass Boër spontan, unausgesprochen, das Prinzip der Non-Infektion anwandte.

    Nach dessen Amtsenthebung 1822 – als eines Mannes „gegen den Zeitgeist“ – folgt ihm sein am wenigsten begabter Schüler Johann Klein im Amt nach. Infolge der modernen pathologischen Anatomie, die zum vermehrten Üben an Leichen führt, steigt die postpartale Mortalität auf  7,45%.

    1840 wird die Klinik geteilt. In der 1. Abteilung, der Ausbildungsstätte der Studenten (Prof. Klein), wird immer häufiger seziert. Die 2. Abteilung (Dr. Bartsch) bildet Hebammen aus, die seltener sezieren. 1841-1846 sterben in der 1. Abt. 9,92% der jungen Mütter, in der 2. Abt. nur 3,38%. Zu dieser Zeit hält man das Puerperalfieber für eine Epidemie und führt sie auf atmosphärische, kosmische oder tellurische Kräfte zurück.

    Semmelweis sammelt Daten. Er bemerkt, dass in Paris an der Maternité-Klinik, wo nur Hebammen ausgebildet werden, die aber regelmäßig sezieren, die Sterblichkeit ebenso hoch ist wie an der Ärzteklinik, und er beobachtet in Wien, dass Frauen, die zu Hause oder gar auf der Straße entbinden, weniger häufig erkranken als in der Klinik.

    Von 1844-1846 ist Semmelweis zuerst Aspirant, dann Assistent an der von Klein geleiteten Geburtsklinik. Es belastet ihn, dass während dieser Zeit die Zahl der an Kindbettfieber sterbenden Frauen sogar bis auf 15-18%  ansteigt. Schuld daran ist, wie er wenig später mit Entsetzen erkennt, seine eigene forcierte Sektionstätigkeit, die ihn ja eigentlich zu der Ursache dieser verheerenden Sterblichkeit hatte führen sollen.

    1847 erreicht die Mortalität sogar 18,27%. Wie ein Blitzschlag trifft ihn fast gleichzeitig der Tod seines Freundes Kolletschka, Professor der Gerichtsmedizin, der in Folge einer Fingerverletzung während einer Sektionsübung an einer Sepsis stirbt.

    Semmelweis vermutet die Zusammenhänge und schließt als Ursache der Septikaemie auf  zersetzte organische Stoffe, die zum Resorptionsfieber führen.

    Zwei Monate später, im Mai 1847, beginnt er vor jeder Untersuchung einer Gebärenden oder Wöchnerin seine Hände mit Chlorina liquida, später mit Chlorkalk, zu waschen. Zu diesen Waschungen hält er auch alle seine Schüler an. Zwei Augenzeugen, der Engländer Dr. Routh und der Ungar Lajos Markusovszky, berichten darüber. Schon im Juni sinkt die Todesrate der Mütter im Wiener Gebärhaus auf 2,23%. Es ist vor allem die Statistik, mit deren Hilfe Semmelweis der Krankheit beikommt.

    Leider publiziert er seine Erkenntnisse nicht. Zwar hält er 1850 vor der Wiener Gesellschaft der Ärzte drei Vorträge, im Übrigen aber verbreitet sich die Kunde nur durch seine Schüler, seine Korrespondenz und durch die nach Wien kommenden Gastärzte. Der Dermatologe Hebra und der Internist Skoda, der 1849 einen Vortrag über die Semmelweis`sche Entdeckung hält, sind für ihn tätig. Dagegen reagieren die in ihrer Ehre gekränkten Geburtshelfer erbost und beleidigt. Zum Teil führen sie sogar insgeheim die Prophylaxe ein, während sie Semmelweis offen bekämpfen. Man wirft ihm Ungehorsam und Pflichtvergessenheit vor. Unter den positiven Stimmen ist die des Kieler Geburtshelfers G. A. Michaelis. Diesem wird die Erkenntnis seiner eigenen Verantwortung für den Tod so vieler junger Frauen, darunter den seiner Cousine, derart unerträglich, dass er Selbstmord begeht.

    1850 übersiedelt Semmelweis, kaum dass er unter anderem auf Betreiben von Skoda die Ernennung zum Wiener Dozenten erhalten hat, nach Pest.

    Inzwischen besteht die Welt nicht ausschließlich aus Geburtshilfe und ihren tragischen Folgen. In der Revolution von 1848 hat Semmelweis entgegen anderslautenden, auf unsicheren Quellen beruhenden Behauptungen, keine besondere Rolle gespielt. Hätte er sich politisch fortschrittlich engagiert, so wäre ihm von seinen Feinden Klein und Rosas mit Sicherheit ein Strick daraus gedreht worden. Seit Mai 1851 ist er als Primararzt am Pester St.-Rochus-Spital tätig.

     

    Wamser-Krasznai Semmelweis Bild 2

     Bild 2: St. Rókus-Kórház

    Das Lehramt der theoretischen und praktischen Geburtshilfe an der Universität von Pest, das ihm nun angetragen wird, ist an die Beherrschung der ungarischen Sprache und an sein nachweislich politisch „günstiges“ Verhalten gebunden. Kaiser Franz Joseph bestätigt 1855 seine Berufung zum Universitätsprofessor.

    Erst 11 Jahre nach seiner epochemachenden Entdeckung, 1858,  erscheint endlich ein Artikel aus der Feder von Semmelweis in der ärztlichen Wochenzeitung/Orvosi Hetilap: „A gyermekágyi láz kóroktana“ (Ätiologie). Dann folgt in deutscher Sprache seine grundlegende Schrift: „Die Aetiologie, der Begriff und die Prophylaxis des Kindbettfiebers“ (Pest, Wien und Leipzig 1861). Im Vorwort heißt es:

    „Vermöge meines Naturells jeder Polemik abgeneigt, Beweis dessen ich auf so zahlreiche Angriffe nicht geantwortet, glaubte ich es der Zeit überlassen zu können, der Wahrheit eine Bahn zu brechen [..]. Zu dieser Abneigung gegen jede Polemik kommt noch hinzu eine mir angeborne Abneigung gegen alles, was schreiben heißt. [..] Ich muss [..] nochmals vor die Öffentlichkeit treten, nachdem sich das Schweigen so schlecht bewährt [..] finde ich Trost in dem Bewusstsein, nur in meiner Überzeugung Gegründetes aufgestellt zu haben“.

    Trotz dieser Berufung auf sein pazifistisches Naturell wird er jetzt selbst polemisch. „Die überaus größte Anzahl von medizinischen Hörsälen wiederhallt noch immer [..] von Philippiken gegen meine Lehre [..] und es ist nicht abzusehen, wann der letzte Dorfchirurg und die letzte Dorfhebamme das letzte Mal infizieren werden.“

    Jetzt sind die Kollegen erst richtig erbost und nicht bereit, dem Befürworter der aseptischen Methode öffentlich zuzustimmen. Eher sollten die Mütter zugrunde gehen, bevor das Ansehen der Professoren beschädigt werde.

    In seinem 1862 „an sämtliche Professoren der Geburtshilfe“ gerichteten Offenen Brief, setzt Semmelweis noch gehörig eins drauf, attackiert seine Kontrahenten namentlich und beschuldigt sie expressis verbis des Mordens.

    Die Resultate seiner Prophylaxe sind durchgehend sehr eindrucksvoll. Seit 1859 liegt die Zahl der an Kindbettfieber Verstorbenen in Pest unter 1%. Bereits 1862 erlässt der Stadthalterrat in Ungarn für sämtliche Munizipalbehörden und die medizinische Fakultät eine Anordnung über die Durchführung der Asepsis nach den von Semmelweis vorgeschlagenen Maßregeln. Dieser findet nun aber auch für seine Anhänger kein gutes Wort mehr und greift 1863 die Ablehner seiner Lehre in fünf Nummern des „Orvosi Hetilap“ heftig an.

    1865 lockt man ihn auf einer Reise, die angeblich zu einem Erholungsaufenthalt weiter nach Gräfenberg führen soll, in die Landesirrenanstalt Wien. Dort endet sein Leben auf Grund einer Sepsis am 13. August 1865.

    Mehr als 100 Jahre später, 1977, erkämpft der in Frankfurt am Main lebende Frauenarzt Dr. Georg Silló-Seidl die Herausgabe der im Psychiatrischen Krankenhaus der Stadt Wien archivierten Krankengeschichte und übergibt sie dem Semmelweis-Museum für Medizingeschichte in Budapest.

    Die Anamnese stammt noch von Prof. Bókai in Pest. Aus ihr geht hervor, dass der vorher geordnet und logisch denkende, allerdings in Sachen Kindbettfieber kompromisslose Mann seit einigen Jahren zeitweise von einer unerklärlichen Schlafsucht befallen sei. In den letzten fünf Wochen bemerke man eine zunehmende Wesensveränderung. Er vernachlässige sein Äußeres, mache obszöne Bemerkungen, sei verschwenderisch, unruhig und kritiklos. Er schwitze, sei unmäßig im Essen und Trinken und unzuverlässig im Hinblick auf seine Pflichten.

    Bei der Aufnahme zeige sich eine von den Pester Chirurgen nicht beschriebene dunkel blaurote Stelle am rechten Mittelfinger. Als Semmelweis die vergitterten Fenster bemerke und am Fortgehen gehindert werde, fange er an zu toben, sodass ihn sechs Wärter kaum  bändigen können. Sie legen ihm eine Zwangsjacke an und bringen ihn in die Dunkelkammer.

    Am nächsten Tag fallen gesteigerte Unruhe, Sprach- und Gangstörung sowie eine hohe Pulsfrequenz auf. Obwohl sich die Rötung und Schwellung des Fingers über den ganzen Handrücken ausgedehnt haben, äußere er keine Schmerzen. Es folgen Gangrän, Osteomyelitis, Sepsis, geistige Verwirrung und schließlich der Tod. Über die Entstehung der Fingerverletzung wird spekuliert. Die Wahrheit wisse niemand.

    István Benedek: [..] “és az akkori brutális ápolási ‚módszerek‘- től szenvedett sérülésből kialakult szeptikus állapot vezetett korai halálához“ [..].

    Bei der Autopsie bestätige sich als Krankheitsursache eine durch Lues bedingte Paralyse. Darüber habe man aus falsch verstandener Diskretion mehr als 100 Jahre geschwiegen. Noch 1978 lehnt Silló-Seidl, der sich so sehr um die Beschaffung der Semmelweis‘ schen Krankengeschichte verdient gemacht hatte, diese Diagnose ab.

    Auch in Ungarn herrscht 25 Jahre lang tiefes Schweigen. Die Familie  magyarisiert 1879 ihren Namen in Szemerényi, was sie nach dem Einsetzen des Semmelweis-Kultes gern rückgängig gemacht hätte. Dies gelang jedoch nur den Nachkommen der Tochter Antonia, die seit 1894 den Doppelnamen Lehhoczky-Semmelweis tragen.

    1882 hatte der Freiburger Geburtshelfer Alfred Hegar eine ebenso sachliche wie positive Darstellung des Lebens und der Lehre von Ignaz Fülöp Semmelweis gegeben. Dem war 1885 eine grundlegende Biographie in ungarischer  Sprache gefolgt.

    1891 werden die sterblichen Überreste des nun endlich berühmt gewordenen Sohnes der Stadt nach Budapest überführt. Mit einem Spendenaufruf  am 22. April 1894, unter dem Titel Anyák mentője, iniziiert Jenő Rákosi, Chefredakteur des „Budapesti Hírlap“, den später weltweit üblichen Ausdruck „Retter der Mütter“.

    1906 wird die von Alajos Stróbl geschaffene Marmorgruppe enthüllt, die Semmelweis zusammen mit einer dankbaren Mutter darstellt. Sie hat heute ihren Platz vor seiner einstigen Wirkungsstätte, dem Rókus-Korház/ St.-Rochus-Spital.

    Wamser-Krasznai Semmelweis Bild 3  

    Bild 3: Statue von A. Stróbl

    Die Újvilág utca, wo sich die Gebärklinik befunden hatte, heißt jetzt Semmelweis utca. Unter dem Straßennamen trägt ein sprechendes Relief die Inschrift „anyák megmentője“.

     Wamser-Krasznai Semmelweis Bild 4

     Bild 4:  Semmelweis-utca, „Retter der Mütter“

    Das Jahr 1965 wird, 100 Jahre nach seinem Tod, von der UNESCO zum Semmelweis-Jahr erklärt. In das restaurierte Geburtshaus zieht das Medizinhistorische Museum ein.

    Wamser-Krasznai Semmelweis Bild 5

     Bild 5: Hof des Museums mit einer Mütter-Statue aus dem fortgeschrittenen 20. Jahrhundert

    Heute spricht man in der angelsächsischen Literatur vom „Semmelweis-Reflex“, wenn  jemand kritiklos eine These oder eine Person ablehnt, die vielleicht nur ihrer Zeit allzu weit voraus ist. Unter der Semmelweis-Doktrin dagegen verstehen wir die Prävention und Non-Infektion durch die Verpflichtung zum Händewaschen mit einem desinfizierenden Mittel, seiner Zeit mit Chlorkalk. Seit 1969 trägt die Budapester Medizinische Universität den Namen von Ignaz Philipp  Semmelweis.

    Wamser-Krasznai Semmelweis Bild 6

     Bild 6: Statue im Hof der Gynäkologischen Klinik Budapest

     Medizinhistorischer Exkurs:

    Vier Jahre vor Semmelweis‘ Einführung der Prävention, 1843, hatte Oliver Wendell Holmes aus Cambridge/Massachusetts einen Vortrag in der Bostoner Ärztevereinigung gehalten, der in demselben Jahr unter dem Titel „The Contagiousness of Puerperal Fever“ gedruckt wurde. Darin heißt es: „The physician and the disease entered, hand in hand, into the chamber of the unsuspecting patient“ , also: Hand in Hand betraten der Arzt und die Krankheit das Zimmer des ahnungslosen Patienten. Er warnte davor, dass ein Arzt, der sich mit Geburtshilfe beschäftigt, jemals an der Obduktion einer an Kindbettfieber verstorbenen Frau teilnehme. Wenn der Arzt aber eine solche Person seziert oder ein Erysipel behandelt habe, müsse er sich gründlich reinigen, die Kleidung wechseln und dürfe mindestens 24 Stunden lang keine Wöchnerin anfassen. Nach dem Krankheitserreger forschte er nicht.

    Semmelweis sah die Ursache der Krankheit in einem zersetzten organischen Stoff, der zum Resorptionsfieber führe. Seit 1847 forderte er als Prävention die Non-Infektion und die Chlorwaschungen. Er schreibt in seiner „Ätiologie“ (S. 266): „Da es [..] sicherer ist, den Finger nicht zu verunreinigen, als den verunreinigten wieder zu reinigen, so wende ich mich an sämtliche Regierungen mit der Bitte um die Erlassung eines Gesetzes, welches jedem im Gebärhause Beschäftigten [..] verbietet, sich mit Dingen zu beschäftigen, welche geeignet sind, seine Hände mit zersetzten Stoffen zu verunreinigen.“ Damit fordert er eindeutig die Asepsis. Nach dem Krankheitserreger forschte auch er nicht.

    Über die Priorität ist natürlich gestritten worden, doch zeigt sich im Grunde nur, dass diese Erkenntnisse gegen die Mitte des 19. Jahrhunderts förmlich in der Luft lagen. Dasselbe gilt für die Entdeckung der Krankheitserreger (Keime, Germina, Mikroben, Bazillen).

    Nachdem schon Varro, ein Zeitgenosse Julius Caesars, in seinem Buch zur  Landwirtschaft (1, 12, 2) über die in sumpfigen Gegenden lebenden winzigen Tierchen, die man mit den Augen nicht wahrnehmen kann, die aber schwere Krankheiten verursachen, philosophiert hatte, rissen die zum Teil durchaus erfolgreichen Versuche, Mikroorganismen nachzuweisen, nicht mehr ab. Antoni van Leeuwenhoek gelang 1674 mit einem selbst gebauten Mikroskop der Nachweis von Protozoen und Bakterien. Donné wies 1837 Vibrionen nach, Lucas Schönlein 1839 einen Pilz als Erreger des Favus scutularis. Dann kam Louis Pasteur, 1857, mit der Entdeckung der Milchsäurebakterien. Drei Jahre später gelang es ihm, die Mikroben durch Erhitzen auf 60-90 Grad (das Pasteurisieren!) unschädlich zu machen. Semmelweis dürften die einschlägigen Publikationen bekannt gewesen sein, doch hielt er es mit dem Gießener Chemiker Justus von Liebig, der den Kontakt faulender Stoffe mit gesunden für ausreichend hielt, um Krankheiten zu verursachen, und der die Erklärung des Zerfalls organischer Stoffe durch das Einwirken von Bakterien verspottete. 1863 konnte ein Bazillus als Erreger des Milzbrandes, Anthrax, nachgewiesen werden. All dies ereignete sich noch zu Semmelweis‘ Lebzeiten.

    In seinem Todesjahr, 1865, begann sich in Glasgow Joseph Lister mit dem Problem der Wundinfektion zu beschäftigen. Die Verwendung der Karbolsäure leitete die antiseptische Chirurgie ein. Als Ursache der Infektion betrachtete Lister die von Louis Pasteur so genannten lebenden Krankheitserreger, die Keime. Ebenfalls 1865 erkannte in Gießen der 20-jährige, bei Charkow/Charkiw-Ukraine geborene Ilja Metschnikow die Bedeutung der „Fresszellen“ für die Vernichtung von Krankheitserregern. 1908 erhielt er für seine Phagozytentheorie den Nobelpreis, zusammen mit Paul Ehrlich.

    Robert Koch wurde mit der Kultivierung des Bazillus anthracis 1876 und der Entdeckung des Mycobakterium Tuberculosis 1882 zum Begründer der modernen Bakteriologie und Mikrobiologie.

    Niemals aber ist, wie István Benedek bereits in den 1980er Jahren schrieb, die Semmelweis-Doktrin so aktuell gewesen wie heute, wo sich vor allem in der westlichen Welt die nosokomialen Infektionen beinahe unbegrenzt vermehren.

     

    Epilog:

    Am 05. April 2009 wurde ich durch die Verleihung der Semmelweis-Plakette und mit einer Ehrenurkunde der Internationalen Semmelweisgesellschaft ausgezeichnet.

     Wamser-Krasznai Semmelweis Bild 7

     Bild 7: Plakette pro arte medicea Hungariae, Künstlerin:  Katalin Gera

    „Ärztliche Ethik kennt keine Kompromisse“ ist das Motto dieser Gesellschaft. Ein Satz aus Semmelweis‘ Offenem Brief an Joseph Spaeth steht damit in direktem Zusammenhang: [..] “ein Jeder, der es wagen wird, gefährliche Irrthümer über das Kindbettfieber zu verbreiten, wird an mir einen rührigen Gegner finden“.

    Doch – ein Wermutstropfen fällt in den edlen Wein. Wer heutzutage die Semmelweis-Grabstätte auf dem Kerepesi-Friedhof in Budapest besuchen will, ist weitgehend auf sich selbst angewiesen, denn die Wärter wissen nichts von dem doch recht monumentalen Sarkophag, ja sogar der Name Semmelweis ist ihnen fremd! Es zeigt sich also auch hier wieder einmal mehr: der Prophet gilt nichts im eigenen Land!

    Wamser-Krasznai Semmelweis Bild 8

     Bild 8: Semmelweis-Sarkophag

    Für ihre tatkräftige Unterstützung bei meinen Recherchen danke ich Prof. Dr. Beatrix Farkas, Dr. László Hodinka, Petúr Krasznai MBA, Dr. Péter Szutrély und Gerold Wiese MSc (Budapest, Keszthely, Münzenberg).

     

    Photos: Petúr Krasznai und Waltrud Wamser-Krasznai

    Literatur:

    J. Antall, Der Lebensweg von Ignác Semmelweis, in: Aus der Geschichte der Heilkunde  Suppl. 13-14 (Budapest 1984) 17-29

    I. Benedek, Ignaz PhilippSemmelweis (Wien-Köln-Graz 1983)

    Bericht von Lambrecht, Miklós, in: Nagy Ferenc (Hrsg.), Magyarok.

    A természettudomány és a technika történetében (Budapest 1992) 465-467 und in: Nagy Ferenc (Hrsg.), Magyar Tudóslexikon Á-tól Zs-ig (Better Kiadó 1997) 719-721 (Zweitabdruck)

    Blutiges Handwerk – Klinische Chirurgie. Zur Entwicklung der Chirurgie. Eine Ausstellung des Westfälischen Museumsamtes (Münster 1989/90)

    H. S. Robert Glaser – M. Henze, Metschnikow, Phagozyten und Gießen, Gießener Universitätsblätter 38, 2005, 69-74

    E. Lesky, Ignaz Philipp Semmelweis und die Wiener medizinische Schule (Wien 1964)

    Th. Mildner, De febre puerperale. Eine medizinhistorische Studie um den Hospitalismus im 18. Jahrhundert (Ruhpolding 1962)

    Sh. B. Nuland, Ignaz Semmelweis. Arzt und großer Entdecker (München 2006)

    H. Schipperges, 5000 Jahre Chirurgie (Stuttgart 1967)

    I. Ph. Semmelweis, Die Aetiologie, der Begriff und die Prophylaxis des Kindbettfiebers (Pest, Wien und Leipzig 1861), in: The Sources of Science (New York und London 1966)

    I. Ph. Semmelweis, Offener Brief an sämmtliche Professoren der Geburtshilfe (Ofen 1862)

    István Száva, Ein Arzt besiegt den Tod (Budapest 1968)

    G. Silló-Seidl, Die Wahrheit über Semmelweis. Das Wirken des großen Arzt-Forschers und sein tragischer Tod im Licht neu entdeckter Dokumente (Genf 1978)

     

    Copyright Frau Dr. med. Dr. phil. Waltrud Wamser-KRasznaiD

     

  • Ich hock im zweiten Stock in meinem schwarzen Zimmer
    mit Gewimmer im Eck – ganz still.
    Ich will weg und schreien und speien vor Schreck,
    denn er hat mein Versteck entdeckt!

    Er und seine Genossen haben unverdrossen
    mit fahlen Strahlen
    durch meine kahlen Wände behände
    mit Hirn-Zerriss und Pitbull-Gebiss
    meine Gedanken ins Wanken gebracht.
    Über Nacht sind sie eingedrungen
    und haben Mordgedanken mir ins Hirn gesungen,
    die mit Horror, Terror drücken
    und meinen Lebenssinn zerstückeln.
    Mit ihren Bluthunden reißen sie Glutwunden,
    die brennen wie Schmerzen von tausend Kerzen.
    Sie schlecken die kratzenden Tatzen
    und blecken die Fratzen
    mit Speichel leckenden, lechzenden Lefzen.

    Ich blick mit Schreck ins Eck:
    Der blanke Schrank schwankt krank
    und verhöhnt mit dröhnenden verpönten Wörtern
    Götter und Götzen.

    Die rüden Stimmen brüten und trimmen
    meinen guten Geist auf grimmenden Hass!
    Ich, der Gute, blute und bin nass,
    weil mein Schweiß vom Nacken,
    wo sie mich packen,
    bis zum Steiß glühend heiß
    über meinen Rücken rinnt.

    Zu ihrem Entzücken
    stiere ich, obwohl ich tobe innerlich
    wie ein dumpfes Tier
    durch meiner Seele Gitterstäbe,
    als ob es keine Seele gäbe –
    nur diese hassgestählte, quälende Gier.

    Sie zwingen mich und ringen
    meinen Friedenswillen im Stillen nieder.
    Meine schlaffen Glieder schaffen
    bloß noch Zittern, Schlottern,
    und ich kann nur bitter stottern
    und habe keine Macht mehr über meine Nacht!
    Lass mich in Ruhe, Schrecken-Sender!

    Ich versteck mich in der kahlen Truhe
    vor dem Dreck- und Strahlenspender,
    dann merkt er nicht,
    wie mein Friedenslicht
    den Hass zerstrahlt.
    Dann wird er leichenblass und prahlt
    vergebens, denn seine Macht
    versiegt zeitlebens über mich.

    Ich hasse dich!
    Du kennst es nicht, wie dicht
    du an dem Abgrund hängst,
    in deinem Schlund die Strahlen fängst
    und in der grellen Angst
    um dein bisschen Leben bangst!
    Du fühlst es nicht, das Zittern
    um ein wenig Licht in diesem bittern Graus!
    Ich will hier raus!

    Der Strahl, der deine Seele spleißt,
    das Hirn zergleißt
    und jeden Ton aus deiner Kehle reißt,
    ist dir unbekannt.
    Meine Seele ist verbrannt,
    die Lebenslust aus meiner Brust
    vom blanken Hass verbannt.
    Du spürst nicht, wie der Atem stockt,
    wenn die Finsternis die Seele blockt
    und lähmende Dämonen
    hinter deiner Stirn
    feixend dein zermartertes Gehirn
    bewohnen!

    Wenn der Quälgeist Zähne fletschend
    deinen Nacken packt,
    bist du schutz- und nutzlos, Finger quetschend, nackt!
    Du willst mein Leben geifernd greifen,
    mit gemeinem Mörderstreben füllen?
    Ich werd mich in Gedankenhüllen schützen,
    denn ich kann ohne Brüllen nützen!
    Alle außer mir sind von dem Wahn besessen,
    ich sei auf der falschen Bahn und hätt´ total vergessen,
    wer ich wirklich bin.
    Das ist lachhaft, ohne Sinn!

    Deine Hasstiraden plagen mich in meinen Ohren,
    ich kann nur blassgeraten zagen, bin verloren,
    wenn ich diesen Auftrags-Mord begehe!
    Höre mich an diesem Ort! Ich flehe
    hilflos um Erbarmen,
    entlass mich aus den hasserfüllten Armen!

    Wollt ihr Irren meine reine Seele rauben
    in dem wirren Glauben,
    ich sei nicht der Friedensbringer?!
    Ich gehe nicht in euren
    Hass- und Strahlen-Zwinger!
    Glaubt mir endlich was!
    Verlacht mich nicht!
    Ich bin Jesus Christus,
    Gottes Macht und Friedenslicht!

    Copyright Dr. Dietrich Weller

  • (vorgetragen bei der öffentlichen Lesung „Mein bester Text“ am Jahreskongress 2013 in Münster)

    Siegmund Kraft wurde 1945 in Bremen geboren. Sein Vater fiel kurz vor Siegmunds Geburt in einem der letzten Gefechte in Russland. Die Mutter zog den Jungen liebevoll auf und verdiente als Lehrerin den Lebensunterhalt. Siegmund entdeckte früh seine Liebe zum Langlauf und lief ein Jahr vor dem Abitur den ersten Marathon. Auch dadurch lernte er, mit Disziplin schwierige Momente zu bewältigen und gegen innere Widerstände bis zum selbst gesetzten Ziel auszuhalten. Seine Mutter erzog ihn im ehrenden Gedanken an den Vater, der ihr immer wie starker Baum erschienen war, an dem sie sich anlehnen konnte. Sie wollte aus Siegmund auch einen solch kräftigen und durchsetzungstarken Mann machen, und Siegmund nahm diese Prägung früh auf.

    Den ersten schweren Schicksalsschlag musste Siegmund verarbeiten, als seine Mutter während seines Jurastudiums verstarb. Dies brachte Siegmund dazu, noch härter zu arbeiten. Er beendete sein Studium in kürzest möglicher Zeit als Jahrgangsbester, und seine Doktorarbeit wurde summa cum laude bewertet. Eine wesentliche Hilfe für seinen Erfolg war sein fotografisches Gedächtnis, wodurch er regelmäßig Mandanten und Kollegen mit langen wortgetreuen Zitaten und Quellenangaben verblüffte.

    Nach der Gründung einer Anwaltskanzlei in Bremen heiratete er seine Jugendfreundin Helen, die mit ihm Abitur gemacht hatte, anschließend Schulmusik studierte und Lehrerin in einem bremischen Gymnasium wurde. Sie kauften eine Jugendstilvilla im besten Wohnviertel, die er mit Helens stilsicherer Hilfe renovieren ließ und innerhalb weniger Jahre vom Erlös mehrerer großer Prozesse bezahlte. Er war als Wirtschaftsanwalt bald weit über die bremischen Grenzen hinaus gefragt. Als der Sohn Felix geboren wurde, strahlten Helen und Siegmund als elegantes Paar das Bild der perfekten Familie aus.

    Siegmunds Sekretärin Frau Harmsen organisierte den Arbeitsablauf in der Kanzlei ebenso perfekt wie Helen die Familie und den Haushalt. Siegmund arbeitete nach seinem morgendlichen 10-km-Lauf in der Kanzlei oder bei Gericht. Der Nachmittag und Abend waren dem Aktenstudium und Prozessvorbereitungen gewidmet. Den Samstag nutzte Siegmund als normalen Arbeitstag. Am Sonntagvormittag absolvierte Siegmund einen längeren Lauf, der manchmal über die Marathondistanz ging. Die Nachmittage verbrachte er mit Helen und Felix.

    Felix war ein guter Schüler und sportlich wie der Vater. Als Felix zwölf Jahre alt war, wurde er an einem Spätnachmittag auf dem Gehweg von einem betrunkenen Autofahrer angefahren und so schwer verletzt, dass er noch auf dem Weg in die Klinik starb. Siegmund reagierte nach einer kurzen Schockphase äußerlich routiniert, setzte aber seine Wut, Trauer und Verbitterung ein, um den Autofahrer in dem Prozess als gewissenlosen alkoholkranken Fahrer darzustellen. Er trug mit einem juristisch brillanten und emotionalen Plädoyer als Nebenkläger dazu bei, dass der Fahrer für die fahrlässige Tötung in Tateinheit mit Trunkenheit am Steuer zur Höchststrafe von sechs Jahren Gefängnis verurteilt wurde, da er schon ein längeres Vorstrafenregister hatte. Damit verschaffte sich Siegmund eine gewisse Genugtuung, und die weiter schwelende Trauer betäubte er mit noch mehr Arbeit. Sein Lauftraining behielt er strikt bei und zwang sich, am Wochenende noch 28 km zu laufen und dabei die letzten drei Kilometer im Renntempo zurückzulegen. Er war erfahren genug, seine Kondition nicht mit einem Übertraining zu verderben oder gar eine Verletzung zu riskieren.

    Helen dagegen vergrub sich fast den ganzen Tag im Schlafzimmer und vernachlässigte sich und ihre häuslichen Aufgaben. Auch eine zuerst ambulante und später stationäre Psychotherapie, die Siegmund veranlasst hatte, gelang nur vorübergehend. Das beste Ergebnis der Therapie war aber nur eine funktionierende Frau, die mit ruhiggestellter Mimik und scheinbar gleichgültigem Gemüt die Hausarbeit erledigte. Ein halbes Jahr nach Felix´ Tod fand Siegmund Helen abends totenstarr im Bett. Neben ihr lagen zwei leere Röhrchen Schlaftabletten und eine leere Flasche Rotwein. Der Brief auf dem Nachttisch war kurz: „Liebster, es tut mir leid, ich kann nicht mehr! Ich muss zu Felix. Ich liebe dich. Helen.“

    Siegmund brach am Bett weinend zusammen und rief erst nach einer halben Stunde den Hausarzt und bat ihn, den Totenschein auszustellen. Frau Harmsen half Siegmund, eine würdige Trauerfeier zu organisieren. Siegmund arbeitete verbittert in seiner Kanzlei, hielt die Fassade eines in sich ruhenden Anwalts aufrecht und kam spät nachts in das kalte Haus, wo er nur kurz schlief. Morgens war er früh auf der Laufstrecke unterwegs und anschließend bei der Arbeit. Er vermied private Kontakte, und Frau Harmsen sah ihn nicht mehr lachen. Sie besorgte für ihn aus einem kleinen Restaurant nebenan Essen und machte ihm in der Kanzlei Frühstück. Die immer frischen Blumen auf seinem Schreibtisch nahm er nicht wahr. So vergingen zwei Jahre.

    Eines Tags nahm Siegmunds bester Freund und Kollege ihn zwischen zwei Gerichtsterminen auf die Seite und sagte: „Siegmund, ich sehe, wie du nach außen hin diese Schicksalsschläge wegsteckst. Du wirkst für viele Bekannte wie eine große Eiche, die bei jedem Tornado steht. Aber ich weiß, wie sehr dich der Verlust von Felix und Helen immer noch plagt. Hast du nicht Lust, am Samstagabend bei uns zu essen? Erika hat ein paar Freunde eingeladen, die du auch kennst.“ Siegmund antwortete nach kurzer Bedenkzeit: „Ja, gut, ich komme!“

    Zu diesem Abendessen kam auch Sofia, Helens beste Freundin, die vor zwei Jahren ihren Mann verloren hatte. Siegmund und Sofia hatten in den letzten Jahren kaum Kontakt gehabt, weil Sofia während Helens schwerer Depression mit dem Sterben ihres Manns belastet war und seither sehr zurückgezogen lebte.

    Sofia und Siegmund unterhielten sich angeregt, sodass der Abend für beide erholsam und entspannend war. Siegmund nahm Sofias Einladung zu einem Spaziergang am nächsten Sonntag an. In den folgenden Monaten kamen sich Sofia und Siegmund immer näher. Siegmund konnte sich aus seiner seelischen Erstarrung und verbissenen Arbeit in Sofias Gegenwart lösen und freute sich auf die Treffen. Sofia war glücklich, aus ihrer Isolation herauszukommen. Die Beziehung zwischen Siegmund und Sofia wurde innig und vertraut. Nach einem Jahr heirateten sie.

    Sofia gab der Villa mit einigen ihrer Möbelstücke und Bildern eine persönliche Note. Ihre Liebe zum Garten war für jeden Besucher an den herrlichen Blüten, Büschen, Beeten und dem prächtigen Blumenschmuck im Haus sichtbar. Sofia begleitete Siegmund bei seinem morgendlichen Lauftraining und reduzierte es langsam. Dafür machten sie am Wochenende lange Wanderungen. Siegmund genoss das Leben im Haus wieder und freute sich besonders an den gemütlichen Abenden mit Sofia. So lebten sie fünf Jahre harmonisch und dankbar miteinander.

    Da die Kanzlei sehr gut lief und Siegmund mehr Zeit für sich und Sofia haben wollte, nahm er Eric Knudsen als Juniorpartner in die Kanzlei auf, der sich rasch einarbeitete und für Siegmund eine wertvolle Hilfe darstellte.

    Die Katastrophe schlich sich unerbittlich ein. Zuerst fiel Sofia auf, dass Siegmund sich an einem Sonntagmorgen nicht erinnerte, mit ihr eine Wanderung in der Lüneburger Heide vereinbart zu haben. Auch Frau Harmsen bemerkte, dass er seinen Füllfederhalter oft verlegte, der sonst immer am gleichen Platz lag. Besonders verblüfft war sie, als Siegmund bei einer Verhandlung in seiner Kanzlei aufstand, eine Tür öffnete und mit der Bemerkung „Das war die falsche Tür!“ wieder schloss und durch die andere Tür zur Toilette ging. Die Vergesslichkeiten und alltäglichen Fehler bei banalen Handlungen häuften sich. Die Krankheit schritt mit zerstörerischer Wucht voran.

    Er blieb oft mitten im Satz stecken, verlor den Faden und verwendete Wörter, die nicht in den Zusammenhang passten. In der Gerichtsverhandlung meldete er sich mehrfach zu Wort, stand auf und – wusste nicht mehr, was er sagen wollte. Seine schriftlichen Notizen, die er Frau Harmsen nach den Verhandlungen zur Bearbeitung vorlegte, wurden fahriger und enthielt immer mehr Ungenauigkeiten. Er gab immer mehr Gegenständen die Bezeichnung „das Ding da“. Diese Sprachunsicherheit und die Abflachung des Wortschatzes fielen umso dramatischer auf, weil Siegmund als hervorragender Redner mit druckreifer Sprache und unfehlbarem Gedächtnis bekannt war. Anfänglich tat er diese „Kleinigkeiten“ als Folge seiner Überarbeitung ab. Die Zeichen wurden aber häufiger und schwerwiegender. Er verlor sogar einen Prozess, weil ihm im richtigen Moment sein bewusst vorbereitetes und entscheidendes Argument nicht einfiel.

    Frau Harmsen bereitete mit Eric Knudsen viele Arbeiten so vor, dass Siegmund nur noch unterschreiben musste. Sofia sorgte dafür, dass Siegmund krankgeschrieben wurde. Der Hausarzt verschrieb Medikamente zur Förderung der Hirndurchblutung und äußerte Sofia gegenüber den Verdacht auf eine rasch fortschreitende Demenz.

    Als Siegmund eine Kreuzung bei roter Ampel überfuhr und von der Polizei gestoppt wurde, stand er wie ein kleiner schuldbewusster Junge da und ließ sich von dem Polizisten zurechtweisen.

    Sofia ließ Siegmund nicht mehr Auto fahren und bat ihn mehrfach, die Kanzlei zu verkaufen. Erst als der Vorsitzende der Anwaltskammer ihm eindringlich die möglichen Folgen von Schadensersatzklagen aufgrund von falschen Beratungen schilderte, gab Siegmund nach. Eric Knudsen übernahm Siegmunds Anteil an der Kanzlei. Sofia nahm keine gesellschaftlichen Verpflichtungen mehr an.

    Zuhause füllte Siegmund das Kaffeepulver in den Wasserbehälter und stopfte den Kaffeefilter in die Kanne. Im Bad putzte er sich mit dem Kamm die Zähne und kämmte sich mit der Zahnbrüste. Er verirrte sich sogar nachts in seinem eigenen Haus und rief Sofia, die ihn ins Bett zurück brachte. Beim Essen versuchte er, mit der Gabel zu schneiden. Als er mit dem Messer die Suppe löffeln wollte und nicht mehr wusste, wohin die Suppe geführt werden musste, ging Sofia dazu über, Siegmund zu füttern.

    Bei einer neurologischen Untersuchung zeigte Siegmund eine schwere Störung beim Benennen von Gegenständen und beim Rechnen im Zehnerbereich. Als er eine Uhr mit Zeigern zeichnen oder ein Quadrat und ein Dreieck nachmalen sollte, saß er ratlos mit zitterndem Stift vor dem Blatt und krakelte nur zusammenhanglose Striche aufs Blatt. Der Arzt bat ihn, möglichst rasch viele Gegenstände aufzuzählen, was man in einem Supermarkt kaufen könne. Siegmund dachte lange nach, schließlich fielen ihm Kartoffeln ein, mehr nicht. Die Untersuchungen und die Vorgeschichte sicherten die Diagnose Rasch fortschreitende Alzheimer-Demenz. Siegmund konnte dem einfühlsamen Gespräch des Arztes nicht folgen. Als Sofia und Siegmund die Klinik verließen, fragte er: „Was hat er gesagt? Bin ich krank?“

    Siegmunds geistige Fähigkeiten und das alltägliche Verhalten verschlechterten sich auch unter gesteigerter Medikamentendosis rapid. Die Tabletten wurden deshalb wieder abgesetzt. Sofia betreute Siegmund rund um die Uhr. Sie musste ihm auch auf der Toilette beim An- und Ausziehen und bei der Reinigung helfen.

    Eines Morgens wollte er sich im Schlafzimmer anziehen und wurde wütend, als sie ihm helfen wollte. „Das kann ich allein!“, brauste er auf, „geh ins Wohnzimmer!“ Also beobachtete sie ihn durch den offenen Türschlitz und kämpfte mit den Tränen, als sie sah, wie lange er brauchte, um das Hemd so hinzuhalten, dass er es anziehen konnte. Als er nach einer langen Weile erschöpft ins Wohnzimmer kam, hatte er das Unterhemd auf das Hemd angezogen, die Knopfreihe falsch geknöpft, und das Hemd hing teilweise aus der Hose. Einen Socken hatte er vergessen, und die Schuhbändel waren nicht gebunden. So kam jeden Tag ein neues Vergessen dazu, der Wortschatz wurde kleiner, die Sprache lückenhaft.

    Im Sommer stand Siegmund einmal lange im Garten vor den blühenden Rosen. Sofia fragte: „Woran denkst du?“ Nach einigem Überlegen fragte er: „Ist heute Dienstag oder Dezember?“

    In einem unbeobachteten Moment verließ Siegmund bei strömendem Regen auf Socken das Haus, nur mit Hemd und Hose bekleidet. Sofia rannte sofort los, als sie die offene Haustür sah und fand ihn durchnässt an einer Bushaltestelle. Sie gewöhnte sich deshalb an, die Haustür abzuschließen.

    Eines Nachts wachte Sofia auf, das Bett neben ihr war leer. Sie fand Siegmund innen vor der Haustür stehen. Er war nackt. Sie fragte: „Was machst du hier?“ – „Warte auf den Bus, muss zur Arbeit!“

    Am nächsten Tag sah Sofia, wie Siegmund im Arbeitszimmer mit heruntergelassener Hose auf dem Papierkorb saß. Sofia stieß einen entsetzten Schrei aus. Siegmund fragte ruhig: „Warum schreist du, Mama? Bin auf der Toilette!“ – Sofia hatte er vergessen.

    Sofia sah ein, dass sie Siegmund nicht mehr zu Hause pflegen konnte. Das überstieg ihre Kräfte. Sie brachte ihn in einem Pflegeheim in der Nähe unter und besuchte ihn täglich. Siegmund nahm die Ortsveränderung nicht wahr. Jeder Besuch Sofias war ein neues Erlebnis für ihn, aber es tat ihr weh, jeden Tag zu hören: „Schön, Mama, dass Du endlich kommst!“

    Sie blieb eines Abends wie immer an seinem Bett sitzen und wartete darauf, dass er einschlief. Da atmete er leise ein und aus und ein und aus. – –

    Die Eiche war gefällt.

     

    Copyright Dr. Dietrich Weller

  •  I

    Schaffe
    in deinem Innenraum
    einen Durchgang
    zu der Welt
    die dahinter liegt

    Dort ist der Ort
    und wo dich niemand findet
    und du dich selbst verlierst
    wenn du den Rückweg
    vergessen hast
    und das Knäuel in deiner Hand
    nutzlos wird
    weil der Faden riss

    Schaff
    einen Durchgang
    damit von dort
    von der Welt
    dahinter
    die Taube
    zu dir kommen kann

    Werde vertraut mit ihr
    sie wird dich dann
    heimgeleiten
    von dem Ort
    wo dich keiner findet
    und du dich selbst verlorst.

     

    II

    Der Ort
    wo dich niemand findet
    nicht einmal
    du selbst
    liegt noch weit
    dahinter
    wo der Himmel
    die Erde
    küsst

    Nur im Flug
    kannst du dahin gelangen
    doch verlass dich
    nicht auf Wolken
    nicht auf dich selbst

    Vertrau dich
    einem Vogel an
    Schwan
    Gans
    oder Ente

    Ein Greif
    dagegen
    gewöhnt sich nur schwer
    an Menschen

     

    Copyright Dr. Helga Thomas

  •  

    Wer bin ich?
    Frage des heutigen Narziss?

    Wer bin ich?
    Aus Angst
    eine falsche Antwort
    zu hören und es
    nicht zu bemerken
    nicht zu erkennen
    stelle ich mich dar:
    so wie ich gern wäre
    oder der andere mich gerne hätte
    Oder …

    wie man so ist heute
    in der Zeit der Individualität
    in der Zeit mit den vielen
    gesichtslosen Individuen
    wie ich
    ein Jemand der Niemand ist

    So stelle ich mich dar
    und der andere in mir
    die andere
    das geschlechtslose ewige Ich
    versteckt sich hinter
    meiner Darstellung
    von dem
    wie ich meine zu sein
    versteck ich
    tief in mir
     

    Nun finde ich mich
    nicht mehr
    und frage
    traurig
    mutlos
    verzweifelt?
    mein Spiegelbild
    wer ich denn sei

    Sehnsucht
    zur anderen Welt
    zur Tiefe
    zum Dunkel

    Sehnsucht
    die Grenze zu überschreiten
    ins Geheimnis einzudringen
    im blinden Schmerz
    den Keim des Lichtes
    zu finden

     

    Copyright  Dr. Helga Thomas