Schlagwort: Technik

  • König Corona, du fremdes, so seltsames Wesen,
    wir Kranken, wir haben es schwer, recht bald zu genesen.
    Vom fernen Osten, da kamst du ganz flott angeritten,
    bist mächtig und stark, zum Fürchten ganz unbestritten.
    Und wir sind hilflos, können dich einfach nicht fassen;
    und können die Arbeit doch niemals ganz lassen.

    Du winziges Wesen, so kugelrund,
    voll Stacheln, du treibst uns in den Todesschlund.
    Hast dich versteckt wie eine Krimi-Bande,
    jetzt brichst du aus und ziehst durch die Lande.
    Du fragst nicht, ob ein jeder dich auch mag,
    du greifst uns an bei Nacht und auch bei Tag.

    Wir sind hilflos, fahnden nach ´ner Pille,
    die Institute forschen, groß der Wille.
    Corona, ach den Partisanen gleichst,
    und unerkannt du um die Menschen schleichst.

    Die Forscher hoffen alle, dein Versteck zu finden,
    damit sie endlich können dich einbinden.


  • Schon als Schüler erlebte ich regelmäßig in der Kinderarztpraxis meines Vaters Grundlagen der Behandlung. Die Höhensonne sollte die Aufnahme von Vitamin D fördern, das die Kinder – auch meine Schwester und ich!- als scheußlichen Lebertran essen mussten. Wunden nähte mein Vater mit sterilen Fäden, die er in kleinen Fläschchen aufbewahrte. Ich durfte sogar manchmal den Faden abschneiden. Jeder Faden musste einzeln in die Klemmhaltung der Nadel eingefädelt werden. – Die Nadeln bewahrte Vater in einer Dose auf, die mit dem Nadelhalter zusammen sterilisiert wurde. Erst Jahre später kamen die einzeln verpackten atraumatischen Nadeln mit dem angehängten Faden auf. Noch viele Jahre wurde das Besteck sterilisiert. Inzwischen verwenden wir in der Notfallpraxis Skalpelle, Pinzetten, Scheren, Injektionsnadeln, Spritzen und andere Instrumente als Einmalware und produzieren einen gigantischen Müllberg.

    Als junger Student habe ich im Katharinenhospital Frankfurt ein Praktikum gemacht. Dort bestand eine meiner Aufgaben darin, den Nonnen bei der Wiederaufbereitung des Verbandsmaterials zu helfen: Die Binden wurden gewaschen, zum Trocknen aufgehängt, dann gebügelt und neu aufgerollt. Heute schneiden wir selbstverständlich einen Verband auf, werfen das Material weg und holen neue Ware aus dem Regal. Sogar die Pinzetten, Scheren und Skalpelle sind Einmalmaterial und dementsprechend minderwertig. Das Einmalbesteck soll den Aufwand des Sterilisierens mit den sehr aufwändigen Hygienevorschriften ersparen.

    Es war in meiner Kindheit etwas Besonders, bei einer Entzündung ein Antibiotikum zu erhalten. Mein Vater erklärte mir das, als ich mit neun Jahren eine Osteomyelitis am Bein hatte, die operiert werden musste. Es gab damals, wenn ich mich recht erinnere, Penicillin und ein Sulfonamid. Sie wurden als große Neuerung gefeiert, und ich nahm meine Tabletten mit großem Respekt. Von den Resistenzen, die uns heute Sorgen machen, war damals nur wenig bekannt. In Europa sterben heute jährlich 33.000 Menschen an resistenten Keimen. Die Wahrscheinlichkeit, beim Krankhausaufenthalt einen solchen Keim einzufangen, ist relativ hoch.

    Tetanus schilderte mein Vater noch als große Gefahr. Damals gab es noch Impfstoffe aus Tierseren, die schwere allergische Reaktionen hervorrufen konnten. Deshalb musste man immer genau dokumentierten, von welchem Tier die letzte Impfung war. –
    Vater erzählte diese Geschichte: Als er im Studium eine Famulatur bei einem Landarzt machte, wurde dessen Sohn verletzt und sollte nach der Wundversorgung eine Tetanusschutzimpfung erhalten. Um auch wirklich alles richtig  zu machen, bat der erfahrene Landarzt einen befreundeten Chirurgie-Chefarzt um Rat: „Welches Serum soll ich spritzen?“ – Die Antwort: „Mach es genauso, wie du es bei irgend einem Patienten machen würdest.“ – Der Arzt spritzte das Serum. Wenige Minuten später erlitt der Junge einen anaphylaktischen Schock und starb unter den Händen seines Vaters. – Diese Geschichte fällt mir oft ein, wenn ich heute eine Tetanusimpfung verabreiche. Ich habe aber in meiner Tätigkeit als Arzt in 48 Jahren nie einen Fall von Wundstarrkrampf erlebt.

    Ich erinnere mich auch an eine Chloroform-Maskennarkose, als der HNO-Arzt meine Nasen-scheidewand gerade stellte, nachdem ein Klassenkamerad sie mir versehentlich bei einem Sportunfall gebrochen hatte. – Inzwischen ist es selbstverständlich, dass ein Notarzt einen schwer verletzten noch am Unfallort zum Schutz intubiert und narkotisiert.

    Als Schüler las ich, dass es ganz neu Kortison gibt als vorübergehendes Linderungsmittel bei Leukämie. Dinu Lipatti, einer der ganz großen Pianisten, dessen wunderbare Aufnahmen ich damals kennen lernte, konnte eine Zeitlang mit Kortison am Leben gehalten werden. Kollegen wie Yehudi Menuhin bezahlten die extrem teure Therapie. Das war schon eine Erfolgsnachricht. Erst im Studium lernte ich die neuesten Chemotherapien mit den oft heftigen Nebenwirkungen und häufigen Rückfällen. Und zu Beginn meiner Praxiszeit kamen die ersten Stammzelltransplantationen auf, die den Umbau ganzer Stationen in den Krankenhäusern nötig machten. Ich erinnere mich gut an einen Patienten am Anfang meiner Niederlassung 1982, den ich zu einer Schul- und Studienkameradin nach Stuttgart schickte, die dort als Chefärztin gerade eine Hämatologisch-Onkologische Abteilung aufbaute und in Stuttgart die Stammzelltransplantation einführte. Heute werden sogar noch bei über Siebzigjährigen Stammzelltransplantationen erfolgreich vorgenommen. Das war damals undenkbar.

    Als ich von 1974-1979 meine Kinderfacharzt-Weiterbildung absolvierte, kam eines Tages mein zuständiger Oberarzt von dem Besuch des Internationalen Kinderärztekongresse aus Rochester / USA zurück und berichtete ganz begeistert: „Stellen Sie sich vor, die haben da ein Röntgengerät entwickelt, das legt den Kopf oder andere Organe in Bildscheiben, man kann sie einzeln anschauen und so im ganzen Körper Tumore, Blutungen, Frakturen und Missbildungen erkennen. Durch eine digitale Dichtemessung können Sie genau erkennen, welches Material (Blut oder Knochen oder Liquor) das ist. Solch ein Gerät müssen wir unbedingt nach Stuttgart bekommen – ein einziges Gerät für ganz Stuttgart! Das wäre fantastisch!“  – Heute hat jede Röntgenpraxis und jede Klinik Computertomografen und Kernspintomografen, und große Kliniken verwenden Positronenemissionstomografen zur Diagnostik und ein Gamma-Knife, das auf den Millimeter genau scharf abgegrenzte Tumore zerstört.

    Noch im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts galt es als Kunstfehler, am Gehirn zu operieren. Inzwischen ist die Neurochirurgie eine international etablierte und weit fortgeschrittene operative Disziplin. Während meiner Jahre in der Neurologie habe ich wahre Kunsteingriffe gesehen mit verblüffenden und segensreichen Erfolgen. Und ich kenne viele Menschen, die am Leben gehalten wurden durch moderne medizinische Methoden, aber jetzt im Wachkoma liegen und schwerst pflegebedürftig sind. Früher wären sie gestorben, als es noch keine Therapie gab.

    Die neuen Disziplinen der invasiven Radiologie und der minimalinvasiven Chirurgie ermöglichen inzwischen die zielgenaue Ausschaltung kleinster Aneurysmen von Hirngefäßen oder Entfernung von Hirngefäßthrombosen und die millimetergenaue Zerstörung eines Tumors. Die „Knopflochchirurgie“ und Arthroskopie sind ein selbstverständlicher Bestandteile der modernen Chirurgie.

    Als Allgemeinarzt erlebte ich in der Hausarztpraxis die Vielzahl der Erkrankungen, die psychosomatischen Auswirkungen sozialer Konflikte und die Freude, wenn meine Therapievorschläge geholfen haben. Nachdem ich meine Praxis verkauft hatte, um eine Privatpraxis zu führen, war ich ein Jahr später als Urlaubsvertreter gerade eine Woche in meiner früheren Praxis tätig, als mein Nachfolger plötzlich schwer krank wurde und ein neues Herz brauchte. Ich führte auf Bitten seiner Frau dann zwei Jahre lang seine Praxis neben meiner eigenen Praxis, bis er wieder zurückkam. Anschließend arbeitete ich zehn Jahre lang als Geschäftsführer einer Firma für Sozialimmobilien und entwarf unter anderem Deutschlands größte Mutter-Kind-Klinik. Ich begleitete den Bau und leitete die Klinik anschließend. Bis zum Beginn meiner Rente war ich dann zehn Jahre in der neurologischen Akutmedizin und Rehaklinik tätig.

    Obwohl es seit Menschengedenken eine vornehme Pflicht der Ärzte ist, Schwerstkranken und Sterbenden beizustehen, wurde erst 1969 von der englischen Krankenschwester, Sozialarbeiterin und Ärztin Cicely Saunders das erste Hospiz im St. Christopher´s Hospital in London eröffnet. Sie begründete die moderne Palliativmedizin und den weltweiten Bau von Hospizen. Das ist eine der herausragenden Errungenschaften der Menschlichkeit. Dankenswerterweise haben sich auch die deutschen Krankenkassen inzwischen entschlossen, diese Form der Medizin und Pflege finanziell zu unterstützen.

    Die Palliativmedizin ist mir seit meiner Assistentenzeit auf der Kinderkrebsstation ein Hauptanliegen in meiner ärztlichen Arbeit. Deshalb habe ich auch rasch die Gelegenheit ergriffen, die Zusatzbezeichnung Palliativmedizin zu erwerben, als diese in die Weiterbildungsordnung eingeführt wurde. Und es war mir wichtig, ein Buch[1] über meine Erfahrungen im Umgang mit schwerst kranken, sterbenden und genesenden Menschen zu schreiben. Glücklicherweise trug Birgit viele gute Gedanken und das Titelbild bei.

    Da ich seit meinem 65. Geburtstag regelmäßig in den Notfallpraxen Leonberg und Stuttgart arbeite, schließt sich der Kreis für mich. Ich bin wieder in meinem ursprünglichen Gebiet als Hausarzt tätig und freue mich, wenn ich Patienten treffe, die ich schon in der Kinderklinik oder in meiner Praxis behandelt habe. Wir werden miteinander alt. Und ich finde meinen Beruf immer noch spannend und sehr befriedigend.

    Jetzt verfolge ich die Fortschritte der Technik in der Medizin eher aus einer Beobachterrolle, wenn auch sehr interessiert.

    Die Entwicklung der künstlichen Intelligenz hat natürlich auch in der Medizin Einzug gehalten. Früher habe ich das EKG selbst beurteilt, heute nimmt der PC mir diese Leistung ab. – Aber ich bin dankbar, dass ich gelernt habe, ein EKG zu lesen, denn der PC macht auch immer wieder Fehler! – Diese Technik verführt zu Abhängigkeit und geringer persönlicher Untersuchung. Ich diagnostiziere meist eine Pneumonie immer noch mit Anamnese und Auskultationsbefund, um dann eher selten ein Röntgenbild anzuschießen. Einige jüngere Kollegen verordnen schon bei Husten gleich ein Thorax-CT.

    Seit 2019 kann Google mit künstlicher Intelligenz, die mit genetischen Daten gefüttert ist, die Struktur von Proteinen deutlich besser modellieren als alle Wissenschaftler.[2] Gentherapie kann eine Form der Erblindung aufhalten. Im Labor gezüchtete Immunzellen bekämpfen Tumoren. Von künstlicher Intelligenz unterstützte Systeme diagnostizieren Hautkrebs, prognostizieren Nierenversagen und entdecken Herzprobleme früher als Ärzte. Im Blut lässt sich der Fortschritt von Krebs früher feststellen als durch andere körperliche Anzeichen. Entdecken die neuen Verfahren nur 20 Prozent aller Tumoren so früh, dass sie behandelt werden können, hätte dies einen größeren Effekt als viele Therapien, die später zum Einsatz kommen. Besonders wichtig sei es, sagen die Onkologen, falsch positive Krebsdiagnosen zu vermeiden: Wir sollten keinen Krebs diagnostizieren, der gar keiner ist.

    Biologie und digitale Technik wachsen zusammen. Es entsteht eine Datenmedizin, die von künstlicher Intelligenz angetrieben wird und die Nutznießer von Daten auf den Plan ruft.

    Die Gesundheitskarte, die unser derzeitiger Gesundheitsminister anstrebt, soll alle relevanten Daten eines Menschen enthalten, damit sie von den behandelnden Ärzten gelesen werden kann. Das Problem: Die Karte wird auch von Hackern gelesen. Das gilt besonders bei Arztpraxen, deren EDV-System nicht abgesichert ist gegen Eindringlinge. Absolut sicher wirkt auch hier das Murphy´sche Gesetz: Wenn etwas Schlimmes geschehen kann, wird es auch geschehen. Der Gesundheitskarten-Patient ist nicht nur für wohlmeinende Ärzte gläsern. Auch die Wirtschaft, die PR-Strategen, die Versicherungen, die Arbeitgeber werden ihre Vorteile aus dem Wissen ziehen, das sie sich auf mehr oder weniger verborgenen Wegen besorgen. Und die Folgen werden ganz sicher nicht nur gut sein für die betroffenen Patienten.

    Wenn wir schon bei der Bürokratie sind: Ich erinnere mich daran, dass ich als Schüler immer wieder mit meinem Vater zur Kassenärztlichen Vereinigung fahren durfte, wenn er einen Schuhkarton mit Kassenscheinen am Quartalende abgeben wollte. Inzwischen ist die Abrechnung mit dem PC zur Pflicht geworden. Das hat so manchen Arzt dazu veranlasst oder ihm zumindest die Entscheidung erleichtert, seine Praxis zu verkaufen oder zu schließen, da er dieses „neue Zeug“ nicht mitmachen wollte. Als ich ein paar Jahre lang schon meine Praxis hatte, entschloss ich mich, neben den Karteikarten auch einen PC für die Abrechnung zu benützen. Das war ein richtiges Problem, denn obwohl ich professionelle Hilfe hatte, klappte es mit dem ersten System nicht. Erst das zweite funktionierte. Jetzt rechnen wir bequem im PC ab und schicken die Daten online an die KV. Das Geld bekommen wir auch nicht schneller als früher, aber wir werden viel gründlicher kontrolliert, ob wir irgendwelche Durchschnitte überschreiten, die einen Regress rechtfertigen.

    Im Krankenhaus werden die Fallpauschalen nachgerechnet und optimiert, die bei der Behandlung der Krankheiten von den Kassen vergütet oder mit Abzug oder Zuschlag belegt werden. Immer mehr entscheiden Verwaltungsleute über die Umstände, die zur Entlassung führen. Die Fallpauschale ist ein verheerendes Mittel, um die Menschen, die in der Medizin für die kranken Menschen arbeiten, vom Patienten weg zu führen und sich auf den materiellen Gewinn zu konzentrieren. Für die Verwaltungsleute ist nur der ein guter Arzt, der den Gewinn des Krankenhauses steigert. Die Zuwendung zu einem Patienten wird systematisch verringert, weil die Ärzte, das Pflege- und Therapiepersonal sonst mit der vorgeschriebenen Dokumentation nicht zurechtkommen. Der Begriff der „blutigen Entlassung“ und die zunehmende Zahl der Überlastungen beim Personal sind schlimme Zeichen für unmenschliche und fehlgeleitete Verwaltungsmedizin. Die Fallpauschalen sollten unbedingt zugunsten einer patientenzentrierten und zuwendungsorientierten Versorgung abgeschafft werden. Es ärgert mich heute noch, wie viele ellenlange Briefe ich in der Rehaklinik diktieren musste, weil die Rentenversicherung verlangte, viele Einzelheiten mehrfach an verschiedenen Stellen im Brief zu wiederholen. Ich empfinde das als erzwungene Verschwendung von wertvoller Zeit, die wir besser dem Patienten zugutekommen lassen sollten. Ich warte jetzt darauf, dass wir bald einen „Facharzt für Verwaltung“ bekommen.

    Die Technik ist fabelhaft fortgeschritten. Aber die menschliche Seite, die Zuwendung, das qualifizierte und professionelle Gespräch kommen immer mehr zu kurz. Die Zahl der Psychiater und Psychotherapeuten ist konstant viel zu klein. Das sieht man auch an der Tatsache, dass es extrem schwierig wenn nicht unmöglich ist, für Kriseninterventionen rasch einen Therapieplatz zu bekommen. Und chronisch kranke Psychiatriepatienten könnten viel besser geführt und behandelt werden, wenn mehr Ärzte mehr Zeit hätten, um Therapiegespräche in kürzeren Abständen anzubieten, um eine bessere Beziehung entwickeln und aufrecht erhalten zu können.

    Die moderne Medizin hat genau so große Schattenseiten, wie sie Licht verströmt. Das sollten wir uns sehr bewusst machen.


    [1] Wenn das Licht naht- Der würdige Umgang mit schwerkranken, genesenden und sterbenden Menschen, Verlag Weinmann, Filderstadt.
    [2] SPIEGEL Nr. 1 vom 28.12.2019, S. 57

  • Kapitalistisch erzogen

    (11.12.2019)

     

    Getrieben, gereizt, gierig
    rastlos durch Zeit und Raum rasend
    verbrannten sie die geschenkte Gelegenheit
    ihre Umwelt  wahrhaftig zu berühren 

    Am Ende gab es eine gewaltige Grube
    gefüllt mit grimmigen Gestalten
    ohne wesentliche Wärme

    ֎֎֎

  • Es war ein Schüler in Thule

     

    Es war ein Schüler in Thule
    Gar fleißig bis ins Grab
    Dem strebend seine Schule
    Smartphone als Lehrer gab.

    Es lehrte ihn zu wischen
    Zu spielen Starwars, Schach
    Bis an Computertischen
    Er tot zusammen brach.

    Man trägt ihn schwarz zu Grabe
    Schreibt auf Kreuz und Stein.
    Hier ruht die Wundergabe
    Ein Avatar zu sein.

  • Tschüß, süßes Mädchen!

    Gestern waren wir in Bremerhaven und haben uns von der „Seuten Deern“ verabschiedet.

    Sie sieht erbärmlich aus.

    Sie war im Hafenbecken gesunken, dann hat man sie ausgepumpt und mit Luftsäcken und Leinen wieder hochgehoben. Zwei  Millionen Liter Wasser müssen pro Stunde aus dem Schiffsrumpf gepumpt werden, damit sie nicht wieder absäuft.

    Das Absaufen der Seuten Deern ist ein Menetekel.

    Es zeigt, was passiert, wenn man sich nicht kümmert, wenn man den Dingen ihren Lauf, wenn man alles verrotten läßt.

    Wir wird bange um die „Deutschland“, um die Alexander von Humboldt.

    In die Schulen in Bremen, die Universität, überall regnet es hinein.

    Die Krankenhäuser und der Flughafen, alle haben Aufsichtsräte, die das Absaufen gar nicht bemerkt haben. Die Bremer Landesbank hatte gar die Finanzsenatorin als Aufsichtsratsvorsitzende. Nun steht von der Bremer Landesbank nur noch das Gebäude auf dem Domshof, die Bank selber ist weg.

    Lothar Probst, Politikwissenschaftler aus Bremen, schreibt im Weserkurier über den Kampf um die Schwarze und die Grüne Null.

    Es ist schon klar, was er damit meint. Der fiskalischen Sparpolitik steht das Klimaschutzpaket gegenüber.

    Aber die Politik der grünen Null besteht darin, zur Weltklimakonferenz zu fahren und anschließend an den Leichtathletikmeisterschaften in Katar teilzunehmen, wo die Sportler um Mitternacht Marathon laufen müssen, und selbst dann noch reihenweise umkippen.

    Es ist ein schönes Wortspiel, und es ist ein schönes Farbenspiel, der Kampf um die grünen und schwarzen Nullen.

    Trotzdem gibt es noch andere Nullen.

    Es gibt auch viele Standpunkte.

    Es gibt Menschen mit einem geistigen Horizont mit dem Radius von Null, die genau das als ihren Standpunkt bezeichnen.

    Und so geben wir unser Geld dafür aus, pro Stunde 2 Millionen Liter Wasser aus dem Bauch der Seuten Deern in das Bremerhavener Museumshafenbecken zu pumpen, und unser CO2-Abdruck entsteht durch das Klimatisieren einen Leichtathletikstadions in der Wüste von Katar. Wir sind dafür mitverantwortlich, weil wir da mitmachen.

    Erich Kästner schrieb:

    Allein ging jedem alles schief.
    Da packte sie die Wut.
    Und man bildete ein Kollektiv
    Und meinte, nun sei’s gut.
    Addiert die Null zehntausend Mal,
    rechnet‘s nur gründlich aus,
    multipliziert‘s mit jeder Zahl:
    Steht Kopf, es bleibt Euch keine Wahl:
    Zum Schluss kommt Null heraus.

    Bitte: Stellt die Pumpen ab und gebt der Seuten Deern ihren Frieden.

    30.9.2019

  • Nachkriegszeit – Was uns geprägt hat

     

    Nachkriegshunger, Rock‘n Roll
    Kartoffelsack gefunden, toll
    fremde Panzer, Lederhose
    Selbstbewusstsein gegen Null
    Man macht, man tut, die ganze Schose
    Nazideutschland, Sündenpfuhl
    betrifft uns nicht, zusammenhalten
    Untaten wir – nie! Das war‘n die Alten
    Kohle hab ich dir geklaut, verzeih
    Angst vor Mangel, Krieg und Polizei
    Lehrer prügeln, Hosenboden
    Für die Heizung Wälder roden
    Kindergarten Ringelreihen
    Taufe feiern, Kleider leihen
    sich in Suppenschlangen reihen
    muss den Sonntagsanzug schonen
    Spiel um Pfennige mit Bohnen
    Hüpfen auf den Gehwegplatten
    werfe Steine nach den Ratten
    Massenflucht kommt aus dem Osten
    leben hier auf unsre Kosten
    Flüchtling sein, das war ein Makel
    doch der Krieg war das Debakel
    Die Gesellschaft vaterlos
    Frauenleistung, grandios
    Mauerbau und Kuba-Krise
    Kalter Krieg war die Devise
    Wirtschaftswunder ließ vergessen
    Man konnte wieder richtig essen
    Die Gesellschaft aber blieb noch starr
    mit Schichten, Naziresten, sehr bizarr
    Die Studenten mit wirren Gedanken
    Begannen über Demokratie zu zanken
    Ist Kommunismus besser mit Ho-Chi-Minh
    Kommune oder Mao alles Widersinn?
    Gegen Kapital demonstriert und für Vietnam
    Gegen Reza Palavi kam‘s zum Melodram
    Die RAF begann zu morden
    Gewissensprüfung aller Orten
    Beatles, Stones, die Popmusik
    Stehblues, Röcke kurz und dusselig
    Diskoabende laut und anschmiegsam
    Im Lärm und Alkohol jedoch einsam
    Dann war das Studium zu Ende
    Fixiert im Kopf die Meinungsbände
    All das was uns geprägt
    uns heute emotional bewegt

  • Die Gedankenfresser

    Victor ist nervös. Der ranghöchste Präsident der Welt wartet auf seinen Vortrag. »Sir, wir haben einige Fehlermeldungen, doch die mit Abstand Interessanteste ist diese hier.«

    »Nun erzählen Sie schon«, erwidert der Präsident ungeduldig.

    »Von allen Personen, die eine Mensch-Maschine-Schnittstelle nutzen, fallen exakt zwölf aus der Reihe.«

    »Aus der Reihe?«, echot Präsident Zabidar.

    »Sie erlauben keinen Zugriff auf ihre Gedanken«, erläutert der blutjunge Assistent, der seine Entdeckung eher als erschreckend befindet als darüber stolz zu sein.

    Der Präsident zuckt mit den Schultern, da ihm ganz offensichtlich die Tragweite der Aussagen unklar ist. »Was genau wollen Sie damit sagen?«

    »Unser Projekt wird ständig verbessert. Doch es scheint Nutzer zu geben, die unser top secret Anliegen nicht nur spüren, sondern sogar aktiven Widerstand leisten.«

    »Widerstand?« (mehr …)

  • FKK im Internet
    Wollen wir uns gründen
    Intime Daten, Geld und Bett
    Und all die Steuersünden

    Die mühsam virtuell mit List
    Häcker sich erschleichen.
    Schicken wir als public Mist
    Zu den Datenleichen.

    Spanner in der Hackerwelt
    Mögen googeln,  twittern,
    Was das Netz Geheimes hält
    Bringt uns nicht zum Zittern.

    FKK entspannt, befreit
    Von Ängsten, Scham und Sorgen
    Spyware wandelt Bit und Byte
    In Me too von Morgen.

    Böse Hacker können sich
    Zu Avatars verwandeln.
    Journalisten fürsorglich
    Fake News als wahr behandeln.

    Also dann:
    Zeige jeder, was er kann!
    FKK im Netz macht frei!
    Und Datenklau ist auch vorbei!

    Schließt Euch uns, Ihr Leute an
    Frei sei Web und Master!
    Dann surfen weder Frau noch Mann
    Beim Date in ein Desaster!

     

     

  • Beitrag zu der Lesung „Eine Reise zu den Sternen“
    BDSÄ-Kongress in Bad Herrenalb 2019

     

    Kubrick, Nixon und der Mann im Mond

    Bei oberflächlicher Betrachtung gilt Donald Trump als Erfinder der Fake-News und seine PR-Managerin Kellyanne Conway als Erfinderin der alternativen Fakten. Eine kurze Überlegung macht aber klar, dass Lug und Trug, Tarnen und Täuschen, Hinterlist und Skrupellosigkeit schon immer das geistige und charakterliche Handwerkszeug der Menschen waren und in allen Bereichen zum Alltag gehörten, in denen es um Geld, Ansehen, Gewinn und Macht geht.

    Die folgende Geschichte zeigt dies beispielhaft, allerdings mit einer besonderen Variante.

    Juri Gagarin, der russische Kosmonaut, war der erste Mann im Weltall gewesen, und das forderte die US-Regierung heraus, unbedingt den nächsten Schritt in der Raumfahrt zu gewinnen, nämlich tatsächlich Menschen auf den Mond zu schicken, die dort Fußabdrücke hinterlassen. John F. Kennedy hatte die Losung ausgegeben, die NASA solle das Mondlandungsprogramm umsetzen, und innerhalb von wenigen Jahren gelang es tatsächlich, mit Apollo 11 die erste Mannschaft auf den Mond zu schicken. Es war eine vorrangige Frage des Prestiges und eine Materialschlacht dazu.

     

    Darüber berichtet der ARTE-Film Kubrick, Nixon und der Mann im Mond.

    Nixon, ein als Lügner und Krimineller überführter Präsident, hatte Angst, dass die Mondlandung nicht gelingen würde oder dass die Bilder vom Mond nicht gut genug sein könnten für den erfolgreichen Gebrauch als Propagandamaterial. Er beauftragte deshalb seine PR-Abteilung, im Studio einen Film zu drehen, der die Mondlandung vom 20. Juli 1969 zeigt. Diesen Film wollte man im Fernsehen zeigen, wenn die Originalbilder vom Mond nicht gut genug sein sollten, um einen gigantischen Propagandaerfolg auszulösen.

    Auf der Suche nach einem exzellenten Regisseur und einem diskreten Filmstudio fand man den berühmten Stanley Kubrick, der zu dieser Zeit in London den Film 2001 Odyssee im Weltraum drehte und eine passende Mondlandschaft im Studio zur Verfügung hatte. Über ein Wochenende entstanden mit Kubricks Hilfe und unter strengster Geheimhaltung die entscheidenden Mond-Szenen im hermetisch abgeriegelten Studio. Alle Beteiligten wurden anschließend mit neuen Identitäten ausgestattet und verschwanden in der Geheimhaltung.

    Der Film zeigt viele persönliche Interviews mit engen Nixon-Mitarbeitern wie Henry Kissinger, Alexander Haig, Lawrence Eagleburger, Donald Rumsfeld und dem Astronauten Buzz Aldrin und seiner Frau. Auch die Witwe von Stanley Kubrick wurde interviewt. Der Film zeigt, wie die Mitarbeiter Nixons von dem Betrug abgeraten haben. Noch schlimmer: Als der Film dann doch gedreht war und die Originalaufnahmen vom Mond nicht zu gebrauchen waren, bekam Nixon Angst vor der Entdeckung seiner Fälschung und verfügte, alle Beteiligten an der Verfilmung zu liquidieren. Ein CIA-Agent nahm sich der Sache an, tauchte ab, spürte die Zeugen in den verborgensten Winkeln der Erde auf und liquidierte sie. Nur Stanley Kubrick blieb aus Angst vor Verfolgung in seinem Anwesen und drehte nur noch dort. Er starb schließlich eines natürlichen Todes. –

    Der Kommentar und die Kritik in diesem Film machen an vielen Beispielen sehr deutlich, wie gewissen- und rücksichtslos Nixon vorging und wie viele Drehfehler in dem rasch zusammengestückelten Studiofilm enthalten waren.

    Die Abdruckspuren der Astronautenstiefel im „Mondsand“ waren viel zu tief, denn auch die schwere Schutzkleidung mit den Atemgeräten würde auf dem Mond wegen der auf ein Sechstel reduzierten Mondanziehung wesentlich flachere Stiefelprofile hinterlassen.

    Dummerweise hatte man zwei Studiolampen so aufgestellt, dass sie Schatten der Astronauten in zwei verschiedene Richtungen warfen.

    Und zufällig lag auf der Mondoberfläche auch noch ein kleiner Prospekt mit dem Portrait von Stanley Kubrick.

    Der Eindruck, den der unkritische Betrachter des Films gewinnt, ist eindeutig. Auch ich muss zugeben, dass ich entsetzt war! Mein Vorurteil über die gewissenlosen Politiker war voll bestätigt.

    Soweit – so schrecklich – so ungeheuerlich: dieser Betrug, diese Skrupellosigkeit, diese Hinterlist!

    Aber dann machte mich ein Freund, dem ich mein Entsetzen geschildert und den Link zu dem Film gegeben hatte, aufmerksam auf einen ausführlichen Artikel in Wikipedia. Hier wird erklärt, dass es sich bei dem Film um ein sogenanntes Mockumentary[1] handelt, also eine vorgetäuschte, absichtlich gefälschte Dokumentation, für die der Autor des Films, William Karel, sogar 2003 mit dem Adolf-Grimme-Preis für Buch und Regie im Bereich Information und Kultur ausgezeichnet wurde.

    Das Besondere des Films besteht darin, dass die bewusste und trickreiche Fälschung als eine prämierenswerte künstlerische Leistung dargestellt und belohnt wurde. Ich empfinde das als eine Einladung zur Fälschung. Außerdem wird die Bevölkerung dadurch erst recht in die Irre geführt, und man macht sich auch noch lustig über ihre Täuschbarkeit. Offensichtlich freut sich der Fernsehzuschauer darüber wie bei Verstehen Sie Spaß auch, wo ahnungslose Menschen zum Narren gehalten werden und noch darüber lachen sollen.

    Die angeblichen Zeitzeugen sind „zum Beispiel David Bowman (Astronaut in 2001: Odyssee im Weltraum), Jack Torrance (Rollenname des Hauptdarstellers in The Shining) und Dimitri Muffley (eine Kombination der Namen des sowjetischen Generalsekretärs und dem des US-Präsidenten in Dr. Seltsam oder: Wie ich lernte, die Bombe zu lieben).

    Weitere angebliche Zeitzeugen tragen Namen aus Filmen von Alfred Hitchcock: Eve Kendall (weibliche Hauptfigur in Der unsichtbare Dritte) und Ambrose Chapel (ein wichtiger Ort in Der Mann, der zu viel wusste (1956)).

    Als angeblich Beteiligter wird ein CIA-Agent namens George Kaplan genannt (ein fiktiver CIA-Agent in Der unsichtbare Dritte). Ein weiterer angeblicher Zeitzeuge ist ein New Yorker Rabbiner namens W. A. Konigsberg, eine Anspielung auf Allan Stewart Konigsberg, den bürgerlichen Namen von Woody Allen.“ (Wikipedia)

     

    Wenn man unter diesen Gesichtspunkten den Film anschaut und noch ein paar Fakten dazu liest, entdeckt man, dass die Interviews mit den Politikern kurze Videoschnipsel sind, die überall hinpassen und keinen direkten Bezug zum Problem haben. Sie sind sehr geschickt in den Film und seine geplante Falschaussage hineinkopiert. Auf das erste Hinschauen erscheinen sie glaubwürdig. Und deshalb sind wir als meistens autoritätshörige Menschen auch überzeugt vom Wahrheitsgehalt des ganzen Films.

    Wer ein bisschen sprachgewandt ist, entdeckt auch, dass die Untertitel der Interviews oft nicht mit den tatsächlichen Aussagen überstimmen.

    Soweit – so schrecklich. so ungeheuerlich: unsere leichte Beeinflussbarkeit, unsere Leichtgläubigkeit, unsere fehlende Unterscheidungsmöglichkeit von Fakten und alternativen Fakten.

     

     

    Quellen am 25.01.2019: 

    https://www.arte.tv/de/videos/025816-000-A/kubrick-nixon-und-der-mann-im-mond/

    https://de.wikipedia.org/wiki/Kubrick%2C_Nixon_und_der_Mann_im_Mond

    https://de.wikipedia.org/wiki/Adolf-Grimme-Preis_2003

    https://web.archive.org/web/20060429151052/http://www.grimme-institut.de/scripts/preis/agp_2003/scripts/beitr_kubrick.html

    [1] Engl. mock: vorgetäuscht, pseudo-, unecht

  • Beitrag zum BDSÄ-Kongress in Bad Herrenalb

    Lesung zum Thema „Freie Themen“, Moderation: Eberhard Grundmann

    Samstag 22. Juni 2019, 20 h

     

    Wir erinnern uns an den Schreck, als am 15. April dieses Jahres die Nachricht um die Welt raste, dass eine der berühmtestes Kathedralen der Welt, ein Wahrzeichen von Paris, ein Nationaldenkmal religiöser Baukunst und Touristenmagnet für etwa 13 Millionen Besucher jährlich und ein UNESCO-Weltkulturerbe lichterloh brannte, der Holzdachstuhl einbrach und einer der Spitztürme kurz nach Beginn des Brandes einstürzte. Dieses Feuer riss eine große und brennende Wunde in das Alltagsleben der Pariser und machte die kulturbewussten Menschen weltweit tief betroffen. Die Beileidsbekundungen aus aller Welt bestätigten, dass dieses Bauwerk ein Symbol völkerverbindender Kultur darstellt.

    Noch während der Löscharbeiten erklärte Präsident Macron, die Kirche werde wieder aufgebaut, eine groß angelegte Sammlung solle das Geld zusammentragen. Bereits nach 48 Stunden waren 700 Millionen Euro beisammen. Wenn in dieser kurzen Zeit schon so viel Geld bereitsteht, wird über die nächsten Jahre eine sehr große Summe zusammenkommen, die eine Rekonstruktion von Notre Dame ermöglicht. Zum Vergleich: Der Wiederaufbau der Dresdener Frauenkirche kostete 183 Mio. Euro. Allein diese Geschichte zeigt, wie sehr Kunstwerke, die aus dem Glauben an einen Gott entstanden sind, die Wertschätzung von Gläubigen prägen.

    .

    Und ich habe mir überlegt, wie ich selbst von religiösen Werken beeinflusst wurde.

    Ich bin zwar evangelisch konfirmiert, aber später aus Zorn über die Heuchelei in den christlichen Kirchen und aus tiefen Zweifeln an der Existenz eines Gottes aus der Kirche ausgetreten. Nichts in dem Apostolischen Glaubensbekenntnis glaube ich. Meine Wut über die vielfältigen Verbrechen innerhalb der katholischen Kirche mit deren Billigung und Tarnung hält an. Der Widerspruch zwischen dem enormen ideellen, spirituellen und finanziellen Wert der Kunstwerke und der angeblich unantastbaren Integrität und moralisch-ethischen Kompetenz, die von der katholischen Kirche propagiert werden, zeigt die Scheinheiligkeit offen.

    Unabhängig davon fühle ich mich intensiv angesprochen von den großartigen religiösen Kunstwerken, die aus tiefer Gläubigkeit entstanden sind. Aber ich glaube nicht, dass diese Kunstwerke ein Beweis für die Existenz eines Gottes sind, sondern bestenfalls Versuche darstellen, dem Ideal einer Wunschvorstellung Ausdruck zu verleihen.

    Als meine Großmutter mich anlässlich meiner Konfirmation zu einer zweiwöchigen Reise nach Florenz und Rom einlud, kannte ich schon die Grundzüge der römischen Geschichte, die Grundlagen von Latein und einige sehr wichtige klassische Musikwerke von Bach wie das Weihnachtsoratorium, die Matthäus-Passion und Händels Messias.

    Ich werde nie vergessen, wie mir vor den Uffizien in Florenz Michelangelos David-Statue zeigte, dass Anmut und Schönheit kein Gegensatz zu Wucht sein müssen. Als ich dann am Ostersonntag 1961 auf dem Petersplatz in der Menschmenge stand und anschließend durch den Petersdom ging, war ich nicht nur von der Andacht vieler Menschen, sondern besonders von der grandiosen Architektur der Kathedrale und ihrer Kunstwerke tief berührt. Ich stand lange vor der Pieta, die Michelangelo aus einem perfekten Marmorblock gemeiselt und 1499 als 25-Jähriger fertiggestellt hatte. Noch heute kann ich mich erinnern, wie ich von der Schönheit der Statue und der Trauer der Maria betroffen war. Allein der monumentale Faltenwurf in Marias Kleid und ihr verklärtes Gesicht sind unübertreffbare Meisterstücke für sich. Ähnlich erging es mir, als ich in der Sixtinischen Kapelle das Deckengemälde auf mich wirken ließ. Viele Jahre später fuhr ich extra nach Mailand, um dort im Dom die zweite Pieta Michelangelos anzuschauen, die auch sein letztes Werk war und unvollendet blieb.

    Wenn ich erklären soll, was zeitlose Schönheit für mich bedeutet, fallen mir sofort zwei Kunstwerke ein: diese Römische Pieta und eine singuläre Aufnahme von Arturo Benedetti Michelangeli von Galuppis 5. Klaviersonate: eine absolute Harmonie von Form, Material und spiritueller Aussage, eine nicht steigerbare Perfektion, eine absolut reine Darstellung.

    Bewegend ist für mich, mit welch kreativer Kraft, Fantasie und physischer Stärke Menschen ausgestattet werden, wenn sie mit tiefer Gläubigkeit Kunst planen und diese meisterlich, unverkennbar persönlich und zeitlos schaffen – für ihren Gott, dem sie dienen und sich und ihre Gaben als Kunstwerk zurückschenken.

    Über wie vielen Kunstwerken steht das S.D.G.! Das Soli deo gloria! Johann Sebastian Bach hat es oft benutzt, und Anton Bruckner schrieb demütig und wie ein kleines Kind über seine ultimative, seine Neunte Sinfonie „Dem lieben Gott“.

     

    Die Welt-Liste der malerischen Kunstwerke mit religiösen Themen ist unendlich lang.

    Nur ein paar persönliche Beispiele: Schon mehrfach bin ich in Colmar vor dem Isenheimer Altar gestanden, und im April habe ich wieder die Stuppacher Madonna bei Bad Mergentheim besucht, diese wunderbaren Werke von Matthias Grünewald.

    In der Kathedrale von Liverpool habe ich als Schüler einen Konzertabend von Simon Preston an der weltgrößten Orgel erlebt.

    Ich sehe mich in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche Berlin vor dem großen blauen modernen Glasfenster, das nach dem Wiederaufbau von dem französischen Glaskünstler Gabriel Loire geschaffen wurde und heute als Gegenstück zu den noch sichtbaren Mauerschäden an die Zerstörung im 2. Weltkrieg dient. Ich erinnere mich an das Freiburger und das Ulmer Münster, an den Hamburger Michel und an den Kölner Dom, der nach dem Vorbild der Notre Dame entworfen wurde.

    Die vielen Konzerte in der schlichten Kirche von Saanen im Berner Oberland, die ich als Student beim Yehudi-Menuhin-Festival über mehrere Jahre besuchen durfte, sind ein prägender Bestandteil meiner kulturellen Erfahrungen.

    Ich erinnere mich an zwei Stunden in der Westminster Abbey, und für mich als Musikliebhaber war es ein besonderes Erlebnis, die Kirche St. Martin-in-the–Fields am Trafalgar Square in London zu besuchen, aus der das weltberühmte Orchester Academy of St. Martin in the Fields stammt, das Neville Marriner gegründet hatte. –

    Obwohl Johann Sebastian Bach nicht katholisch war, schuf er nach seinem Kosmos an Passionen, Oratorien und Kantaten noch seine H-Moll-Messe, für mich eines der größten Musikwerke der Geschichte. Und Mozart beendete sein Leben mit dem Requiem. Auch Verdi komponierte mit seiner Missa da Requiem ein zeitloses und erschütterndes Dokument tiefster Gläubigkeit. Die Schöpfung und Die Vier Jahreszeiten von Haydn, die Requien von Pergolesi, Dvorak und Fauré gehören für mich zu eindrucksvollen Werken der religiösen Kunst. Am Ostermontag 1969 erlebte ich in Wien Beethovens Missa solemnis mit den Wiener Philharmonikern unter Leonard Bernstein. Und das Deutsche Requiem von Brahms zeigt, wie gut deutsche Texte zu religiösen Kompositionen passen.

    Ich erinnere mich an die vier Passionen, die Hellmut Rilling in Auftrag gab zu seinem Bach Musikfest 2000 in Stuttgart: Tan Dun komponierte seine Water Passion nach Texten von Matthäus und leitete auch die Uraufführung. Eine Markus-Passion wurde von Osvaldo Golijov komponiert, Sofia Gubaidulina schuf eine Johannes-Passion, und Wolfgang Rihm steuerte seine Messe Deus passus nach Texten von Lukas bei. Ich bin glücklich, dass ich die Uraufführungen besuchen konnte.

    Denken wir auch an die Schreibkunst, die seit Menschgedenken den religiösen und spirituellen Gedanken Form gab und den verschiedenen Glaubens- und Machtinteressen Ausdruck verlieh. Die Bibel gehört hierher und Dantes Comedia divina, die Thora und der Koran. Und machen wir uns bewusst, wie viele Menschen Gebete, religiöse und spirituelle Texte, Romane und Gedichte verfasst und künstlerisch gestaltet haben. Die Bibliotheken und Museen weltweit sind voll davon!

    Auch die Baumeister aller Jahrhunderte wollten ihrem Gott Denkmäler und Kirchen aller Art und in allen Größen schaffen. Jedes Land, das religiös geprägt ist, hat seine berühmten Kirchen. Ich erinnere mich noch an meinen Besuch in der Al Aqsa Moschee in Jerusalem und in der Hagia Sofia in Istanbul. Der Asakusa-Schrein in Tokio, die Pyramiden von Gize und die Pyramiden der Azteken und Maja, und Tempelanlagen wie in Angkor Wat sind ebenso zeitlose Werke höchster Baukultur, die nur durch religiöse Kraft möglich waren und den Menschen alle Opfer, oft auch das Leben, abgefordert haben.

    In diese Reihe der unverzichtbaren Kulturdenkmäler gehört auch Notre Dame. Ich denke, es ist nur folgerichtig, dass sie wieder aufgebaut wird. Auch die Dresdener Frauenkirche wurde mit vereinten Kräften neu geschaffen und ist heute wieder ein Haus Gottes, in dem ihm mit Musik und Sprache, mit Stille und Glauben gedient und ein mahnendes Zeichen für Frieden und Versöhnung gesetzt wird.

    Vielleicht gibt es diesen Gott ja. Wenn es ihn nicht gibt, haben sich die Menschen mit der Vorstellung, Gott existiere, etwas geschaffen, das ihnen in und aus tiefster Verzweiflung helfen und schöpferische Kraft ohne Ende mobilisieren kann.

    Eine kleine Geschichte will ich als Beispiel anfügen.

    Drei Maurer, die an derselben Mauer arbeiteten, wurden gefragt, was sie da gerade tun.

    Der erste sagte: „Ich verdiene meinen Tagelohn.“

    Der zweite antwortete: „Ich verdiene Geld, um meine Familie ernähren zu können.“

    Der dritte strahlte: „Ich helfe beim Bau einer Kathedrale!“