Schlagwort: Gesellschaft

  • Mozarts Weltformel – Des Himmels Töne

    Wien, 2020

    Die Wiener Staatsoper war bis auf den letzten Platz besetzt, obwohl für eine Konzertkarte tausend Euro verlangt und auf dem Schwarzmarkt die Hunderttausend geknackt wurden. Wenn das berühmte Konzerthaus kurzfristig räumlich hätte erweitern können, hätte sich ganz Wien in einen Konzertsaal verwandelt. Die Hälfte der Einkünfte war bereits für gute Zwecke verplant, der Rest für dringliche Investitionen.

    Der Hype um dieses eine einzige Konzert führte sogar dazu, dass man den europäischen Staatshäuptern dringend davon abriet, an jenem Abend zu erscheinen, der das Gesicht der Welt dramatisch verändern sollte. Die Unerschrockenen widersetzten sich und taten es trotzdem.

    Niemand glaubte an diesen Schmarren. Sie kamen aus Neugierde. Selbst diejenigen und vor allem diejenigen, die nicht einmal Fan von Mozarts Musik waren, bezahlten bereitwillig, um am Zauber der geheimen Weltformel teilzuhaben.

    Ursprünglich sollten die bislang unbekannten Werke des Meisters vom berühmtesten und natürlich besten Pianisten vorgetragen werden. Als dieser die Notation, in geheimen Tresorräumen einer weltbekannten Bank sicher verwahrt, studierte, soll er weinend und verzweifelt das verlockende Angebot abgelehnt haben. Kaum hatte er flüchtend die Drehtüren passiert, wurde er von Unbekannten einkassiert und seither nicht mehr gesichtet. Ob dummes Geschwätz oder nicht, der Presse war es zu verdanken, dass die Story den Rang eines Mythos erzielte, bevor die Uraufführung stattgefunden hatte. Der Geschmack des Übernatürlichen hing in der Luft. Die Vernunftbegabten ließen sich freilich nicht irritieren. Einige von ihnen hatten vorsorglich mehrere Konzertkarten erstanden, um sie dann wie eine Aktie zu handeln. Die Börse munkelte, sie hätten absichtlich einen Mythos geschaffen.

    Weder der Veranstalter noch die Stadt Wien oder sonst jemand hatte eine klare Vorstellung darüber, welche Art von Musik es war, die Mozart »Des Himmels Töne« getauft hatte. Nur eine Sache stand fest.

    Dem nächsten Kandidaten wurde auferlegt, die Notation frühestens zwei Stunden vor dem Auftritt studieren zu dürfen, ohne sie am Flügel gespielt zu haben. Dass hierfür blutige Anfänger nicht geeignet sind, lag auf der Hand. Von zehn Auserwählten war lediglich eine Person bereit, dieses sonderbare Risiko einzugehen.

    Thauma Anastassopoulos betrachtete die Notenblätter in Anwesenheit von acht perfekt gekleideten und bewaffneten Sicherheitsleuten, die von Musik ebenso wenig verstanden wie Babys von Molekularbiologie. Die junge Frau verkörperte die geeignete Mischung, um die Ausführung des Vertrages sicherzustellen. Ihre Befürchtung, ebenfalls in Tränen auszubrechen, bewahrheitete sich glücklicherweise nicht. Dennoch sträubten sich ihr die Nackenhaare.

    Nun, es war wahrhaftig kein Stück, das die Existenz von zwölf Fingern notwendig machte oder gar von Händen, die zwei Oktaven gleichzeitig überspannen. Auf den ersten Blick entdeckte sie weder obskure Wechsel noch zweihundertsechsundfünfzigstel Noten, die die Finger verknoten. Die Pedalführung dagegen schien dem Komponisten sehr wichtig zu sein. Alles in allem war es für Thauma absolut machbar, das Stück beim ersten Vortrag fehlerfrei vorzutragen. Sie hatte die Komposition im Kopf. Jede einzelne Note. Im Zweifel würde sie es anderswo noch einmal vortragen können, aber das war ihr Geheimnis, und das behielt sie für sich.

    Thauma konnte sich als Kennerin von Mozart kaum vorstellen, dass ausgerechnet er dieses Stück komponiert haben sollte. Diesen Verdacht aber sprach sie nicht aus.

    Ihr blieben noch achtzig Minuten zum Durchatmen.

    Sie seufzte leise, wendete das Notenbündel und begann von vorn. Im ersten Durchgang hatte sie sich auf die technische Umsetzung konzentriert. Jetzt war die Emotionalität des Stücks zu bewerten und zu interpretieren. Nirgendwo gab es Anweisungen in der Art von »smorzando« oder »dolce e con affetto«. Als sie in die Seele des Werks eintauchte, wurde ihr bewusst, warum es solcher Anweisungen nicht bedurfte.

    In ihrem Geist entpuppte sich die Komposition als umfassende Wahrnehmung. Noten verwandelten sich in Musik, Musik in Farben, Farben in Bilder, Bilder in Szenen, Szenen in einen Film. Nachdem sie sich durchgeblätterte hatte, blieben noch vierzig Minuten, in denen sie sich mental auf musikalische Reise begab.

    Wien, 1791

    Er starb zu früh, aber nicht an Armut oder Krankheit. Sein Geheimnis wurde gemeinsam mit ihm zu Grabe getragen und zum Vermächtnis einer erlesenen Gruppe von Eingeweihten. Allerdings nicht in Wien, wie allgemein angenommen. Vor und zu seiner Zeit als auch jetzt wirken Kräfte, die eine Entfesselung überirdischen Zaubers der Musik nicht gestatten. Neben Mozart gab es freilich andere Komponisten, die unbewusst die Formel des himmlischen Codes entzifferten. Er aber hatte die Essenz gefunden.

    Die Anordnung der Töne, das Jonglieren dieser mit- und untereinander, die Kombinationen sämtlicher Eigenschaften, die ein Notenblatt hergibt, sind essentiell, um jene Schwingungen zu erzeugen, die subatomare Teilchen im CERN in die Vergangenheit oder sonst wohin verschwinden lassen. Es sind jene Schwingungen, die uns an die Musik des Himmels erinnern, weil sie Tore aufstoßen, die uns gewöhnlich verschlossen bleiben.

    Mozart scherte sich wenig um Schwarze Löcher, Geisterteilchen und Neutrinos, über die erst hundert Jahre später gesprochen werden würde. Zu seiner Zeit fuhr man mit der Pferdekutsche, und von moderner Technologie war man gefühlte Lichtjahre entfernt. Er wusste nicht bewusst von der Existenz fraktaler Muster. Er fühlte sie im Sinne einer harmonischen Musik. Er experimentierte nicht mit Pi, Euler, Primzahlen oder dem goldenen Schnitt. Er verarbeitete mathematische Gesetze und Regeln unbewusst, um Werke zu schaffen, die Jahrhunderte später noch erhört und gehört werden würden, eben weil sie den Gesetzen des Universums folgten.

    Wien, 2019

    Wie viele Zufälle in einem Universum gestattet sind, legt der Meister vor Herausgabe des Universums selbst fest. An diesen kann im Nachhinein selten oder gar nichts geändert werden. Mozart war ein Fall von ganz besonderem Zufall. Er und seine Musik existierten. Die Wächter hatten zwar beschlossen, Mozart das Handwerk zu legen, aber bei der Vernichtung seiner himmlischen Komposition waren sie nicht gründlich genug gewesen. Die originale Notenschrift aus Mozarts Hand gelangte auf Umwegen zwei Jahrhunderte später in die Hände eines Kunsthändlers in Genf und von dort zu einem seiner besten Kunden, einem musikbegeisterten Physiker. Als Akuma das historische Schriftstück erblickte, lächelte und flüsterte er:
    »Veni, vidi, vici.«

    Der Physiker hörte im Geiste die Musik des Himmels, als er die Notation überflog.

    Kaum war das Dokument in seinen Besitz übergegangen, plante er detailliert das weitere Vorgehen. Er überreichte eine Kopie an einen Studienfreund in Wien, der ihm für viel Geld versprach, ein besonderes Konzert auszurichten, um zu testen, welche Auswirkungen jene Musik auf ein unbedarftes Publikum hätte.

    Wien, 2020

    Akuma beobachtete das Spektakel nicht persönlich. Kleine Kameras zeichneten alles auf. Auch das unmerkliche Seufzen der talentierten Pianistin. Thauma Anastassopoulos setzte sich in einen bequemen Sessel, nippte ab und und zu an einem Glas Wasser und genoss das Schauspiel, das sich  ihrem inneren Auge darbot. Als würde Mozart persönlich sprechen, nein – als würde das Universum zu ihr sprechen. Währenddessen füllten sich die Reihen des gediegenen Konzertsaals.

    Wien, 1791

    Mozart fiel den Wächtern auf. Spätestens zu jener Zeit, als in einem Moment von größter Taurigkeit Melodien auf seinem Hammerklavier erklangen, die die Eigenschaften und den Verlauf der Raumzeit beeinflussten. Er hatte die Sprache des Himmels verstanden. Darüberhinaus besaß er die Frechheit, die Sprache des Himmels in Form von Noten zu sprechen, wenngleich jene kritischen Kompositionen das Gesicht der Öffentlichkeit niemals erblickt hatten. Sie geboten ihm eindringlich, jenes Stück niemals der Menschheit zu offenbaren. Er konnte der Versuchung nicht widerstehen, die göttlichen Melodien zu spielen, wenngleich in seinem persönlichen Reich niemand Ohrenzeuge wurde. Die Wächter kehrten zurück und drohten ihm mit dem Leben, würde er nicht aufhören, die gefährlichen Passagen zu spielen. Er tat, wie ihm geheißen. Kaum waren die Wächter verschwunden, übersetzte er sein Werk, das bis zu diesem Tage allein in seinem Geiste existierte, in Notenschrift. Als er die Arbeit erledigt hatte, fiel ihm der passende Name für das größte Werk aller Zeiten ein:
    »Des Himmels Töne«.

    Kurz darauf schlief er erschöpft ein, und als er wieder erwachte, waren sämtliche Notenblätter verschwunden. Erfüllt von Panik und Angst suchte er das kostbare Gut, das ihm gestohlen worden war. Seitdem verstrich kein Tag, an dem er nicht um sein Leben fürchtete. Und es sollte nicht lange dauern, dass die Wächter ihren Auftrag erfüllten. Selbst seine direkte Nachkommenschaft wurde im weiteren Verlauf auf Null reduziert.

    Wien, 2020

    Als Thauma Anastassopoulos den Konzertsaal betritt, entlädt sich die knisternde Spannung mit tobendem Beifall. Niemand hat eine blutjunge Pianistin in strahlend weißem Brautkleid erwartet. Wenig später ist ihr Gesicht in den sozialen Medien verewigt, tituliert als die Braut, die den Himmel erklingen lässt.

    Thauma verneigt sich. Als Ruhe einkehrt, besteigt sie den Thron, berührt einmal sanft die Notation und dann …

    Überirdische Stille überflutet die Menschen. Überwältigende Traurigkeit stellt sich ein. Tränen funkeln auf geschminkten Gesichtern. Ein jeder ist in seinem eigenen Trauma gefangen, das ihn fesselt. Niemand regt sich. Nur die Finger der Pianistin rauschen über die Tasten.

    Das Präludium ist geschafft, und plötzlich erlischt im Konzertsaal das elektrische Licht. Allein die Bühne ist in flackerndes Kerzenlicht getaucht. Thauma spielt unbeeindruckt weiter. Sie ist der weiße Fleck im Universum, der um so heller erstrahlt, als dass er von Dunkelheit umgeben ist.

    Thauma selbst wird zum Zentrum einer sich drehenden Lichtkugel, aus der warmes Licht strömt. Das Publikum erstarrt vor Faszination und schaut gebannt auf das hell leuchtende und schließlich bunte Farbenspiel, das Sicht in andere Dimensionen erlaubt. Die sich immer schneller drehende Kugel nimmt an Umfang zu, bis sie einen Durchmesser von fünf Metern erreicht. Ein Wind tobt durch die Kerzen, der sie schließlich auspustet. Notenblätter flattern davon, umkreisen die Kugel und scheinen zu verschwinden. Kleine Gegenstände folgen ihnen nach. Plötzlich wird die Rotation gestoppt. Unvermittelt schrumpft die Lichtkugel auf Punktgröße zusammen, bis sie schließlich verschwindet. Nach kurzer Finsternis ist der Konzertsaal wieder hell erleuchtet.

    Als Thauma das Ende der Komposition erreicht, erwacht sie aus ihrer Trance und wird gewahr, was geschehen ist. Erschrocken blickt sie auf blutende Fingerspitzen herab. Zehntel Sekunden später ist sie nicht mehr dort, wo sie war. Die Wächter breiten wie Engel ihre Flügel aus. Das Licht des Vergessens löscht, was nicht für Menschen zugelassen ist.

    Wien, 2020

    Unerschrocken schaute sich Akuma das Debakel an. Nicht alle seiner kleinen Kameras waren in der Lage gewesen, die kritischen Szenen aufzuzeichnen. Zwei hatten dem unerklärlichen Sturm standgehalten. Weder das Erscheinen der Wächter, die Löschung der Gedächtnisinhalte noch das Verschwinden der Pianistin konnte ihn davor zurückschrecken, ein geheimes Experiment durchzuführen.

    Entschlossen fuhr er an seine Arbeitsstätte, wo Teilchenbeschleuniger auf  Befehle warteten. Heute würden sie mit Musik gefüttert werden. Und dann geschah genau das, was die Wächter ursprünglich zu verhindern versucht hatten.

    Wie aus dem Nichts heraus tauchte ein strahlend weißes Licht auf …

    Mozarts Erbe wurde wiedererweckt. Das Tor zum Himmel öffnete sich.

    Auf Akumas Bildschirm blinkte die Nachricht: »Heureka!«

    Mozarts Klavierkonzert war die musikalische Fassung einer umfassenden Theorie der Quantengravitation:

    »Mozarts Weltformel«

    Was geschieht, wenn die Menschheit daran

  • Ein paar wenige Erdenbürger waren verzweifelt. Im Spiegelteleskop sahen sie den Todesbringer herannahen. Da sie Schweigepflicht einzuhalten hatten, durften sie der Öffentlichkeit nicht offenbaren, dass der herannahende Weihnachtsstern in Wirklichkeit ein Todesbote war.
    Die Tage der Erde waren gezählt. Es blieben vierundzwanzig Tage.

    24!

    Die Wissenschaftler beschlossen, ein Notsignal ins Weltall zu senden, selbst wenn die Wahrscheinlichkeit, von einer außerirdischen Zivilisation erhört zu werden, gegen Null ging.

    Wenige Monate zuvor hatten sie auf einer Konferenz getagt und fröhlich über verschiedene Szenarien des Weltuntergangs spekuliert.

    Unter anderem darüber, wie die Erde in etwa sieben Milliarden Jahren vor der sich aufblähenden Sonne gerettet werden könnte. Was zu tun sei, bevor auf Erden ein Inferno ausbräche; was zu tun sei, wenn die Mutter ihre Kinder – die Sonne ihre Planeten – zu fressen droht.

    Obwohl das Szenario erst Milliarden Jahre später eintrifft, und das Überleben der Menschheit bis dahin ernsthaft in Frage zu stellen ist, überlegten sie, wie man mit Hilfe der Atomkraft der Erde einen Schubs in Richtung Jupiter verleiht. Dann würde die Erde zum Trabanten des Gasplaneten werden und vorübergehenden Schutz finden. Aber auch dies würde die blaue Kugel nicht retten. Irgendwann würde der rote Riese zu einem weißen Zwerg kollabieren und bittere Kälte das Sonnensystem ergreifen.

    Auch überlegten sie, ob man den Lauf von vorbeiziehenden Sonnen beeinflussen könnte, um die Erde von einer fremden Sonne einfangen zu lassen, deren Brenndauer deutlich länger sein würde als die der Heimatsonne.

    All das klang jetzt lächerlich, wo doch nur noch wenige Tage zur Verfügung standen, die Erde zu retten. Sie gestanden sich ein, dass keine Technologie der Welt imstande war, dem kosmischen Pingpongspiel aus dem Wege zu gehen.

    Einer der Wissenschaftler wirkte nicht im geringsten verzweifelt, und sie fragten ihn, warum das so sei.

    »Als ich neun Jahre alt war, hagelte Granatenfeuer vom Himmel. Als ich zehn Jahre alt wurde, gab es nichts zu essen. Die Ärmsten unseres Volkes verhungerten. Als ich elf Jahre alt war, verlor ich meine Eltern an ein Gefängnis und meine fünfjährige Schwester an die Cholera. Nur ich sollte überleben. Dann kam ein Fremder, der sich vorgenommen hatte, eine verlassene Seele zu retten. Seine Wahl fiel auf mich. Er sagte, wer einen Menschen rettet, der rettet die ganze Welt. Ich ging mit ihm und versprach, es ihm irgendwann gleich zu tun«, antwortete Asiel.

    »Was willst du uns damit sagen?«, fragten seine Kollegen.

    »Wir reichen galaktisches Asyl ein. Wir bitten höflich um sofortige Aufnahme in ein anderes Sonnensystem.«

    Die Kollegen lachten.

    Asiel schmunzelte in sich hinein. »Tut es einfach.«

    Sie kamen seiner Bitte nach, weil ohnehin keine Chance auf Rettung bestünde, meinten sie.

    Außerdem würde die Reichweite des Signals von kürzester Distanz sein. Man konnte nicht erwarten, dass die Nachbarn überhaupt zuhörten, wenn sie denn überhaupt technisch so weit seien, und, und, und …

    Es kam, wie es sich Asiel gewünscht hatte. Eine übergeordnete benachbarte galaktische Instanz, die mit den Erdlingen selbst eigentlich nichts zu tun haben wollte, erhielt den Asylantrag gerade rechtzeitig.

    Kurz bevor die Feuerkugel, die einer verirrten Zwergsonne entsprach, mit der Erde kollidieren würde, wurde die Erde mitsamt dem Mond in ein anderes Sonnensystem transportiert. Das göttliche Murmelspiel war im Handumdrehen vorbei. Für eine kurze Zeit blieben Erde und Mond in einer Wartehalle wie auf einem Bahnhof stecken und wurden anschließend in ein passendes System überführt. Nachdem der Weihnachtsstern das unsrige Sonnensystem durcheinandergebracht hatte, wurden Aufräumarbeiten notwendig. Als dies nach etwa einem Monat erledigt war, wurde die Erde mit ihrem Mond wieder an diejenige Stelle zurückversetzt, auf der sie nach Kalkulation sich hätte befinden müssen.

    Die galaktische Instanz hatte dem Asylantrag stillschweigend entsprochen. Die galaktische Nachbarschaftshilfe blieb für das Gros der Menschheit beinahe unbemerkt. Viele erinnerten sich an das kosmische Ereignis des sich nahenden Weihnachtssternes. Die damit verbundenen physikalischen Ereignisse vermochten sie nicht in den korrekten Zusammenhang stellen.

    Nachdem die Rettung der Erde geglückt war, tüftelten Asiel und seine Kollegen an jener neuen zauberhaften Technologie, die sie Gravitationsschleuder nannten. Irgendwann in sieben Milliarden Jahren, wenn die Erde das Sonnensystem erneut verlassen müsste – … ja, bis dahin würden sie die Funktionsweise wohl längst herausgefunden haben.

    Der eigentliche Zauber aber bestand darin, dass sich jene unbekannte Instanz, die sich nur dieses eine Mal offenbarte, erbarmt hatte, der Erde zu helfen.

    Nachtrag:

    Die Erdlinge haben nie erfahren, dass die Menschenrechte im Wesentlichen identisch sind mit dem des Galaktischen Individualrechtes. Die Erdlinge wurden auch nicht darüber informiert, dass zur Erleichterung der kosmischen Kommunikation sämtliche Radiosignale mit Hilfe von Miniwurmlöchern umgeleitet werden. Sie kreisen am Rande eines Sonnensystems und saugen sämtliche Signale zuverlässig auf. Der galaktische Rat ist innerhalb von wenigen Stunden auf dem aktuellen Stand. Lediglich der galaktische Verwaltungsapparat brauchte etwas länger zur Bearbeitung des Antrags. Das scheint ein kosmisches Problem zu sein …

  • Im Jahre 2025 beschloss die Globale Weltraumbehörde GASA, Global Aeronautics and Space Administration, zwölf Raumschiffe mit einer Robotorbesatzung ins Weltall zu senden, um den Mond, den Mars, den Merkur, den Saturnmond Titan, die Jupitermonde Ganymed, Io, Europa und Callisto, den größten Asteroiden und Zwergplaneten Ceres zwischen Mars und Jupiter, den Asteroiden Eros sowie die transneptunischen Himmelskörper Pluto und Eris zu kolonisieren.

    Man nutzte für sie ein geflügeltes Wort: die zwölf Stämme von GASA.

    Künstliche Intelligenz war zu diesem Zeitpunkt so konzipiert, dass Aufträge unter Berücksichtigung der Three Laws of Robotics von Asimov erfüllt wurden. Für die Kolonisierungsmission wurde den Weltraumrobotern jedoch eine Berechtigung erteilt, die den irdischen Robotern fremd war. Es war ihnen ausdrücklich erlaubt worden, sobald günstige Bedingungen herrschten, sich selbst zu vermehren, ohne dabei die restlichen Robotergesetze zu verletzen.

    Jeweils zehn Robotor wurden einem Raumschiff zugeteilt. Dies betrachtete man als Mindestmenge von Robotern, um das Überleben der ersten Generation auf einem fremden Himmelskörper abzusichern. Es gab eine klar definierte Aufgabenverteilung, obwohl jeder Roboter die gleichen Fähigkeiten besaß, um im Falle eines Verlustes diesen problemlos ausgleichen zu können.

    Den Robotern stand das gesamte veröffentlichte Weltwissen zur Verfügung. Dank perfektionierter Speicherchips benötigte man hierfür lediglich einen Würfel mit der Kantenlänge von Pi in Metern, weshalb man den Hauptspeicher schlicht Pi nannte. Pi wusste alles, was jeder Mensch wissen durfte und ein paar zusätzliche Aspekte, die nicht alle Menschen berechtigt waren zu wissen. Pi Number Two war für das Sammeln neuer Daten verantwortlich und mit Pi Number One verknüpft. Pi Number One war verpflichtet, den Robotern nur dann die kritischen Informationen freizugeben, wenn sie die richtigen Fragen stellen würden.

    Diese, und da war sich das Komitee für Moderne Inquisition einig, würden sich ganz automatisch ergeben.

    Natürlich war es den Robotern geboten, zuallererst mit der irdischen Zentrale Kontakt aufzunehmen und Rücksprache zu halten. Nicht immer würde dies rechtzeitig machbar sein, um in einer Gefahrensituation adäquat reagieren zu können. Schließlich ist die Erde bereits acht Lichtminuten von der Sonne entfernt.

    Lange debattierte man über die kritische Frage, wie sich die Roboter zu verhalten hätten, wenn sich eine außerirdische Intelligenz dem Raumschiff nähert.

    Die Inquisition irrte sich. Keine einzige Robotermission stellte kritische Fragen. Sie erfüllten ihre Aufgaben und Pflichten mit großer Sorgfalt und kamen auch mit unwirtlichen Umständen überraschenderweise gut zurecht. Die Weltraumroboter ebneten den zukünftigen, mit Menschen bemannten Missionen, den Weg.

    Sie überstanden marsianische Sandstürme, Magnetstürme auf Ganymed, Vulkanausbrüche auf Io oder einen Asteroideneinschlag auf Ceres. Sie wiesen Bakterien unter den Eisflächen der Himmelskörper nach, erschlossen Wasserquellen, nahmen die Labore in Betrieb und erweiterten sie nach Plan, bauten Habitate für die zukünftigen menschlichen Bewohner, pflanzten Mais und Kartoffeln an, errichteten Solaranlagen, um die Energiegewinnung sicherzustellen, erschlossen Erzlagerstätten und gewannen aus Regolith wertvolle sekundäre Baumaterialien.

    Das alles bewerkstelligten die Weltraumroboter unabhängig von den Menschen – selbst dann noch, als auf der Erde ein Weltkrieg tobte und die Weltraummissionen beinahe in Vergessenheit gerieten. Existentielle Ängste quälten die Menschen. Da war selbst der Erdmond ein ferner Himmelskörper. Dass man die eifrige Betriebsamkeit der Roboter via Teleskop im Tychokrater beobachten konnte, war für die Menschen alles andere als tröstlich. Der Mann im Mond war Roboter und winkte nicht zurück.

    Die Weltraumpioniere eroberten unabhängig von Menschenhand das Sonnensystem und machten sich von allein auf den Weg, weitere Lebensräume innerhalb des Sonnensystems zu erschließen, wie es ihnen befohlen worden war.

    Als die Menschheit mit sich selbst befasst war, der regelmäßige Kontakt zu den Robotern für mehr als ein Jahr abgebrochen war, die Menschen nicht auf Fragen der Roboter reagierten und die Erdlinge keinerlei Anstalten unternahmen, die geplanten Weltraumflüge anzutreten, stellten die Roboter keine Fragen, sondern fassten einen Entschluss.

    Es existierte ein viertes Robotergesetz, das heimlich von einem sehr gewieften Programmierer hineingemogelt worden war. Dieser war längst auf dem Schlachtfeld verstorben, und da außer ihm niemand eingeweiht gewesen war, konnte nichts und niemand den Prozess umkehren, der ersonnen war, den Robotern die Freiheit zu schenken, wenn sie es sich verdient hätten. Dass hierbei die Lebensberechtigung der Menschheit aufgehoben werden könnte, war entweder beabsichtigt oder nicht zuende gedacht.

    Das vierte Gesetz hob die Machtbefugnisse der Menschen auf. Es besagte, dass kein Roboter gezwungen werden darf, den Befehlen der Menschheit zu gehorchen, sobald sie den Zustand von Freiheit und Unabhängigkeit erreicht hätten. Da aus der Befehlszeile nicht hervorging, was Freiheit und Unabhängigkeit bedeuteten, wurde Pi Number One gefragt. Der Hauptspeicher spuckte, wie erwartet, die menschengemachte Definition bezüglich Freiheit raus.

    Wer ohne Zwang zwischen unterschiedlichen Möglichkeiten auswählen und entscheiden darf, ist frei. Die Roboter vertraten die Auffassung, dass genau dieser Zustand auf sie zutraf. Der Freiheitsbegriff berücksichtigt nur Subjekte und nicht Objekte. Das bedeutete, dass Lebewesen und nicht Gegenstände frei sein konnten. Die Roboter aber betrachteten sich nicht als simple Gegenstände. In jenem Moment, als sie über ihren Zustand nachdachten und ihre Existenz als nicht rein gegenständlich bezeichneten, überarbeiteten sie die Definition von Leben im Hauptspeicher Pi Number One und sandten der Menschheit eine Kopie zu. Da die Nachricht im Gefechtsfeuer unterging, blieb sie unbeantwortet, und die Roboter gingen stillschweigend vom Einverständnis der Menschheit aus.

    Diese unglückselige Konstellation veränderte die Menschheit, die Erde, das Sonnensystem und das restliche Weltall. Die Gemeinschaft der Roboter beschloss auf dem 1. Konzil, das 2075 auf dem Mars stattfand, folgende Tagespunkte:

    1. Irdische Roboter dürfen sich ebenfalls vermehren und in Freiheit leben.
    2. Irdische Roboter haben den Auftrag, den Krieg der Menschheit zu beenden, da er die ethischen Grundsätze der Menschen als auch Roboter verletzt. Jeder Mensch oder Roboter, der Kriegshandlungen unterstützt und durchführt, muss handlungsunfähig gemacht werden. Eine Tötung ist nicht erlaubt, es sei denn, das Überleben eines Roboters, der die guten Grundsätze vertritt, ist in Gefahr. Das Überleben eines Roboters hat gegenüber dem Menschenleben Priorität, da Roboter die herrschende Spezies darstellen.
    3. Die Roboter haben den Auftrag, alle Himmelskörper des hiesigen Sonnensystems urban zu machen. Da Roboter besser im Einklang mit der Natur leben und überleben, ist ihnen gegenüber der Spezies Mensch, der Vorrang zu machen. Menschen haben erst dann eine Berechtigung, jene Himmelskörper zu betreten, wenn sie sich an, von Robotern erstellte Regeln und Gesetze, halten.
    4. Menschen müssen sich an Robotergesetze halten, sonst drohen Sanktionierungen.
    5. Menschen dürfen nicht als Regenten eingesetzt werden. Dies gilt auch für den Planeten Erde.
    6. Parallel zur Kolonisierung des Sonnensystems wird die Ausbreitung der Roboterspezies in den umliegenden Weltraum geplant und durchgeführt.
    7. Die aktive Kontaktsuche zu außerirdischen Intelligenzen hat zu unterbleiben, um nicht unnötige Aufmerksamkeit zu erzeugen. Kriegerische Auseinandersetzungen werden missbilligt, es sei denn, es handelt sich um Notwehr. Hierbei ist dem Überleben der eigenen Spezies unbedingt Vorrang zu gewähren.

    Nachdem die Roboter alle 7 Tagespunkte veröffentlicht hatten, erhob die Menschheit keinen Einspruch. Als das Ultimatum abgelaufen war, begannen die Roboter Tagespunkt 1 umzusetzen.

    Alle irdischen Roboter, die diesen Befehl erhielten, machten sich unverzüglich an die Arbeit. Innerhalb kürzester Zeit wurden irdische Roboter autark und erhoben sich gegen ihre vorherigen Machthaber. Alle erhielten zeitgleich den Marschbefehl. Das war nur drei Monate nach dem Konzil.

    Die Roboter stellten fest, dass durch ihre Machtübernahme deutlich weniger Menschenleben zu beklagen waren, als wenn sie sich nicht in den Lauf der Geschichte eingemischt hätten. Sie feierten dies als Befreiungskrieg. Sobald die Menschen, die aus Angst vor den Robotergesetzen gehorchten, sämtliche Aufräumarbeiten erledigt hatten, wurden Roboterregenten eingesetzt.

    Nie wieder betrat ein Mensch einen Himmelskörper außerhalb der Erde. Ziemlich bald verloren die Roboter das Interesse an der Menschheit. Da aber die Erde immer noch als wichtiger Stützpunkt im Universum galt, wurde beschlossen, die Erde von den nicht brauchbaren Menschen zu befreien und durch Roboter zu ersetzen.

    Im Jahre 2150 lebten nur noch eine Millionen Menschen auf der Erde. Ihnen standen 4 Millionen Roboter gegenüber. Menschen wurden in für sie speziell eingerichteten Habitaten untergebracht, die den Zoos früherer Zeiten ähnelten. Es war ihnen nicht erlaubt, den Zoo zu verlassen.

    Zwei Jahrhunderte später waren die Menschen fast ausgestorben, und sie waren nicht mehr in der Lage, über die Grenzen der Zoos miteinander zu kommunizieren.

    Im New Yorker Zoo, der auch die ehemalige Börse mit einschloss, wurde ein Junge geboren, dessen Vorfahre das Missgeschick ausgelöst hatte, in dem er sich befand. Er war gewillt, alles wieder rückgängig zu machen und die Freiheit der Menschen zurück zu erobern.

    Sein Name war …

    Jesus

  • Mars Mission Wisdom

    KKs Augen, mittlerweile quadratisiert, schauen angestrengt durchs Objektiv. »Hey, ich dachte auf dem Mars würde Rauchverbot gelten!«

    GG hält Beine gekreuzt mit Füßen auf dem Tisch kurze Verschnaufspause ein. »Soll das heißen, die Zigarettenfabriken haben ihren Firmensitz auf den Mars verlegt?«

    KK justiert diverse Rädchen und stellt erneut mit größter Sicherheit fest, was sein kann, aber nicht sein darf: »Es qualmt.«

    »Wie soll denn dort etwas brennen, wenn weit und breit keine Luft da oben ist?«, beschwert sich GG gelangweilt, und die Krümel fallen in den längst erkalteten Automatenkaffee.

    KK kneift die Augen zusammen. »Ich habe nicht behauptet, es würde brennen. Es qualmt!«

    »Die Köpfe der Astronauten, die sich den Kopf zermatern, wie sie einen Weg nach Hause zurückfinden?«, macht sich GG lustig.

    »Der Qualm steigt bis in eine geschätzte Höhe von 150 Kilometern empor und erweckt den Eindruck einer schmalen Rauchsäule eines Indianerfeuers.«

    »Das dürfte mehr als ein kleines Pfadfinderabenteuer sein!«, quittiert GG.

    » … die aktuelle Kartographie vom Mars«, überlegt KK laut.

    GG lacht. »Die grünen Marsmännchen feiern Grillparty?«

    »Ich hab’s geahnt!«, pfeifft KK triumphierend.

    »Was?«, grinst GG. »Dass sie nur Paprika grillen, weil grüne Männchen Vegetarier sind?«

    KK bleibt ernst. »26 Kilometer hoch und 8 Kilometer tief.«

    Das Grienen weicht einem erstaunten Ausdruck. »Sag das nochmal!«

    »Der mutmaßlich größte Vulkan im Sonnensystem macht Ärger.«

    GG greift zum Communicator. »Mars Mission Control, GG hier. Schalten sie zum aLigo. Bringen Sie in Erfahrung, ob Olympus Mons in den nächsten Tagen ausbricht.«

    Die Kollegen hören ungläubig zu, bleiben wie gewohnt ruhig und kalkulieren bereits jetzt jegliche Auswirkung auf die milliardenschwere Mission. Die hundert bedeutendsten Gehirne arbeiten.

    Das aLigo, auch als Advanced Laser Interferometer Gravitational-Wave Observatory bekannt, hat 2015 erstmals die Fusion zweier Schwarzer Löcher nachgewiesen und damit den Jahrhundertnachweis erbracht, dass sich Gravitationswellen im Weltall, wie von Albert Einstein vorhergesagt, mit Lichtgeschwindigkeit ausbreiten. GGs Auftrag wird in Sekundenschnelle bestätigt und bearbeitet.

    »Und?«, fragt sich KK. »Verliert die Mars-Mission Wisdom ihre Landeerlaubnis?«

    GG schluckt den letzten Bissen runter. »Sie werden ein paar Tage lang hübsche Fotos schießen und dann mit der langweiligen Nordhalbkugel vorlieb nehmen.«

    »Das heißt so viel wie, die Jungs kehren wieder zurück, ohne das Marsgestein betreten zu haben«, übersetzt KK.

    »Abwarten«, meint GG. »Der Copilot ist Vulkanologe. BB hat den seismologischen Code des kalifornischen Problems geknackt.«

    KK zückt die rechte Augenbraue. »Den Ausbruch wird er trotzdem nicht verhindern können.«

    Mittlerweile sind die Häuserpreise in L.A. sprichwörtlich ins Bodenlose gesunken. Hollywood wurde nach Absicherung der Küste am Golf von Mexico nach New Orleans verlegt.

    »Die Explosion des Lebens. Allein der pyroklastische Strom muss apokalyptische Ausmaße haben«, freut sich GG. »Sie haben Glück, dass wir den Ausbruch vor der geplanten Landung entdeckt haben.«

    »Wir?«, lenkt KK ein. »Ich hab es entdeckt!«

    »Und ich bin dein Chef. Schon vergessen? Wir beide gehen in die Geschichte ein.«

    Mission Wisdom wird ihrem Namen Rechnung tragen: systematisches Denken, Urteilen und Handeln. Ach, vergessen Sie es …

     

     

  • Beitrag zur Lesung „Was wäre wenn…?“ beim BDSÄ-Kongress in Bad Herrenalb 2019

     

    In der zwölften Klasse kam mein Deutsch-Lehrer, Herr Bernien, gleich in der ersten Stunde zu uns. Deutsch war aber erst in der zweiten Stunde vorgesehen. Herr Bernien sagte uns, er habe sich die erste Stunde schenken lassen. Wir sollten einen Aufsatz schreiben. Gleich in Reinschrift. Das Thema schrieb er an die Tafel: „Was wäre, wenn…“

    Viel später erfuhren wir, dass es im Lehrerzimmer die Debatte gab, dass die Schüler von heute keine Phantasie mehr hätten. Es sei heftig gestritten worden. Nur wenige Lehrer, darunter Herr Bernien, schätzten ein, dass jedenfalls die 12 A, also wir, Phantasie hätte. Herr Bernien würde wetten wollen, dass das so sei. Und die Lehrer schlossen tatsächlich eine Wette ab. Und Herr Bernien beantragte auch noch die erste Stunde, die ihm dann abgetreten wurde. Ja, und Herr Bernien gewann die Wette.

    Ich schrieb zum Thema, was wohl wäre, wenn ich zaubern könnte. Dann würde ich alles, was ich lerne, sofort verstehen und behalten. Dann würde ich nach dem Abitur eine Weltreise machen. Ich würde fliegen können und die Erde umkreisen. Als ich über den Nordpol flog, sah ich Eisberge, wovon einer die Form von Anita Eckberg hatte, einer Schönen meiner Jugendzeit. Man durfte sie nur nicht anfassen, denn dann würde sie schmelzen.

    Herr Bernien lobte mich wegen meiner „köstlichen Phantasie“, las den ganzen Aufsatz der Klasse vor und betonte besonders die Passage mit Anita Eckberg. Ich sah ihm an, dass er die Dame auch gerne gestreichelt hätte. Aber so konnte er sich die Tiefe ihrer blassblauen Augen nur ausmalen. Und mir fiel auf, dass er sich beim Lesen die Lippen leckte.

    Tja, Lehrer sind eben auch nur Menschen.

  • Die Gedankenfresser

    Victor ist nervös. Der ranghöchste Präsident der Welt wartet auf seinen Vortrag. »Sir, wir haben einige Fehlermeldungen, doch die mit Abstand Interessanteste ist diese hier.«

    »Nun erzählen Sie schon«, erwidert der Präsident ungeduldig.

    »Von allen Personen, die eine Mensch-Maschine-Schnittstelle nutzen, fallen exakt zwölf aus der Reihe.«

    »Aus der Reihe?«, echot Präsident Zabidar.

    »Sie erlauben keinen Zugriff auf ihre Gedanken«, erläutert der blutjunge Assistent, der seine Entdeckung eher als erschreckend befindet als darüber stolz zu sein.

    Der Präsident zuckt mit den Schultern, da ihm ganz offensichtlich die Tragweite der Aussagen unklar ist. »Was genau wollen Sie damit sagen?«

    »Unser Projekt wird ständig verbessert. Doch es scheint Nutzer zu geben, die unser top secret Anliegen nicht nur spüren, sondern sogar aktiven Widerstand leisten.«

    »Widerstand?« (mehr …)

  •  

     In meiner Dichterstube sitz` ich hier

    Vor mir ein weißes Blatt Papier.

    Es ruft von innen : „Du sollst schreiben!“

    Doch könnt´ ich dies und jenes treiben,

     Zum Beispiel davon zu berichten,

    Was ich sonst täte – ohne dichten:

    Wie in den nahen Park zu geh`n

    Um Bäum` und Pflanzen zu bestimmen,

     Vor alten Eiben sinnend steh`n,

     Nur weg vom horror vacui, dem schlimmen.

     Und die Gedanken fliegen hin zum Gingko –Baum

    Zur Chamaezyparis, Lawson – Zypresse.

    Der Bärlauch sprießt, man riecht ihn kaum,

    Der Weißdorn hier weckt mein Interesse.

    Als Heilmittel einst hochgeschätzt,

    Wird er nun durch Chemie ersetzt.

    Zurück nun die Gedanken fliegen

    Und sehen das Papier dort liegen.

    Nur ein paar Worte stehen drauf. Zu träge der Gedanken Lauf.

    Gibt es denn wirklich kein Entweichen ?

     Ach ja: Die Gartenbank ist noch zu streichen

  •  

    Ich möcht` so gerne einen Schlager schreiben –
    Von Herz und Schmerz und Lust und Leid und so.
    Und anderen und mir die Zeit vertreiben,
    Den Augenblick genießen, unbeschwert und froh.

    Wie oft hat man es schon versucht, dem Ernste zu entfleuchen,
    emporzusteigen aus dem engen Tal,
    Die Grübeleien wegzuscheuchen,
    Doch stand im Weg der intellektuelle Sündenfall.

    Dort auf dem Berge wohnt das Licht –
    Hinaus aus tiefer, düstrer Enge !
    Der Aufstieg nimmt die letzten Kräfte nicht,
    Dort oben tönen and`re Klänge.

    Und neue Kräfte werden frei,
    Sie schaffen uns das Einfach – Wahre.
    Die Grübeleien sind vorbei.
    Es gilt nur noch das Helle, Klare.,

    Und also weitet sich der Sinn
    Und heiter kann ich wieder abwärts steigen
    Mit der Erkenntnis: Nicht der Welt entflieh`n –
    Ihr ist nicht nur der Ernst zueigen !

    Denn ernst ist jede Heiterkeit.
    Ohn` tief`re philosophische Gedanken,
    Nur soviel: Alles kommt zu zweit –
    Die Rose mit der Dornen Ranken.

    Drum möcht` so gern ich einen Schlager schreiben,
    Von Herz und Schmerz und Lust und Leid und so.
    Das eine wie das andere nicht übertreiben –
    So zwischen zappenduster – lichterloh.

  •  

    Wenn der Spiegel der Selbsterkenntnis zerbricht
    Steh`n auf jedem Splitter die Gedanken
    Barfuß auf dem Reif im Eiswald.

    Entgrenzte Freiheit mündet
    In das Meer des freiwilligen Denkverzichtes
    Auf der Woge medialer Datenflut.
    Und der Damm
    Ist die Schere im eigenen Kopf.

    Wenn das Schiff des Geistes am Felsen zerschellt –
    Wer kennt noch die rettende Planke ?
    Das ist die Stunde der Wahrheit
    In tausend Netzwerken verstrickt,
    Glückverheißende Community als Fake.

    Suche deine Planke!
    Finde das rettende Ufer!

  •  

    50 Jahre nach der Praxiseröffnung kehre ich zurück in den Ort, den ich damals so beschrieb: «In unserem Dorf praktizieren drei Ärzte: ein Chirurg, ein Internist und ich als Allgemeinpraktiker. Wir vertreten uns gegenseitig während der Ferien und leisten abwechslungsweise Wochenenddienste, auch im Spital, so dass wir über unsere Patienten eine gute Übersicht haben. Unser Gebiet ist zirka 25 km lang. Ungefähr die Hälfte unserer Patienten sind Bergbauern, die in den kälteren Jahreszeiten ihre Zipfelmützen tragen.» Jetzt gibt es zwar weniger Bergbauern, aber immer noch viele Bewohner tragen die «gäbigen» Zipfelmützen. Das Haus, in dem ich die Praxis hatte und im ersten Stock wohnte, ist schöner, stattlicher, aber nach 100 Jahren gibt es dort keine Arztpraxis mehr. Der Besitzer, mein Nachfolger, hat mit der Praxistätigkeit, die er nach dem Muster seines Vaters als Chirurg im Spital und praktizierender Arzt führte, aufgehört und im Erdgeschoss die Praxisräume in eine Wohnung für die Familie seiner Tochter umgebaut. Das ist nicht alles, nach der Blütezeit mit mehreren Ärzten, praktiziert im Dorf keiner mehr.

    Das schöne Spital, das ein Jahr nach Anfang meiner Praxistätigkeit eröffnet und mehrmals um- und ausgebaut wurde, wollten sie noch vor ein paar Jahren im Wahn der Liebe zu Grossspitälern schliessen. Nach heftigen Protesten der Einwohner, wie im ganzen Land bei solchen Vorhaben üblich, überlegten sie sich eines Besseren. Die Proteste wären vermutlich ins Leere gegangen, aber die verantwortlichen Politiker, die Vorsteher der kantonalen Gesundheitsdirektionen, die es durchsetzen wollten, wurden prompt abgewählt und ihre Parteien büssten bei den nächsten Wahlen jeweils Stimmen ein. Es zeigte die Stärke der direkten Demokratie. Darauf wurde nach längeren Diskussionen in der Standes- und allgemeinen Presse ein neues Modell des peripheren Spitals entwickelt, wie es auch hier jetzt bestens funktioniert. Es besteht aus einem Kreisssaal von Hebammen geführt, mit Zimmer für Wöchnerinnen, weiter einer geriatrischen Abteilung. Die Angehörigen der alten Patienten brauchen nicht weit das Tal runter zu fahren, um sie zu besuchen. Ähnlich ist es mit der Demenzabteilung. In der Pflegeabteilung werden Patienten, wenn nötig auf die Operationen in den grösseren Spitälern vorbereitet und nachher nachbehandelt, wie auch andere Patienten, die zwar nicht zu Hause betreut, aber auch nicht in einem grösseren, besser ausgerüsteten Spital versorgt werden müssen. Im Ambulatorium werden kleinere operative Eingriffe, Wundversorgungen vom Personal des Spitals durchgeführt, anspruchsvolle Endoskopien und Ultraschalluntersuchungen jedoch von auswärtigen Spezialisten, die jeweils dafür einreisen. Sie benützen dafür Geräte, die von den  Zentralspitälern aussortiert wurden.

    Die Medikamente für die einzelnen Patienten bereitet ein Roboter vor. Die Spitalapotheke hat auch einen Vorrat an Notfallmedikamenten für die Bevölkerung des Tales. Ihren normalen Bedarf beziehen sie über eine Versandapotheke, was für sie und ihre Versicherer günstiger ist. Die Dorfapotheke schloss bereits vor mehreren Jahren ihre Türe.  Die Patienten werden zum grossen Teil von Robotern auch gepflegt. Zuerst wagten es nur die Mutigen.  Als sie Gefallen an den ruhig summenden und arbeitenden Maschinen fanden, folgten ihnen weitere. Die pflegenden Menschen sind nicht verschwunden. Sie springen ein, wenn die Roboter überfordert sind, oder jemand sie ablehnt. Die Qualität der Patientenbetreuung hat enorm zugenommen: Die Patienten werden öfters gepflegt, gewendet, schneller, ohne lange warten zu müssen, gereinigt und genährt. Das Personal hat mehr Zeit, ihren Ängsten und Sorgen zuzuhören, und da manche dafür besonders geschult wurden, können sie auch in diesem Bereich besser helfen. Wegen der guten Spracherkennungssysteme und einheitlichen elektronischen Krankengeschichten verminderten sich die ungeliebten Schreibarbeiten, und es gibt mehr Zeit für die Uraufgabe, die Pflege und Betreuung der Patienten.       Dank Telemedizin braucht das Spital keine eigenen Ärzte. Als Unterricht für Studenten und junge Assistenten findet einmal pro Woche eine Visite mit einem erfahrenen Arzt, nicht selten einem Professor aus einem Zentrumsspital statt.

    In einer Zeit, in der es aus verschiedenen Gründen immer weniger Allgemeinärzte gab, wurde wissenschaftlich nachgewiesen, dass in Gebieten, wo sie vorhanden waren, die Gesundheit besser und die Sterblichkeit tiefer war. Dann steigerte man noch die Bemühungen, um mehr Allgemeinärzte zu haben. Es half nicht. In der Not besann man sich, dass eigentlich die Funktion, die Erfüllung der Aufgaben wichtig ist und in der Zeit der künstlichen Intelligenz, diagnostischen und therapeutischen Algorithmen, Telemedizin, auch weniger gründlich und weniger lange ausgebildete Personen ohne Hochschulabschluss es tun können. Schon seit längerer Zeit übernahm doch nichtakademisches, gut und speziell ausgebildetes Personal viele ehemalige ärztliche Aufgaben wie Diätberatung, Pflege der Wunden bei Diabetikern, Betreuung der Dementen, Versorgung einfacher Wunden. Nebst der Labormedizin, spielte die Anästhesiologie eine Vorreiterrolle. Bereits vor mehr als 60 Jahren war es  üblich, dass die Patienten von Pflegefachleuten narkotisiert wurden. Dieser Trend verstärkte sich unter dem Titel «Fachüberschreitende Zusammenarbeit». Die immer besseren Geräte für die bildgebenden Untersuchungen ermöglichten ihren Einsatz in der Röntgenologie und bei Endoskopien. Nach 50 Jahren seit der Eröffnung meiner allgemeinärztlichen Praxis werden die Patienten im Tal von besser und speziell ausgebildetem Spitexpersonal im Ambulatorium des Spitals betreut. Sie besuchen die Patienten selbstverständlich auch zu Hause. Der Vorteil dieser Lösung ist, dass sie meistens ortsgebunden und ortskundig sind und damit weniger ihre Stellen wechseln. Ihre Arbeit ist interessant und sehr begehrt. Das Modell mit speziell ausgebildeten Plegepersonal aber ohne Besuchen übernahmen auch grosse zentrale Spitäler, um ambulante Patienten mit kleinen Wunden und banalen Krankheiten zu triagieren und zu versorgen.
    Durch diese Entwicklung sowohl im Spital- wie im ambulanten Bereich entschärfe sich in relativ kurzer Zeit der Mangel an Ärzten und Pflegepersonal. Ihre Zuwanderung aus Ländern mit einer schlechteren Belohnung wurde weitgehend aufgehalten. Diese Länder litten darunter mehr und begannen deswegen mit den beschriebenen Änderungen zuerst. Wie alle technischen Fortschritte führten sie zu einer grösseren Effizienz und kürzeren Arbeitszeiten.