Schlagwort: Humor

  • Diese Texte trug Eberhard Grundmann beim BDSÄ-Kongress 2015 in Bremen vor in der Lesung über „Fehler“ (Moderation Dietrich Weller)

    Das Böse

    ist nicht nur in der Welt,
    weil Menschen das Gute
    mit falschen Methoden und fehlerhaft
    anstreben
    oder
    ihren Trieben unterliegen.
    NEIN.
    Das Böse ist auch ganz wesenhaft
    in der Welt
    und besetzt gleich einem Dämon
    einzelne Seelen,
    die dann das Böse
    gern tun,
    planvoll,
    mit Freude
    und mit Lust.
    (22.03.2008)

    Fahrradreparatur oder der wiedergefundene Glaube an die Menschheit

    Wennemann hat einen Fahrradschaden.
    Damit geht er in den Fahrradladen.
    Dort wird er auf’s freundlichste empfangen
    und der Fehler sofort angegangen
    sowie weit’re drei gleich mit behoben.
    Wennemann kann nur den Meister loben.
    Auch die Rechnung fällt sehr milde aus,
    und der Kunde zieht den Schluss daraus,
    dass die Menschheit noch nicht aufgegeben,
    wenn so gute Menschen in ihr leben.
    Aberach jedoch, der will erst hoffen,
    wenn er diese guten Leut’ getroffen
    unter Direktoren und Regenten,
    unter Bänkern und sonst Hochpotenten –
    zwar gäb’s unten Menschen ohne Tadel,
    oben aber fehle es am Adel.
    (23.01.2013)

    trug

    nichts ist wie es scheint
    keiner sagt was er meint
    falsch flagge gehisst
    nichts scheint wie es ist
    kaum einer wagt
    zu meinen was er sagt
    man redet gern klug
    doch vieles ist trug
    es gibt sich gern gross
    was eigentlich bloss
    ganz klein und gemein –
    wird’s immer so sein?
    (12.08.2013)

    Andere Welt

    Wir hätten oft besser getan, was wir liessen
    und hätten gelassen das, was wir getan.
    Wir wären in manchen persönlichen Krisen
    viel lieber der Nachbar von nebenan.
    Wir lebten, wenn die Probleme sich breiten
    und wenn schon wieder alles verfällt
    doch lieber in gänzlich anderen Zeiten,
    am besten in einer anderen Welt.
    (10.10.2012 0400 Maillat F)

    Das Glück aller Völker

    Gewaltsame Völkerbeglückung
    heißt hinten immer –ismus.
    Vorn heißt sie unterschiedlich
    und belanglos.
    Sie funktioniert stets zuverlässig
    und auf die selbe Weise.
    Sie erreicht immer
    ihr Gegenteil.
    (22.04.2007)

    Jein

    Für die binäre Welt
    des Null oder Eins,
    Ja oder Nein,
    Ent oder Weder
    ist der Mensch nicht gemacht.
    Er will
    Sowohl als Auch,
    Wäsche ohne Nässe,
    Monogamie aber mit mehreren,
    Wohlstand ohne Mühe,
    alles essen und schlank bleiben,
    langes Leben ohne Alter,
    Überraschung, aber nur
    durch das, was er schon kennt.
    (25.06.2007)

    Koordinaten

    Ein Netz von Koordinaten
    werfen wir über die Welt,
    den Weg zu finden.
    Doch Netze sind Netze
    und nicht der Inhalt.
    Es gibt den ehrenhaften Ganoven
    und den kriminellen Edelbürger,
    den törichten Intellektuellen
    und den Klugen ohne Bildung.
    Den traurigen Clown gibt es
    und den zufriedenen Hypochonder,
    den Sieger, der alles verliert
    und den Besiegten im Glück.
    Nur ein kaltes Herz, das liebt, gibt es nicht.
    (11.01.2008)

    Farbenblind

    Manche sehn, und sei’s ein lichter Quarz,
    alle Dinge auf der Welt nur schwarz.
    Andre sehn, und dieses exklusiv,
    nur schwarz / weiss ein jegliches Motiv,
    wieder andere behaupten schlau,
    letzten Endes sei doch alles grau.
    Dieses können jene nicht verstehn,
    die nur durch die rosa Brille sehn,
    und auch der hat seine liebe Not,
    der voll Zorn bekennt: Ich sehe ROT!
    All den Vorgenannten hilft es nicht,
    gibt mal einer ihnen grünes Licht,
    selbst die blaue Blume bleibet fremd
    so wie Veilchen und ein gelbes Hemd
    oder alles, was orange erscheint
    wird von ihnen einfach nur verneint.
    (06.11.2009)

  • Diese Texte wurden beim BDSÄ-Kongress in Bremen 2015 in der Lesung  über Erotik (Moderation Horst Ganz) vorgetragen

    Wölländischer Spruch 3.1

    Jeder will etwas anderes:
    Der Mann die Frau.
    Die Frau das Kind.
    Das Kind das Leben.                                                  

    XY

    Anfangs war das Leben prall und rund,
    rund und prall und drall und ganz gesund,
    bis es eines Abends sich besann:
    „Scheinbar komme ich nicht recht voran.

    Ich will mich morgen dividieren
    und besser so getrennt marschieren,
    um endlich dann nach ein paar Tagen
    mit mehr Fortüne zuzuschlagen.“

    Es tat sich nun, um Streit zu meiden,
    zwei Lose aus den Rippen schneiden:
    Das X, das bleibt daheim beim Feuer,
    und Ypsilon sucht Abenteuer.

    Hin und wieder aber müssen
    sie sich wiederseh’n und küssen.
    Folgerecht im Lauf der Jahre
    steigt die Zahl der Exemplare.

    Teilung hat jedoch auch ihren Preis,
    mancher Rosenkrieg ist der Beweis.
    So gesehen lebt sich’s auch zu zweit
    zwischen Einigkeit und Widerstreit.

    (15.03.2008)                                                            

    Wölländischer Spruch 3.9.

    Jeder ist so stark wie sein schwächstes Glied.            

    Adam

    Ach, wie hatte es doch Adam leicht!
    Nur ein einzig Weib stand ihm zur Wahl,
    und das hat ihm völlig ausgereicht.
    Heut’ dagegen wird die Wahl zur Qual.

    Ja, die Auswahl ist fürwahr erdrückend,
    dicke gibt es, dünne, kleine, grosse,
    alle sind sie irgendwie entzückend –
    wem jedoch gebührt am End die Rose?

    Gar kein Wunder, dass die Männer schwanken,
    und wenn sie der einen sich verbunden,
    nach der andern suchen in Gedanken:
    Jäger können nur durch Jagd gesunden.

    Weh, doch wehe, wenn der Frauen eine
    von dem Wahlrecht selber macht Gebrauch:
    au, die Herren werfen sofort Steine
    ganz wie manche von den Damen auch.

    (10.08.2001)                                                            

    Wölländischer Spruch 3.10.1

    Nicht jede Bluse verspricht, was sie hält.                          

    Wer kennt Ernst?

    Frauen
    kennen ihn.
    Nur Frauen.
    Sie haben ihn
    sich nicht
    ausgesucht.
    Er kommt über sie.
    Der Ernst
    des Lebens.
    Männer
    spielen.

    (08.03.2003 Wippra)                                                

    Wölländischer Spruch 3.10.2

    Nicht jede Bluse hält, was sie verspricht.                          

    Überbau und Unterbau

    Dein Geist soll bis zu hohen Jahren
    sein Licht und seine Kraft bewahren,
    wie andrerseits dein Unterleib
    auch immer froh und munter bleib!

    (21.12.2007)                                                            

    Wölländischer Spruch 3.76.

    Ich bin immer wieder erstaunt, wie hübsch die Evolution Eizellen verpacken kann – und manchmal auch Spermien. (14.12.2014)                                                                                     

    Biochemie

    Zwar gibt es Lieb auch ohne
    das Zutun der Hormone
    – zum Beispiel die platone –
    doch die Natur-Matrone
    verlässt sich nicht die Bohne
    auf diese Art Ikone.
    Bei ihrem Drang zum Sohne,
    zur Tochter gleicher Weise,
    benutzt sie still und leise
    Chemie zur sichren Reise,
    fährt gut auf diesem Gleise –
    fahr mit, dann bist du weise.

    (17.02.2007)                                                            

    Wölländischer Spruch 3.51.

    Nicht alles
    hängt am Phalles.
    Doch steht und fällt
    mit ihm die Welt.

    (03.02.2007)                                                                                            

    Dem Trieb

    Dem Trieb
    geht’s einzig um’s Prinzip.
    Wisse drum, mein Sohn,
    er acht‘ nicht der Person.
    Bei Bedarf ist er zur Stell
    und also universell.
    Drum widme ihm dein Denken,
    um manierlich ihn zu lenken.

    (16.03.2008)                                                            

    Wölländischer Spruch 3.58.

    Männer können Frauen nicht verstehen. Aber begreifen. (27.5.2007)                    

    Im Nacktbad

    Den Säugling in Manne begrüsste
    die Vielzahl verschiedener Brüste.
    Ich bekenne ganz ohne Geziere:
    Männer sind Säugegetiere.

    (2009)                                                                      

    Wölländischer Spruch 3.66.

    Den Hafen der Liebe findet man selten durch Liebe im Hafen. (01.02.2011)          

    Verführung

    Einst vor vierzig Jahren,
    als wir jung und lustig waren,
    in jener milden Sommernacht,
    haben heimlich wir gedacht,
    was vielleicht jetzt noch passiert,
    wenn eins das andere verführt.

    Nach einer Runde um das All
    stellt sich heut ein andrer Fall.
    Im Stillen denkt die Frau, der Mann,
    was sie, was er nun nicht mehr kann,
    doch dass sie richtig einst wie jetzt
    die Tat durch die Option ersetzt.

    (04.10.2009)                                                            

    Wölländischer Spruch 3.21.

    Wo kämen all die schönen Homos her,
    wenn jeder Mensch ein Homo wär. (20.05.1998)         

    Fernkuss

    Eben noch auf deinem Mund,
    flog sie, und das, weil sie muss,
    flog die Fliege hierher und
    brachte zu mir deinen Kuss.

    (02.07.2010)                                                            

    Wölländischer Spruch 3.54.

    Gehn die Dinge gar zu glatt,
    hat man sie recht bald schon satt.
    Es gilt ohne Übertreibung:
    Selbst Liebe braucht die Reibung. (17.02.2007)            7

    Antrag

    Er halte, sagte er,
    um ihre Hand an.
    Dabei hatte er diese
    am wenigsten im Sinn.

    (08.08.2011)                                                            

    Wölländischer Spruch 3.42.

    Verachte nicht die Früchte des Unterleibes. Du bist selber eine. (07.02.2007)        

    Wölländischer Spruch 3.40.                                     Zugabe

    Männer und Frauen werden zu Männern und Frauen erst durch Frauen und Männer. (10.06.2002)

  • (Der Text wurde beim BDSÄ-Kongress 2015 in Bremen vorgetragen)
    Die Frage, was der Mensch mit seinem Globus mache, bewegt seit Jahren die öffentliche Debatte. Dabei wird an Industrie und Technik gedacht, nicht aber an den höchstpersönlichen humanen Beitrag.

    Nach seinem grundlegenden Bauplan ist der Mensch – so wie viele andere Arten auch – ein doppelwandiger Schlauch. Die primären anatomischen Orientierungen dieses Schlauches sind die Wände INNEN und AUSSEN sowie der Zwischenraum in der MITTE zwischen den Wänden. Sekundäre Orientierungen sind EINGANG und AUSGANG, die man auch ORAL und ABORAL nennt, was mundwärts und afterwärts bedeutet. Analoge Namen sind ROSTRAL (schnabelwärts) und CAUDAL (schwanzwärts) oder bei aufrechter Haltung OBEN und UNTEN. Die tertiären Orientierungen sind VORN / HINTEN, RECHTS / LINKS.

    Die Achse durch den oralen und aboralen Pol kann senkrecht, waagerecht und in jeder Neigung dazwischen sowie in jeder Krümmung gedacht werden. Sie verrät viel über den Inhaber. Klassisch unterscheidet sich die krumme Achse des Homo supressus in der Despotie von der Orthopädie des aufrechten Ganges eines Freien.

    Der eben beschriebene Schlauch Mensch bewegt sich nicht nur durch die Welt, sondern er bewegt auch die Welt durch sich, und zwar hindurch. Das tut er auf dem Wege des Stoffwechsels mit folgendem Ergebnis. Meine Berechnungen beruhen auf der Weltbevölkerung vom 8.12.2001 20:32. Zu dieser Zeit waren es lt. Internet[1] 6.185.969.436 Leute – im Januar 2015 bereits über 1 Milliarde mehr. Unterstellt man, dass jeder pro Tag bescheidene 2,5 l Wasser[2] und 505g feste Nahrung zu sich nimmt, ergibt das einen Jahresverbrauch von 5,6 Mrd mWasser und 1,14 Mrd t feste Stoffe.

    Auf der anderen Seite gibt die Weltbevölkerung auch wieder etwas zurück. Nämlich an Flüssigkeit jährlich – wenn man jedem 1,5 l Tagesproduktion unterstellt und Schweiss, Tränen sowie andere Kleinstmengen nicht mitrechnet ‑ rund 3,4 Mrd m3. Das entspricht dem 15,75-fachen von Deutschlands grösstem Stausee, der Bleilochtalsperre. Es entspricht auch mehr als einer halben Million schweren Güterzügen, die 10 mal um den Äquator reichen würden[3]. Bei den Feststoffen – die Tagesleistung sei ohne Hautschuppen, Haare oder Nägel 300g ‑ kommen wir auf runde 677 Mio t/Jahr. In green-bewegten Reports vermisse ich Hinweise auf derartige Emissionen.

    Zu alldem werden jährlich schon in Ruhe 853 Mrd m3  CO2 ausgeatmet, das sind 1,5 Mrd t und immerhin knapp 7% der industriellen Emission, die ihrerseits bei 21,8 Mrd t[4] liegt. Bei körperlicher Belastung aber kann das Atemzeitvolumen bis über das 22-fache steigen, was Jogger zu Umweltsündern macht. Als Durchschnitt dürfte das 4-fache bei weitem nicht zu hoch gegriffen sein. Ich frage daher: Wo bleibt das Verbot des Ausatmens oder wenigstens seine Besteuerung? Ferner ist zu bedenken, dass der aborale Pol der Menschheit jährlich 1,35 Mrd m3 durchaus unedler Gase abgibt, darunter N2, H2, CH4, CO2 – die letzten beiden sind Treibhausgase. Es ist geradezu ein Skandal, dass die Energieträger Methan (CH4) und Wasserstoff (H2) nicht ins öffentliche Netz gespeist werden. An diesem Punkt muss das Energiegesetz dringend nachgebessert werden.           00:06:35:00

     

    [1] http://www.dsw-online.de/cgi-bin/count.pl

    [2] Werte für Ein- und Ausfuhr aus: 1) Schmidt R F, Tews G (Hrsg.): Physiologie des Menschen. Berlin: Springer, 1993 und 2) Silbernagl S, Despopoulos A (Hrsg.): Taschenatlas der Physiologie. Stuttgart: Thieme, 1991

    [3] 566.667 Züge zu je 6.000t und 700m Länge = 396.667km = 10x Äquator

    [4] http://www.wissenschaft.de/sixcms/detail.php?id=28499

  • Gedanken im Zug nach Hause bei der Lektüre von Uhlenbruck „Gedankensplitter ohne Kopfzerbrechen“

    Wer im Zug Aphorismen von Uhlenbruck in einem Zug lesen will, wird ständig von den Stoppschildern der Gedanken gebremst, damit die eigenen Gedanken zum Zug  kommen.

    Wenn ich schon mal eine guten Gedanken habe, schreibe ich ihn auf, damit ich besser darüber nachdenken kann.

    Gute Aphorismen sind kurze Gedanken, die zum langen Nachdenken anregen.

    Wer viel redet, sollte sich kurzfassen. Wer sich kurzfasst, kann sich das Vielreden sparen.

    Ein kleines Aphorismenbuch von Uhlenbruck enthält mehr Drama und Lebensweisheit als viele dicke Romane zusammen.

    Ein guter Aphorismus bewirkt das gleiche wie eine Krankheit: Wir werden am unbewussten Weiterlesen (Weiterleben) gehindert und zur Selbstreflektion gezwungen.

    Warum lege ich das Ubhlenbruck-Buch nach vier Seiten weg? Weil es Aphorismen aus dem Versteck meines Gehirnes lockt. Das ist Aphorismen-Resonanz.

    Warum lese ich dann weiter? Weil es noch viel zu lernen gibt im Lehrbuch des Lebens.

    Beim Lesen eines Aphorismus geht mir das Licht auf, dass ich diese Erkenntnis noch nicht aus dem Dunkel meines Gehirns ans Licht meines Bewusstseins geholt habe. Wie hell ist es dann in den Menschen, die ein Aphorismenbuch geschrieben haben?

    Die Schriftstellerärzte wollen eine Lesung über Erotik abhalten, die nicht unter die Gürtellinie gehen darf. Ist das eine Quadratur des Kreises oder eine Sublimierung des Greises?

    Wie beschreibt man Dinge unterhalb der Gürtellinie, ohne diese zu unterschreiten und trotzdem treffend? Mit Geist!

    Macht das dann weltliche Freude oder ist es nur sublimierte Kompensation?

    Eine der wichtigsten Übungen des Säuglings für das ganze Leben: Kopf hoch und dabei lächeln!

    Jeder Aphorismus ist ein Titel für eine ganze Romansammlung.

    Unwissenheit und mangelnde praktische Erfahrung sind eine gute Voraussetzung um schnell radikale Urteil zu fällen. Vorurteile zu zementieren und Machtansprüche zu erheben und auszuleben. Die katholische Sexuallehre ist ein Jahrtausende altes Beispiel.

    Warum stellt der Papst Regeln für ein Spiel auf, das er und seine Glaubensbrüder nicht spielen dürfen?

    Angst ist eine sehr wirksame Autosuggestion, dass genau das geschieht, wovor wir uns fürchten. Auch deshalb sollten wir uns vor unseren Gedanken hüten.

    Wir wollen Kinder behütet wissen. Behüten wir auch unsere Gedanken?

    In der Erinnerung verblasst ein Mensch, oder er wird durch Überhöhung idealisiert. Selten entspricht die Erinnerung der Realität.  So gehen wir auch mit der Erinnerung an uns selbst um.

    Die Rolle des Sündenbocks ist in einer Gemeinschaft eine wichtige Funktion, auf die sich manche viel einbilden. Die Medien können ihn zum Star stilisieren. Die Medien verdienen, ohne es verdient zu haben, meist umgekehrt proportional zum Verdienst des Sündenbocks.

    Ein unkundiger Kunde ist ein guter Kunde, weil er die Kunde vom Betrug mit dem Betrag noch nicht erkundet hat.

    Vor mir sitzt eine Mutter, die sich rührend um ihr zerebral schwerst behindertes Kind kümmert. Diese Frau ist der Engel, den Gott dem Kind als Lebensbegleiter an die Seite geschickt hat.

    Mancher Mensch wird besonders bissig, wenn er die dritten Zähne trägt.

    Das Thema loslassen wird uns nicht loslassen, bis wir unser Leben loslassen.

     

     

  •  

    Gestern saß ich im Zug von Berlin nach Basel. Ich kehrte von einem Kongress zurück, der für mich sehr wichtig war – sicher nicht nur für mich – und eine Mitgliedsversammlung hatte stattgefunden, die – vielleicht – noch wichtiger war als der ganze Kongress (objektiv und für mich). Ich schaute aus dem Fenster, trank Kaffee, Tee oder Wasser und erinnerte mich,  liess alles noch einmal Revue passieren. An dem Morgen war mir ein kleines Missgeschick passiert, dass mich an ein ähnliches Jahrzehnte zurückliegendes Missgeschick erinnerte. Ich verspürte den Impuls, darüber zu schreiben. Mein Mac Air war schon vor mir auf dem Tischchen. Ich schrieb und schrieb, die Gedanken flogen mir nur so zu, fast eine Seite war schon voll, da passierte es: Ich kann es nicht genau diagnostizieren, Absturz oder Aufhängen (Überlebenschancen in beiden Fällen gleich null). Ich hatte gehofft, dass mein etwas  kapriziöses Wordprogramm sich mit mir oder meinem Mac versöhnt hatte…

    Ich tröste mich damit, dass ich nicht Korrektur lesen muss, denn aus den Augenwickeln hatte ich gesehen, dass es viel rote Unterstreichungen gab! Noch mal beginnen? Wieder einen Absturz oder Erhängen riskieren? Nein, danke! Vielleicht morgen oder irgendwann. Eigentlich war der Text ja schon geschrieben, wenigstens in mir. Wie das nun mal meine berufsbedingte Art als Psychotherapeutin ist, fragte ich mich heute Morgen auf dem Spaziergang mit meiner Hündin, ob sich dahinter vielleicht irgendein Grund verstecke? Ich kam auf einen anderen Fehler, der mir am Anfang des Kongresses passiert war. War der nicht viel wichtiger, sollte ich vielleicht von ihm erzählen?

    Wie soll ich die nötige Information kurz und knapp vorausschicken? Es war im Vorfeld einiges Ungute geschehen. Auf objektiver Ebene, mehr noch auf persönlicher Ebene. Ich hielt mich im Vorfeld für besser informiert als die Mehrheit. Eine kleine Info per E-Mail, hatte in der darauffolgenden Nacht unangenehme Ängste ausgelöst, ein nicht näher zu definierendes Gefühl von Beklemmung. Ich hatte bei der Informantin vorsichtig nachgefragt und … die Antwort: „Ich bin im Weltuntergang“, tat ein Übriges, dass ich mich von der emphatischen Kollegin über die klar analysierende Therapeutin zur kämpfenden Mutter entwickelte. Ich setzte meine kriminalistische Begabung ein, versuchte hier und dort Informationen aus dem Nähkästchen zu erhalten und schließlich war auch ich in Sorge, bzw. schäumte ich vor Wut und entwarf – das war psychohygienisch absolut nötig, sozusagen psychotherapeutische Prophylaxe – einen Schlachtplan. Den galt es nun, wenn nötig, in die Tat umzusetzen. Möglichst so, dass Nähkästchenplauderer nicht erkannt wurden.

    Vor der MV fand unsere Großgruppe statt (der Ort, gleichermaßen geliebt und gefürchtet, wo jeder über seine Gefühle, Ängste, Träume und Visionen sprechen kann, ohne zu befürchten, be- und verurteilt zu werden). Ich war erstaunt, dass einige erwähnten, dass der Vorstand zurück treten wolle. Moment mal, war das nicht ein angesteuertes Ziel? War mein ,,Schlachtplan‘‘ nicht Teil davon, dies Ziel zu erreichen? Auch dort sprach einer ganz offen davon und da, die mir unbekannte Kollegin links in der Ecke… woher wussten denn so viele davon? Und Anwesende des noch nicht zurückgetretenen Vorstandes… hörten schweigend zu, mit verschiedenen Gesichtsausdrücken. Ich möchte auch nicht urteilen, weder be- noch ver-. Meine Irritation wuchs ins Unermessliche! Wie sollte ich mich nun verhalten? Ich ergriff das Wort und sagte klipp und klar und unmissverständlich: „Ich verstehe kein Wort! Kann mich vielleicht einer mal informieren?“

    Ein Sturm brach los. Ich verstand nicht unbedingt mehr, aber die Stimmung wurde besser. Ich war nicht mehr allein. Der klärende Prozess (mehr bei mir als bei den anderen) setzte ein, als eine neue, mir noch unbekannte Kollegin meinte, dass ich ihr aus dem Herzen gesprochen hätte. Erst habe sie sich eigentlich ganz unvoreingenommen auf den Kongress gefreut, aber als sie im Mitgliederrundschreiben las, dass der Vorstand zurück treten wolle, habe sie nichts mehr verstanden. Ich muss sagen, meine Irritation nahm darauf doch wieder zu. Von was sprach sie?

    Ich muss etwas einschieben. Wir hatten vorher alle einen sehr schön gestalten Rundbrief bekommen, der aussah wie eine tolle Zeitschrift, ich hatte mehr oder minder alles mehr oder minder gründlich gelesen, auf jeden Fall wusste ich, was drin stand. Aber dann bekamen wir noch einen speziellen Mitgliederbrief als Vorbereitung auf die Mitgliederversammlung per E-Mail, den liess ich mir von meinem Copyladen ausdrucken um Platz und Papier zu sparen: beidseitig. Ich hatte ihn mal flüchtig durchgeblättert und stellte fest, dass ich die letzten Seiten vor Ort lesen könne, das andere las ich sehr gründlich. Und nun das! Nach einiger Zeit klärte sich das Missgeschick: genau auf der Rückseite von dem Blatt, wo ich aufhörte zu lesen, war dieser Brief des Vorstands! Warum hatte ich das nicht auf der Zugfahrt gelesen, wie ich es mir doch eigentlich vorgenommen hatte? Ich weiß es nicht, ich weiß jetzt nur, dass, auch wenn ich es gewollt hätte, nicht gekonnt hätte, dieser Mitgliederbrief ist schlichtweg verschwunden. Vielleicht habe ich ihn konstruktiv recycelt und als Konzeptpapier verwendet.

    Nach der Großgruppe kam meine Hauptinformantin und Hauptbetroffene (die, die im Weltuntergang war) auf mich zu und sagte bewundernd: ,,Du kannst ja vielleicht schauspielern! Es wirkte so echt! Man hätte meinen können, du hast von Tuten und Blasen keine Ahnung.‘‘ Ich kam erst nicht dazu ihr zu sagen, dass ich weder von Tuten noch von Blasen irgendeine Ahnung hatte! Dieses ihrer Meinung nach absolute (von mir geschauspielerte) Nichtswissen habe den Boden dafür bereitet, dass nun endlich alle Informationen gesagt werden konnten!

    Irgendwann werde ich jetzt heimgekehrt sie per Telefon darüber aufklären. Ich weiß nicht, ob sie meinen Fehler genauso bewundern wird wie meine angebliche schauspielerische Begabung, also warte ich noch etwas mit der Aufklärung, um es mir noch in der Bewunderung gut gehen zu lassen.

    Ich hoffe, dass ich dieses Erlebnis nicht so schnell vergesse, dass ich mich erinnere: Manchmal werden im Drama des Lebens vom Regisseur Schicksal korrigierende Regieanweisungen in Gestalt vermeintlicher Fehler eingesetzt:

     

    Copyright Dr. Helga Thomas

     

    Dieser Text wurde vorgetragen auf dem Jahreskongress de BDSÄ 2105 in Bremen in der Lesung mit dem Thema „Fehler“

     

     

     

     

     

     

     

     

     

  • Dieser Text wurde vorgetragen beim Jahreskongress des BDSÄ 2015 in Bremen in der Lesung mit dem Thema „Bremer Stadtmusikanten“

     

    Eine wichtige Botschaft aus dem Märchen „Bremen Stadtmusikanten“ ist für mich, dass wir uns durch unvorhergesehene, abwegige, verrückte, unpassende, vielleicht auch laute Ereignisse und Anforderungen nicht aus dem Gleichgewicht bringen oder gar in die Flucht schlagen lassen dürfen.

    Ein Beispiel dafür habe ich neulich erlebt mit zwei Begegnungen der besonderen Art in einer Nacht.

    Ich war gerade in meinem Dienstzimmer eingeschlafen, wo wir Ärzte uns ausruhen können, wenn wir Nachtdienst in der Notfallpraxis haben. Da rief mich die Arzthelferin in die Praxis zurück. Auf dem Weg über den Flur machte ich mir zum soundsovielten Mal klar, dass ich jetzt trotz meiner Müdigkeit freundlich und aufmerksam sein musste.

    Es gibt ja tatsächlich Patienten, die nachts in die Notfallpraxis kommen und wirklich ein Notfall sind. Ich meine mit Notfall, was ein Arzt darunter versteht: eine frisch aufgetretene Notsituation, die den Patient akut bedroht und in der er sofort Hilfe benötigt. Oft habe ich den Eindruck, dass die Notfallpraxis für manche Menschen eine Bedürfnisbefriedigungsanstalt ist, zu der sie gehen, wenn sie gerade Zeit haben, ein schon längeres Bedürfnis zu stillen oder eine unangenehme Sache zu klären. Außerdem muss man in unserer Notfallpraxis auch selten lang warten, jedenfalls nicht länger als in so mancher Arztpraxis. Die Patienten wissen das genau und nützen es aus. Ich komme mir manchmal vor wie ein Angestellter bei McDonald´s oder an der Tankstelle. Aber jetzt, heute Nacht, bin ich der Verantwortliche in einer richtigen Arztpraxis.

    Auf der Rezeption steht eine halb volle Sprudelflasche. Die junge Frau weint, als wir einander begrüßen. Eine Begleitperson sitzt still im Eck.

    „Was gibt´s denn?“, frage ich.

    Die Patientin schaut mich durch ihre Tränen an und fragt mit weinerlicher Stimme:

    „Können Sie mir sagen, warum mein Mund seit heute Abend keine Spucke mehr produziert?“

    Ich bin verblüfft und versuche, meinen Ärger zu besänftigen.

    „Und das fragen Sie mich jetzt um halb zwei morgens?“

    „Ja, das möchte ich jetzt wissen, ich werde fast verrückt. Ich trinke und trinke, und ich habe trotzdem einen furztrockenen Mund.“

    Da greift die Arzthelferin ein: „Sie müssen dem Herrn Doktor aber schon die ganze Geschichte erzählen!“

    „Und was ist die ganze Geschichte?“

    „Ja, wissen Sie, ich habe mir Anfang der Woche ein Zungenpiercing-Loch erweitern lassen, da schwillt die Zunge an, das ist ja in Ordnung, und das ist auch schon wieder vorbei, aber jetzt habe ich keine Spucke mehr! Es macht mich wahnsinnig!“

    Ich bin drauf und dran, der Frau zu empfehlen, jetzt sofort mitten in der Nacht ihren Piercer anzurufen und um Rat zu fragen. Aber ich halte mich zurück und sage: „Na, über Piercing habe ich sicher eine andere Meinung als Sie! Kommen Sie ins Sprechzimmer, ich schau mir das mal an.“

    Ich untersuche die Mundhöhle und sehe kein Piercingloch, keinen Zungenstecker und einen auch sonst völlig gesunden Mund.

    Dann zucke ich mit den Schultern: „Ich weiß nicht, warum Sie keine Spucke haben. Haben Sie denn Medikamente genommen, die als Nebenwirkung einen trockenen Mund machen können?“

    „Nein, ich nehme gar keine Medikamente!“ –

    Die Frau wird etwas ruhiger, wahrscheinlich, weil sie merkt, dass ich sie doch wenigstens ernst nehme.

    „Dann erzählen Sie mir mal genau, was Sie heute Abend gemacht haben. Vielleicht komme ich dann drauf, was Ihr Problem verursacht hat.“

    Sie schildert einen unauffälligen Verlauf des Abends, dann kommt der entscheidende Satz:

    „Nach dem Zähneputzen habe ich noch eine Mundspülung gemacht, richtig lang und gründlich, damit es ja keine Infektion in dem Piercingloch gibt!“

    Ich bin erleichtert:

    „Ja, dann ist doch alles klar. Kennen Sie den Begriff adstringierende Wirkung?“

    „Nein.“

    „Das Mundspülmittel zieht die Schleimhaut zusammen und schließt damit auch die Ausführungsgänge der Speicheldrüsen. Das ist sehr lästig und völlig harmlos!“

    Die Frau schaut mich verblüfft an. „Und jetzt? Was mach ich jetzt?“

    Ich lächle sie an: „Ruhig bleiben, weiter trinken, bis die Wirkung nachlässt. Dann machen die Speicheldrüsen wieder auf. Im Lauf des Vormittags ist wieder alles in Ordnung!“

    Die junge Frau kann es kaum glauben, verlässt aber dann einigermaßen beruhigt die Praxis.

    Ich gehe zurück in mein Dienstzimmer und lege mich wieder hin. Nach einer weiteren Stunde im Halbschlaf werde ich erneut in die Praxis gerufen.

    Das steht ein Mann etwa Mitte vierzig und sagt: „Ich habe seit sechs Wochen Schmerzen an der linken Fußsohle. Können Sie da was machen?“

    Ich bemühe mich, nicht zu explodieren. Diese Situation habe ich oft erlebt: Ein völlig unangemessener Wunsch zur Unzeit und dann noch mit einer ebenso unpassenden Anspruchshaltung auf Sofort-Wunderheilung. Ich weiß, dass ich ruhig bleiben muss. Also sage ich nur mit gebremster Freundlichkeit und so, dass der Patient merkt, wie er bei mir auf ein roten Knopf gedrückt hat:

    „Also, seit sechs Wochen haben Sie das, und da kommen Sie mitten in der Nacht? Was sagt der Hausarzt?“

    Der Patient erwidert ganz ruhig: „Ich war bei keinem Arzt!“

    Ich bleibe auch ruhig – äußerlich wenigstens: „Da fühle ich mich aber ganz schön verschaukelt von Ihnen und ausgenützt! Haben Sie gelesen, dass da draußen auf dem Schild Notfallpraxis steht? Sie sind ganz bestimmt, ganz sicher nie und nimmer ein Notfall. Ist Ihnen das bewusst?“

    Der Patient zuckt mit der Schulter: „Nein, aber heute Abend hat´s weh getan. Und jetzt bin ich da. Was machen wir jetzt?“

    Ich weiß ja, dass ich den Patient versorgen muss, also schlucke ich meinen Ärger runter und sage: „Zeigen Sie mir mal den Fuß.“

    Ich untersuche den Fuß gründlich, denn auch ein nächtlicher Nicht-Notfall-Patient kann ja mal krank sein. Die Fußsohle zeigt keine Entzündung, keine Verletzung, keine Druckschmerzen, keine Bewegungsschmerzen, keine Hautauffälligkeiten, es ist wirklich eine völlig normale Fußsohle.

    Mit ernster Miene sage ich: „Das ist ein eindrucksvoller Befund!“

    „So, was ist das?“

    „Eine völlig normale Fußsohle!“

    Nach dieser Verblüffung überlegt der Patient: „Ja, können Sie die Glasscherbe jetzt rausmachen?“

    Jetzt bin ich überrascht: „Glasscherbe? Wie kommen Sie denn auf Glasscherbe?“

    „Ja wissen Sie, vor sechs Wochen habe ich im Urlaub am Strand Volleyball gespielt, und da habe ich mir wahrscheinlich eine Glasscherbe reingetreten. Die können Sie doch jetzt rausoperieren!“

    Ich hole Luft: „In so eine gesunde Fußsohle wird kein vernünftiger Chirurg reinschneiden, schon gar nicht, wenn er nicht sieht und tastet und Sie nicht wissen, wo die Glasscherbe ist!“

    „Aber Sie können doch jetzt ein Röntgenbild machen!“

    „Ich mache jetzt ganz sicher mitten in der Nacht kein Röntgenbild, auch deshalb nicht, weil man eine normale Glasscherbe im Röntgenbild nicht sieht. Nur wenn Sie schwören, dass es ein Bleiglas war, – und das können Sie nicht -, dann kann man die Scherbe im Röntgen sehen.“

    Der Patient lässt nicht locker.

    „Aber Sie können doch jetzt eine Computertomografie machen!“

    „Wenn es ein lebensbedrohlicher Notfall wäre, zum Beispiel ein Schlaganfall, könnte man jetzt ein CT machen, da haben Sie Recht. Aber die Sache hatte jetzt sechs Wochen Zeit. Dann muss ich nicht notfallmäßig auch noch die Röntgenassistentin aus dem Bett holen. Ich denke, das sollten Sie mal in Ruhe in der ganz normalen Sprechstunde mit Ihrem Hausarzt besprechen. Der kann Sie dann immer noch, wenn er es für nötig hält, zum Röntgen oder zum Chirurgen überweisen.“

    „Ja, und was soll ich jetzt machen?“

    „Jetzt machen Sie es wie in den letzten sechs Wochen auch. Gehen Sie nach Hause. Und wenn Sie je wieder Schmerzen haben – jetzt haben Sie ja keine Schmerzen -, dann nehmen Sie ein Schmerzmittel. Gute Nacht!“

    Copyright Dr. Dietrich Weller

  • Freitagnacht. Sprechstunde in der Notfallpraxis im Marienhospital.

    Der ältere Herr ist einfach und sauber gekleidet, schlank, stellt einen kleinen Rucksack neben den Stuhl, auf den er sich setzt, und sagt: „Ich habe eine chronische Bronchitis.“

    Dann wartet er auf meine Reaktion.

    „Haben Sie sonst noch Beschwerden?“ –

    „Nein!“

    „Dann lassen Sie mich mal die Lunge abhören, bitte.“

    Er steht auf, ich ziehe sein Hemd hoch, höre Lunge und Herz ab:  „Alles normal, prima!“

    Dann messe ich mit dem Ohrthermometer seine Temperatur: „37,1° C, auch gut! – Haben Sie überhaupt irgendwelche Beschwerden?“

    „Nein!“

    „Warum sind Sie dann da?“

    „Ich habe meinen Hausschlüssel verloren! Und der Mann, der mir helfen kann, der Hausmeister, kommt erst am Montag.“

    „Das ist natürlich dumm. Wo schlafen Sie bis dahin?“

    „Ja, ich denke, hier im Krankenhaus!“

    Ich bleibe freundlich und sehr bestimmt.

    „Also ganz sicher werden Sie nicht hier übernachten! Das hier ist ja kein Hotel! Da müssen Sie eine andere Lösung finden!“

    Er entgegnet ganz ruhig: „ Aber das ist doch ein christliches Krankenhaus, die müssen mir helfen!“

    „Ja“, sage ich, „aber nur wenn Sie krank sind! Sie sind nicht krank, sondern Sie haben den Hausschlüssel verloren! Das ist etwas ganz anderes. Dafür sind wir hier nicht zuständig!“

    Die Medizinische Fachangestellte, die mir in der Sprechstunde hilft und den Dialog mitgehört hat, fragt: „Haben Sie den Schlüsseldienst angerufen?“

    Der Mann antwortet empört: „Ja klar, aber der will 83 Euro haben, und die will ich nicht zahlen!“

    Sie bleibt direkt: „Wollen Sie nicht zahlen, oder können Sie nicht zahlen?“

    „Ich will nicht bezahlen, weil ich dann am Wochenende gar nicht aus der Wohnung gehen kann, sonst muss ich jedes Mal wieder neu den Schlüsseldienst rufen und wieder 83 Euro zahlen!“

    „Könnten Sie das Geld zahlen?“

    Er zögert, dann etwas kleinlaut: „Ja, aber ich habe kaum Geld da.“

    „Und auf der Bank? Können Sie etwas abheben?“

    „Ja, aber da gibt es auch nicht wesentlich mehr!“

    Er macht eine Pause, dann setzt er nach und fixiert mich: „Sie müssen mir helfen, Sie sind doch Arzt!“

    „Ja, stimmt, wenn Sie krank sind, bemühe ich mich, Ihnen zu helfen. Aber Sie haben den Hausschlüssel verloren und wollen die Hilfe, die Sie haben und bezahlen könnten, nicht annehmen. Das ist etwas ganz anders. Ich bin der falsche Ansprechpartner für Sie. Und wenn ich die Internisten hier im Haus bitte, Sie stationär aufzunehmen, werden die sich strikt weigern. Es gibt keinen medizinischen Grund für eine stationäre Aufnahme. Sie erwarten selbstverständlich, dass die Krankenkasse sofort mehrere hundert Euro zahlt, wenn Sie übers Wochenende hier aufgenommen werden. So geht das nicht!“

    Er gibt nicht nach: „Aber ich brauche doch nur ein Bett und eine Toilette und eine Dusche!“

    „Das verstehe ich. Dann müssen Sie in ein Hotel gehen, nicht in ein Krankenhaus. Sie könnten sich aus Ihrer Lage leicht retten, wenn Sie die 83 Euro investieren, dann können Sie eben übers Wochenende nicht aus dem Haus gehen, oder Sie fragen Nachbarn um Hilfe.“

    „Ich habe kein gutes Verhältnis zu den Nachbarn“, ist seine etwas zerknirschte Antwort.

    Ich will der Situation einen Ausweg geben und den Patient in Gutem entlassen und nicht hinauswerfen. Deshalb bitte ich die MFA, mir den Ordner zu geben, in dem die Adressen für Notunterkünfte in Stuttgart verzeichnet sind. Wir überfliegen die Seite.

    Ich erkläre es dem Patienten: „Hier diese Adressen sind für Obdachlose, für Frauen und für Kinder in Not und für junge Drogenabhängige. Da passen Sie nicht hin, denn Sie haben ja ein Obdach, eine Adresse, nur eben keinen Schlüssel dazu.“

    Es entsteht eine Pause. Dann sagt er:

    „Ja, und jetzt?“

    Ich antworte: „Das Einzige, was ich jetzt noch tun kann: Ich rufe in dem Obdachlosenheim für Männer in der Nordbahnhofstraße an und frage um Rat.“

    Die Nummer ist rasch gewählt, ich stelle mich dem Diensthabenden im Obdachlosenheim für Männer vor, erkläre die Situation und frage, was er meinem Patienten rät.

    Die Antwort ist so klar wie knapp: „Wenn Ihr Patient den Schlüsseldienst nicht bezahlen will, schläft er auf der Straße. Wenn er den Schlüsseldienst nicht bezahlen kann, hat er ein Recht, sich im Obdachlosenheim in der Hauptstädterstraße 150 zu melden. Aber die werden ihn sehr genau fragen, warum er nicht zu Hause schläft! Ich glaube nicht, dass er da reinkommt. Aber versuchen kann er es ja.“

    Oje, denke ich, das ist auch die Adresse für jugendliche Drogensüchtige!

    Die MFA sagt: „Da werden Sie sich nicht wohlfühlen. Da ist es besser, Sie holen den Schlüsseldienst!“

    Ich erkläre dem Patienten noch einmal die Situation. Er akzeptiert widerwillig die Adresse und geht.

    Als er nach dem Rucksack greift, der da prallvoll steht, kommt mir der Gedanke: Wer verliert zufällig seinen Hausschlüssel und hat ebenso zufällig seinen vollen Rucksack dabei? Steckt da etwas ganz anderes dahinter? Hat der Patient mich angelogen oder nur die halbe Geschichte erzählt? Aber ich will nicht eine neue Diskussion anfangen und lasse den Patienten gehen. Ich weiß, dass ich ihm nicht mehr helfen kann, als ich es getan habe.

    Copyright Dr. Dietrich Weller

    Der Text wurde vorgetragen beim BDSÄ-Jahreskongress 2015 in Bremen in der Lesung mit dem Thema „Fehler“

  •  

    Ein entfernter Onkel von mir plauderte gerne aus seiner Vergangenheit. Er hatte etliche Jahre als Arzt in einem Gefängniskrankenhaus gearbeitet.

    Einmal erzählte er folgende Begebenheit:

    Im Krankenhaus waren für jede Station einige Gefangene als Hilfskräfte ausgewählt, sie hatten eine Sonderstellung: Man nannte sie Kalfaktoren.

    Einer von ihnen, Walter Pingel, von Beruf Bäcker, war besonders geschickt und zuverlässig. Als er nach zwei Jahren entlassen wurde, bedauerten wir alle, dass seine Freiheitsstrafe nicht länger währte. Zum Abschied bedankte er sich sehr, denn er fühlte sich gut behandelt und er war froh, dass wir ihn im Krankenhaus behalten hatten und er nicht wieder in die Braunkohle zurück musste, wo er das erste Jahr verbüßt hatte.

    Walter Pingel, ein Mecklenburger, versprach, für unsere Station eine wunderschöne Torte zu backen und eigenhändig zum Krankenhaus zu bringen. Wir brachten unsere Freude darüber zum Ausdruck und nahmen das Versprechen als gutgemeinten Gedanken, nicht an die Verwirklichung glaubend. Aber, er war eben ein Mecklenburger. Versprochen ist versprochen.

    Drei Wochen später bekam ich telefonisch vom Wachgebäude Bescheid, dass ein Herr Pingel mit einer Torte im Karton gekommen sei und diese für unsere Abteilung abgeben wolle. Am liebsten würde er sie mir, dem Chefarzt, übergeben. Der Karton sei bereits geprüft, es sei wirklich eine Torte darin und geviertelt sei sie auch schon, um sicher zu gehen, dass in der Torte keine Feile und kein Messer versteckt seien.

    Ich gab Anweisung, Herrn Pingel in den Besucherraum zu führen und dort auf mich zu warten.

    Herr Pingel übergab mir dann mit Stolz die selbstgebackene Torte. Sie war mit Sahne ummantelt, deren Oberfläche mit Raspelschokolade bedeckt war und am Rand 16 Sahnerosetten trug, darauf jeweils eine kandierte Kirsche.

    Herr Pingel wollte sicher sehen, wie mir die Torte schmeckte und bat mich, gleich ein Stückchen zu probieren. Das wollte ich nur tun, wenn er ein Stückchen mitessen würde. Er willigte ein. Der Wachmann lehnte ab. Die Torte schmeckte fantastisch. Herr Pingel war voller Freude. Er erklärte mir, dass er sechs Eier verwendet hatte, deren Eiweiß zu Schnee geschlagen worden war. Das Eigelb hatte er mit Zucker schaumig gerührt und unter die im warmen Wasserbad geschmolzene Kuvertüre mit Butter gezogen. Die weiteren Schritte der Herstellung konnte ich mir nicht merken.

    Jedenfalls wurde der gebackene und erkaltete Biskuit waagerecht zweimal durchschnitten und mit Kirschsaft und Kirschwasser getränkt. Die Zwischenräume wurden mit Sahne ausgelegt. Verwendung fanden auch Zucker, Mehl, Speisestärke und Backpulver. Er wolle mir gerne das Rezept zusenden.

    Ich erkundigte mich nach Frau und Kindern und der Wiederaufnahme der Tätigkeit als Bäcker. Alles erschien positiv. Herr Pingel verabschiedete sich und ich ging mit den 14 Stücken  Torte zu meiner Krankenstation, wo ich ein gemeinsames Kaffeetrinken mit Torte für den Nachmittag plante.

    Als ich mein Zimmer betrat, sagte mir die Sekretärin, ich solle sofort zum ärztlichen Direktor kommen. Warum, dass wusste sie nicht.

    Der Direktor hatte inzwischen durch den Diensthabenden der Wache von der Tortenübergabe erfahren und machte mir heftige Vorwürfe, dass ich die Torte überhaupt angenommen hatte. Und das von einem ehemaligen Gefangenen! Die Torte dürfe doch auf keinen Fall gegessen werden, sie könnte doch vergiftet sein. Ich möge mir doch nur einmal vorstellen, was es bedeute, wenn das gesamte Personal meiner Abteilung, ich eingeschlossen, wegen Krankheit ausfiele oder wegen Todes ersetzt werden müsse.

    Auf meinen Einwand, dass wir die Torte ja auch den Kalfaktoren geben könnten, erwiderte er, dass es mindestens genau so schlimm sei, keine Hilfskräfte mehr zu haben. Dann müssten Pfleger und Schwestern ja alle Arbeiten allein verrichten.

    Ich wurde langsam wütend und sagte: “Dann geben Sie die Torte doch den Hunden in der Laufzone”. Der Direktor erregte sich ebenfalls: “Das wäre ja noch furchtbarer. Wissen Sie, was so ein Tier kostet und wie viel Zeit es braucht, um es abzurichten?”

    Daraufhin habe ich meinen Dienstvertrag nicht verlängert.

    Die Torte wurde in einem chemischen Labor auf Gifte untersucht und, da sie kein Gift enthielt, von den dortigen Mitarbeitern verzehrt, was ich neidvoll zur Kenntnis nehmen musste.

     

    Copyright Dr. Jürgen Rogge

    Der Text wurde vorgetragen bei der BDSÄ-Jahrestagung 2015 in Bremen in der Lesung mit dem Titel „Fehler“

     

  • Schreibblockade
    In meiner Dichterstube sitz` ich hier
    Vor mir ein weißes Blatt Papier.
    Es ruft von innen: „Du sollst schreiben!“
    Doch könnt´ ich dies und jenes treiben,
    Zum Beispiel davon zu berichten,
    Was ich sonst täte – ohne dichten:
    Wie in den nahen Park zu geh`n
    Um Bäum` und Pflanzen zu bestimmen,
    Vor alten Eiben sinnend steh`n,
    Nur weg vom Horror vacui, dem schlimmen.
    Und die Gedanken fliegen hin zum Gingko –Baum
    Zur Chamaezyparis, Lawson – Zypresse.
    Der Bärlauch sprießt, man riecht ihn kaum,
    Der Weißdorn hier weckt mein Interesse.
    Als Heilmittel einst hochgeschätzt,
    Wird er nun durch Chemie ersetzt.
    Zurück nun die Gedanken fliegen
    Und sehen das Papier dort liegen.
    Nur ein paar Worte stehen drauf.
    Zu träge der Gedanken Lauf.
    Gibt es denn wirklich kein Entweichen?
    Ach ja:
    Die Gartenbank ist noch zu streichen …

     

    Copyright Dr. Wilfried Dinter

  • Zwiespalt

     

    Ich möcht` so gerne einen Schlager schreiben –

    Von Herz und Schmerz und Lust und Leid und so.

    Und anderen und mir die Zeit vertreiben,

    Den Augenblick genießen, unbeschwert und froh.

    Wie oft hat man es schon versucht, dem Ernste zu entfleuchen,

    Emporzusteigen aus dem engen Tal,

    Die Grübeleien wegzuscheuchen,

    Doch stand im Weg der intellektuelle Sündenfall.

    Dort auf dem Berge wohnt das Licht –

    Hinaus aus tiefer, düstrer Enge !

    Der Aufstieg nimmt die letzten Kräfte nicht,

    Dort oben tönen and`re Klänge.

    Und neue Kräfte werden frei,

    Sie schaffen uns das Einfach – Wahre.

    Die Grübeleien sind vorbei.

    Es gilt nur noch das Helle, Klare.

    Und also weitet sich der Sinn

    Und heiter kann ich wieder abwärts steigen

    Mit der Erkenntnis: Nicht der Welt entflieh`n –

    Ihr ist nicht nur der Ernst zueigen!

    Denn ernst ist jede Heiterkeit.

    Ohn` tief`re philosophische Gedanken,

    Nur soviel: Alles kommt zu zweit –

    Die Rose mit der Dornen Ranken.

    Drum möcht` so gern ich einen Schlager schreiben,

    Von Herz und Schmerz und Lust und Leid und so.

    Das eine wie das andere nicht übertreiben –

    So zwischen zappenduster – lichterloh.

    Copyright Dr. Wilfried Dinter