Schlagwort: Lebenskonflikt

  • Als meine Großmutter fragte – es war eigentlich nur der Form nach eine Frage – „na, du betest sicher nicht?“, spürte ich all die ablehnenden Gefühle in ihrer Stimme, die sie gegen meine Mutter hatte. Ich drückte mich ganz fest ins Bett und sagte mutig zu ihrem Gesicht, das über mir war, jeden Moment bereit, sich herab zu senken und mit den unvermeidlichen Gutenacht-Kuss zu geben: „natürlich bete ich“. Auch wenn sie es sich nicht anmerken ließ, sie war überrascht. Aber nun wollte sie mit mir beten und wollte wissen, welches denn mein Gebet sei.

    In meinem angstvollen Erschrecken kam mir aber eine Erinnerung zu Hilfe. Damals, vor Jahren, als ich noch klein gewesen war und mit anderen Kindern im Krankenhaus weit weg von zuhause gelegen hatte, hatten mich, das heißt uns, die beiden großen Mädchen nach unseren Gebeten gefragt. Sie hatten schon die Abende zuvor, wenn die Krankenschwester Gute Nacht gesagt, das Licht gelöscht und die Notrufklingel über das Bett der Großen aufgehängt hatte, den Tag beendet mit: „Jetzt beten wir“. Ich hatte bis dahin nicht gewusst, was beten ist, aber ich hatte Bilder von schönen Frauen gesehen, die ihre Hände aneinanderlegten und ein Dach formten (wie bei dem hässlichen Fingerspiel „Petze, Petze ging in Laden. . . “), das tat ich dann auch und ließ die Bilder des Tages an mir vorbeiziehen. Aber dazu brauchte es diese Handhaltung nicht und ich wurde wieder wach. Beten musste noch etwas anderes sein. Die schönen Frauen lächelten, als ob sie jemandem zuhörten und schauten dabei auf ihre Hände. Ich verfolgte nun den Tagesablauf vom Ende her, im Rhythmus des sanften Schaukelns, und lauschte, ob der Engel neben meinem Bett mir etwas zuflüsterte. Das war so anstrengend, dass ich müde wurde, einschlief, bevor ich beim Morgen angelangt war. Reihum, in der Reihenfolge der Betten, sagten wir unsere Gebete auf. Die kleinste, noch im Gitterbettchen, die bald ein Engelchen sein würde, sagte ihres hastig, noch ganz in kindlicher Sprache:

    Ich bin klein, mein Herz ist rein,
    soll niemand drin wohnen
    als Mama und Papa allein.

    Das Gebet gefiel mir nicht, ich konnte mir nicht mein Herz als Puppenstube vorstellen und warum Mama und Papa allein, warum nicht die Großmütter und Großväter? Das Mädchen, das wohl so alt war wie ich, das rechts neben meinem Bett lag, sagte etwas von wachenden Engeln und zum Schluss sprach sie von ihrem Vater, der in der Fremde beschützt werden solle und dessen Heimkehr sie erwünschte.

    Dann war ich an der Reihe. Was sollte ich sagen? Ich wusste nicht, dass zum Beten nicht nur Bilder gehören, sondern auch Worte! Ich hatte an diesem Tag auf dem Spaziergang (ich durfte zum ersten Mal auch raus in den Wald und die Berge) Glockenblumen gesehen und sie hatten eine Flut von wunderbaren Gefühlen in mir ausgelöst. Sie sahen aus wie die betenden Frauen, ganz still lauschten sie auf ihren Glockenklang:

    Die Glockenblumen läuten

    und das Gebet beginnt.

    Die Mädchen fanden es wunderschön, aber wollten wissen, wie es weitergeht. Ich meinte, das wisse ich nicht, es sei doch immer anders, je nachdem wie der Tag gewesen sein. Was beteten die beiden Großen? Das gleiche Gebet:

    Breit aus die Flügel beide . . .

    Es gefiel mir und ich verstand, dass sie sich zuflüsterten, ihr Gebet sei das schönste.

    Das erlebte ich alles auf einen Blick, als das Gesicht meiner Großmutter wartend über mir schwebte. „Breit aus die Flügel beide“. Sie freute sich, aber wartete und sagte dann weiter, als ob sie mir vorsagte:“ und nimmt ein Küchlein ein. . . So ging es Zeile für Zeile. Ich hörte später, nachdem sie mich lieb geküsst hatte, wie sie meinte: „War das Kind aufgelegt, sie hatte vor Aufregung alles vergessen“.

    Ich schlief schlecht diese Nacht nach meinem neuen Gebet, denn ich versuchte, es nicht mehr zu vergessen, denn morgen könnte ich doch nicht schon wieder aufgeregt sein.

     

    Copyright Dr. Helga Thomas. Der Text wurde bei dem BDSÄ-Jahreskongress 2014 vorgetragen zum Thema „Gott und wir“.

    Aus: Helga Thomas, Geschichten (m)einer Kindheit, Sursee 2007, S.f

     

  • Endlich ist mir jemand begegnet, dem ich meine Schuldgefühle anvertrauen kann. Ich dachte, ich könne nie darüber sprechen, der Schmerz sei einfach zu stark. Doch der Schmerz darüber, dass die Welt weiterhin Jahr für Jahr, Jahrhundert für Jahrhundert, inzwischen sogar Jahrtausende lang meinem Geliebten Unrecht tut, ist noch größer, noch unerträglicher geworden. Ich weiß nicht, was mich trösten könnte. Vielleicht die Töne seiner Leier, die wie erfrischender Regen niedertropfen und manchmal aufsteigen wie Nebel in der Morgensonne. Aber er spielt nicht mehr. Zumindest nicht für mich. Zumindest hör ich es nicht. Bleibt nur das Geständnis meiner Schuld. Vielleicht tröstet es mich. Etwas. Der Versuch ist die Mühe Wert.

    Ich wurde gewaltsam geraubt, verschleppt ins Reich der Unterwelt. Weil ich keinen einzigen Granatapfelkern aß (schließlich kannte auch ich Persephones Geschichte) konnte ich weiterhin meiner Liebe treu bleiben, ich wurde kein Schatten unter den Schatten, der Herr der Unterwelt hatte nur bedingt Macht über mich. Aber in meine Welt zurückkehren konnte ich auch nicht.

    Orpheus’ Musik drang nicht zu mir in die Tiefe, so konnte ich sie nicht hören, aber ich hörte, wie man sich von seiner Musik erzählte. Seit er seine Trauer um mich durch die Musik ausdrückte, war sie wohl noch beeindruckender geworden. Felsen, Bäume und Tiere weinten mit ihm (oder statt seiner?), sie folgten ihm wie einer Trauerprozession. Und dann fand er den Eingang in dieses Reich, man wehrte ihm den Zugang nicht. Wahrscheinlich war man begierig darauf, seine Musik hier zu hören. Sie wandelte sich. Seine Musik – seine Trauermusik, seine Klagelieder – wandelte sich in fröhliche Musik, zu der man sich bewegen musste, sich drehen, wiegen, hüpfen, springen. Alle Schatten begannen zu tanzen. Licht entströmte den Tönen, den Saiten, seinen Fingern und floss ins Dunkel, wie ein gerade entsprungener Quell. Da wurde mir erlaubt, ihm zu folgen. Eine Bedingung gab es… ich hörte sie und hatte sie gleich wieder vergessen, vor Glück, ihm folgen zu dürfen. Ich meine, wir sollten nicht miteinander reden und auf unserem Weg nach oben nicht innehalten.

    Ich folgte ihm, was nicht leicht war, denn die Schatten legten sich wie Nebel zwischen uns auf den Weg, der ja keiner war, gerade entstanden unter Orpheus’ Tritten. Und im Dunkel schien er meinen Augen zu entschwinden. Ich eilte, denn ich wusste, wenn ich ihn nicht mehr sah, gab es für mich keinen Weg mehr, dann hätte der Gebieter der Unterwelt wieder Macht über mich. Vielleicht mehr als zuvor. Wieder und wieder entschwand Orpheus meinen Blicken, ganz klein war er schon durch die Entfernung geworden, Angst schnürte mir von neuem die Kehle zu, nahm mir die Luft zum Atmen, die ich gerade wieder zu spüren begann. Da rief ich seinen Namen: „Orpheuuus!“ und bittend fügte ich hinzu: „Warte auf mich“. Erschrocken blickte er sich um zu mir … im selben Moment waren wir unseren Blicken entschwunden, die Unterwelt hatte mich wieder.

    Seit dem habe ich ihn nie mehr gesehen, nie mehr seine Musik gehört. Hätte er sich nicht mach mir umdrehen sollen? Aber ich musste ihn rufen …

    Eurydikes Ruf, Eurydikes Klage… hören sie wir nicht manchmal ganz leise? In hellen Vollmondnächten? Im Dunkel des wolkenbedeckten Himmels? Im Schweifen der Nebel? In unserem eigenen Innern, wenn wir lieben und eine Ahnung vom ewigen Sein uns erfüllt?

    Eurydikes Klage… verstummt sie jetzt, wenn wir von ihrer Schuld wissen? Wer kann ihr verzeihen denn Orpheus kann es nicht mehr. Oder… muss sie ihn wieder rufen, denn sie weiß so wenig wie wir, wo er ist.

    Copyright Dr. Helga Thomas

    Dieser Text wurde beim BDSÄ-Jahreskongress zum Thema „Kommen und Gehen“ vorgetragen

  • Brustkrebs. Das Wort hängt schon monatelang wie eine giftgelbe Wolke im Haus und dringt in jeden Gedanken ein. Nach gelungener Operation und Chemotherapie war die Bedrohung zwar etwas verdrängt und hat einem leisen Wind der Hoffnung Platz gemacht. Aber die Angst durchfließt jetzt in der Kliniksprechstunde trotzdem wieder alle Poren von Judiths blassgelber Haut und ist wie dicke Luft im Raum zu spüren, während Judith und Arno auf den Befund der neuesten Untersuchung warten.

    Der Professor verdirbt die Stimmung von Judith und Arno mit wenigen Worten: „Leider haben wir mehrere Metastasen in der Leber gefunden. Das ist der Grund für Ihre Gelbsucht. Die Kernspinbilder zeigen, dass wir auch nicht mehr operieren können!“

    Tränen rinnen über Judiths Gesicht, Arno putzt sich verlegen die Nase, wischt wie zufällig über die Augen und streichelt unbeholfen die Schulter seiner Frau. Dann macht er rasch einen Vorschlag: „Da gibt es aber doch Lebertransplantationen. Damit ist meine Frau sicher zu retten! – Sie schaffen das, Herr Professor!“

    Der Professor wiegt langsam seinen Kopf: „Einige Metastasen haben sich auch in der Lunge angesiedelt. Das schließt eine Transplantation aus.“ Er macht eine kurze Pause und lässt den Satz wirken. Dann ergänzt er: „Ich schlage vor, Sie verdauen den Schreck erst einmal. Ich werde den Fall heute Nachmittag in unserer Tumorkonferenz vorstellen. Dann treffen wir uns übermorgen zu einem Gespräch über die Behandlung, die wir Ihnen empfehlen.“

    Die Verabschiedung ist kurz und wortkarg. Rasch verlassen sie den Raum wie auf einer Flucht. Auf dem Flur sinkt Judith in einen Stuhl. Arno setzt sich daneben. Schweigend verharren sie wie gefangen in einem tiefen Loch der Verzweiflung.

    Da sagt Judith fast tonlos: „Ich glaube, wir müssen uns aufs Schlimmste einstellen. Lass uns überlegen, was wir in der Zeit noch tun können, die mir verbleibt!“

    Arno braust auf und beherrscht seine Stimme nur mühsam: „Das kommt überhaupt nicht infrage! Du wirst wieder gesund! Ich weiß das! Ich will dein Gerede vom Sterben nicht mehr hören! Wir werden weiter kämpfen! Du hast doch gehört, dass der Professor dir übermorgen eine Therapie anbietet!“

    Judith schweigt bedrückt und sinkt weiter in sich zusammen. Sie spürt, dass sie Arno ihre Empfindungen und Bedürfnisse nicht vermitteln kann. Dabei braucht sie ihre Kraft, um mit sich und ihren Ängsten zurechtzukommen.

    Arno hat sich nach seinem Ausbruch rasch wieder im Griff und nimmt Judith liebevoll an der Hand: „Es tut mir leid, dass ich so heftig geworden bin. Komm, lass uns nach Hause gehen! Du musst daran glauben, dass du gesund wirst!“

    Judith spricht auf dem Nachhauseweg und beim Abendessen nur wenig. Beide sind in sich abgekapselt, und die unsichtbare Wand scheint zwischen ihnen gedankendicht zu sein. Nach dem Essen sitzen sie wortlos vor dem Fernseher vor einer Politdiskussion, aber beide können nicht zuhören. Nach einer Weile steht Judith auf: „Ich gehe ins Bett, ich bin müde!“

    „Gute Nacht, Judith, schlaf gut!“

    Arno gießt sich noch ein Bier ein.

    In den nächsten Tagen bleibt die Unterhaltung zwischen Judith und Arno oberflächlich, ja auffallend belanglos. Jeden Versuch, über die schlechten Aussichten oder über mögliche Verhaltensweisen, Therapieangebote oder andere Konsequenzen zu sprechen, biegt Arno glatt ab mit dem Versprechen: „Du wirst sehen: Alles wird gut! Dann können wir planen, was wir machen, wenn du gesund bist.“

    „Wenn du meinst!“, sagt Judith und dreht sich um, damit Arno nicht sieht, wie sie mit den Tränen kämpft. Auch die Chemotherapie, die der Professor „als Therapieversuch“ vorschlägt, begrüßt Arno mit Begeisterung und demonstrativer Hoffnung, während Judith zögert mit ihrer Antwort. Arno entscheidet für sie: „Ja, natürlich will meine Frau die Chemotherapie!“

    Judith gibt sich geschlagen, sie ist still und nickt nur. Sie schaut den Professor an. Er versteht sie wortlos und nickt ebenfalls.

    In den nächsten Tagen kommentiert Arno jede einzelne Nebenwirkung der Therapie: „Du siehst, es wirkt! Du wirst gesund! Es wird dir besser gehen nach der Therapie!“

    Arno spielt Tennis mit seinem Freund und freut sich über die Ablenkung. Judith verbringt die Stunden überwiegend zuhause im Bett oder auf dem Sofa. Sie nimmt weiter ab, ist zum Umfallen schwach und völlig appetitlos. Sie versucht, den Haushalt so weit wie irgend möglich aufrecht zu erhalten und macht häufige und immer längere Pausen.

    Arno bleibt trotzdem bei seinem Optimismus und wiederholt bei jeder Gelegenheit: „Du wirst gesund! Ich verspreche es dir! – Lass uns über den Urlaub reden, den wir bald machen! Da kannst du dich von der Therapie erholen. Schau hier, ich habe neue Prospekte mitgebracht!“

    Lustlos blättert Judith in den Heften, legt sie weg, schließt erschöpft die Augen und nickt ein. Arno geht in die Küche und räumt das Geschirr in die Spülmaschine.

    Am Abend nimmt Judith im Bett noch einmal ihren ganzen Mut und alle Kraft zusammen. Sie greift liebevoll nach Arnos Hand: „Arno, wir müssen miteinander reden! Bitte hör mir zu! Ich kann nicht mehr! Ich werde nicht mehr gesund. Ich weiß es! Wir dürfen nicht länger den Kopf in den Sand stecken!“

    Arno wird sofort wütend: „Ich will das nicht mehr hören! Ich brauche dich! Ich liebe dich! Du musst gesund werden! Und jetzt hör auf mit deiner Schwarzseherei! Schlaf gut!“

    Er dreht Judith den Rücken zu und zieht sich die Decke über den Kopf. Judith hört an seinem Atem, dass er ihr vorspielt zu schlafen. Sie liegen lange wach, und das Schweigen baut eine undurchdringliche Mauer ins Bett zwischen sie.

    In den Tagen danach beobachtet Arno mit Sorge, wie Judith immer langsamer wird und nur noch mit seiner Hilfe stehen und wenige Schritte gehen kann. Jedes Wort macht ihr Mühe, und der Juckreiz quält sie sehr.

    Eines Nachmittags liegt Judith auf dem Sofa im Wohnzimmer und schläft. Arno sitzt daneben und schaut ein Tennisturnier im Fernsehen an. Da bemerkt er plötzlich, dass Judiths Atem aufgehört hat. Er schüttelt sie am Arm. Keine Reaktion. Judiths Arm fällt leblos neben ihren Körper. Da springt Arno auf und schreit: „Das kannst du mir nicht antun! Judith, komm zurück!“

    Seine ganze Panik bricht aus ihm heraus, er weint, schluchzt, versucht, Judith wachzurütteln, er wählt 112, brüllt ins Telefon: „Schnell, meine Frau atmet nicht mehr!“

    Aber der Notarzt kann nur bestätigen, was Arno längst weiß und nicht wahrhaben will.

    Als Arno in den Tagen nach der Beerdigung das Schlafzimmer aufräumt, findet er in Judiths Nachttischschublade obenauf einen Brief Für meinen geliebten Arno. Er setzt sich in den Sessel vor Judiths Bett und liest:

     

    Mein Liebster,

    ich kann Deinen Wunsch nicht erfüllen, wieder gesund zu werden, so sehr ich mich danach gesehnt habe. Seit der Diagnose mit den Metastasen in Leber und Lunge weiß ich, dass ich sterben werde. Es tut mir bitter weh, Dich verlassen zu müssen. Ich weiß, Du hast Dir und mir meine Heilung einzureden versucht, um mich zu schonen.

    Aber, Du geliebter Mann, wir sind beide schlechte Schauspieler. Du hast Dir so viel Mühe gegeben, mich aufzumuntern. Und ich wollte heiter und gelassen sein. Stattdessen habe ich resigniert und dadurch mein Schicksal immer mehr angenommen und mich zurückgezogen.

    Ich sehe und spüre Dein Leiden und Deine Verzweiflung, ja, auch Deine Hilflosigkeit. Ich habe es nicht übers Herz gebracht, und ich hatte keine Kraft mehr, Dich aus Deinem Traum von meiner Genesung zu reißen und Dich mit den Fakten und Konsequenzen zu konfrontieren. Du willst Dich nicht mit meinem Sterben, unserer Trennung und Deiner drohenden Einsamkeit im Gespräch auseinander setzen.

    Nach so vielen herrlichen Jahren mit Dir voll Liebe, Ehrlichkeit und Vertrauen hätte ich unsere Ehe gern gekrönt mit gemeinsamer Arbeit an unserer Angst und Trauer in dieser schwersten Krankheitsphase. Ich habe gehofft, mit Offenheit und Annahme unseres Schicksals meine letzten Lebenswochen -die letzten Wochen unserer Liebe!- zu durchleben. Aber das war uns nicht vergönnt. Wir haben es beide nicht geschafft.

    Hoffentlich kommst Du über meinen Tod hinweg und kannst mit unserer Lebenslüge weiterleben. Bitte nimm professionelle Hilfe an, damit Du die Trauerarbeit gut bewältigen kannst. Ich wünsche Dir von ganzem Herzen ein glückliches und erfülltes Leben.

    Ich habe keine Kraft mehr und sehne mich jetzt danach, endlich und ewig auszuruhen.

    Ich bin voll Dankbarkeit für Deine Liebe und mein Leben mit Dir.

    Ich werde sterben und immer bei Dir bleiben.

     

    In Liebe,

    Deine Judith.

    Copyright Dr. Dietrich Weller

     

  • Am Abend in der Notfallpraxis.

    „Können Sie noch eine Patientin anschauen, die der Chirurg nebenan schon gesehen hat? Er bittet Sie darum.“

    Die Arzthelferin schiebt eine ältere Dame herein, die gepflegt gekleidet und mit nacktem linkem Fuß im Rollstuhl sitzt. Sie lächelt mich zur Begrüßung freundlich an und beginnt nach der Begrüßung, ohne Aufforderung zu erzählen. Ich höre den italienischen Akzent und sehe die lebhafte Mimik und die leuchtenden Augen.

    „Wissen Sie, ich war noch vor ein paar Tagen in Venezia, da war herrliches Wetter, und die Pasta hat so delikat geschmeckt auf der Piazza San Marco! Und dann habe ich eine Freundin besucht in Mazedonia. Die ganze lange Strecke bin ich gefahren, obwohl ich habe diesen Bauchspeicheldrüsenkrebs und eine große Operation hinter mir. Jetzt sind trotzdem in der Leber Metastasen. Ich weiß, dass ich nicht mehr so lange lebe, aber ich freue mich über jeden Tag! Es ist wunderbar, so viele Freunde zu haben. Ich bin so dankbar!“

    „Und warum sind Sie jetzt hier? Ich sehe, dass Ihre Zehe entzündet ist, aber das hat der Chirurg schon gesehen.“

    Ja“, sagt sie, „aber manchmal bekomme ich so schlecht Luft. Deshalb möchte er, dass Sie mich untersuchen! Im Moment kann ich gut atmen.“

    Neben meinem Schreibtisch sitzt die Begleitperson der Dame, eine schlanke junge Frau mit kurz geschnittenen dunklen Haaren und hellwachen Augen. Mir fällt ihre altrosa Kostümjacke auf.

    Ich frage: „Und wer sind Sie? Die Tochter?“

    „Nein, ich bin die Arzthelferin des Hausarztes von Frau Sorriso. Wir kennen uns schon seit vielen Jahren und wohnen nahe beieinander. Deshalb habe ich sie begleitet.“

    Ungewöhnlich, denke ich, aber das ist ein sehr freundlicher Hilfsdienst.

    Ich untersuche den Fuß, sehe die Entzündung eines Hühnerauges und bitte die Arzthelferin,  einen Salbenverband anzulegen. Dann höre ich die Lunge von Frau Sorriso ab, stelle einen normalen Befund fest und bitte die Arzthelferin, eine Blutuntersuchung zu machen. Ich will wissen, ob ich ein Antibiotikum verordnen soll.

    Ich möchte die Unterredung trotz der draußen wartenden Patienten weiterführen. Das ist ein ungewöhnlicher Moment mit einer besonderen Patientin.

    „Es beeindruckt mich sehr, dass Sie so gut gestimmt sind und angesichts der schwerwiegenden Diagnose eine so lebensbejahende Ausstrahlung haben. Was hilft Ihnen dazu?“

    Sie lächelt mich an: „Wissen Sie, ich genieße mein Leben, weil ich geliebt werde und viele Menschen mir helfen. Ich lebe allein, aber ich bin nicht einsam. Meine Krankheit kann ich so gut tragen. Und ich weiß, dass ich nicht mehr lange Zeit habe. Ich bin dankbar für jede Stunde und jede gute Begegnung. Ich weiß, dass ich allein mir gute oder schlechte Stimmung machen kann. Und da ist es besser, mit Freude zu leben.“

    Sie macht eine kurze Pause, dann fragt sie: „Haben Sie einen Vorschlag, was ich noch tun kann?“

    Ich überlege: „Möchten Sie ein Buch über den guten Umgang mit schweren Krankheiten lesen oder ist das eher nicht so gut für Sie?“

    „Oh, wenn Sie eines empfehlen, lese ich es gern!“

    Ich gebe ihr meine Visitenkarte mit der Adresse meiner Homepage, wo meine Bücher verzeichnet sind und schlage eines meiner Bücher vor, das ich vor einigen Jahren speziell für Patienten wie Frau Sorriso geschrieben habe. Dann nimmt die Arzthelferin Blut ab, und ich bitte die beiden Damen, im Wartebereich auf das Ergebnis zu warten.

    Während ich die nächsten Patienten behandele, kommt mir nach ein paar Minuten auf dem Flur die Begleiterin entgegen und streckt mir einen Becher mit Cappuccino entgegen: „Das ist für Sie ein freundlicher Gruß von Frau Sorriso! Wir freuen uns, dass wir Ihnen begegnet sind!“

    Ich bedanke mich überrascht, gehe in mein Sprechzimmer zurück und schließe für einen Moment die Tür. Auf dem Stuhl trinke langsam den Becher leer und mache mir bewusst, dass ich noch nie von einem Patienten in der Praxis oder in der Klinik einen Kaffee bekommen habe. Und diese Frau dort draußen mit ihrem unheilbaren Krebs, die mich überhaupt nicht kennt, denkt an mich und lässt einen Kaffee für mich bringen! Welch eine ungewöhnliche Situation. Ich bin sehr dankbar.

    Nachdem das Blutbild fertig ist, hole ich die Patientin und ihre Begleiterin wieder herein: „Das Blutbild zeigt jetzt keine Entzündungszeichen. Wie waren die letzten Blutwerte?“, frage ich die Begleiterin. Sie ist genau informiert. Ich verschreibe kein Antibiotikum.

    Für Frau Sorriso ist aber etwas ganz anderes wichtig. Sie sagt feierlich und mit einem strahlenden Gesicht: „Wir haben draußen überlegt, dass ich Sie zu meiner Trauerfeier einlade! Ich weiß schon genau, wo sie stattfindet – bei einem sehr guten Italiener in der Innenstadt. Das wird ein großes Fest! Die Liste der Gäste ist schon fertig! Alle meine Kollegen werden eingeladen! Herr Doktor, Sie werden auch eine schriftliche Einladung erhalten, wenn es soweit ist! Es dauert nicht mehr lang! Und Sie müssen mit Ihrer Frau kommen, das müssen Sie versprechen! Ich werde von oben zuschauen und auf Sie warten! – Danke, dass Sie mich hier versorgt haben. Das war eine gute Begegnung für mich!“

    „Ja, für mich auch! Geht es Ihnen auch so wie mir? Ich treffe immer die richtigen Menschen, die richtigen Bücher und die richtige Musik im richtigen Moment.“

    Sie lacht: „Das stimmt genau. Vielleicht sind wir uns deshalb jetzt begegnet! Alles Gute für Sie! Bis bald!“

    Sie drückt meine Hand fest mit ihren beiden Händen, schaut mich lächelnd an und lässt sich winkend hinaus schieben.

    Ich bleibe sehr nachdenklich zurück.

     

    PS:

    Der Name Sorriso ist natürlich nicht der wirkliche Name der Patientin. Ich habe ihn gewählt, weil er im Italienischen Das Lächeln bedeutet.

    Copyright Dr. Dietrich Weller

    Der Text wurde beim BDSÄ-Jahreskongress 2014 zum Thema „Zauberei und Realität“ vorgetragen.

     

  • Thomas Bernau betrachtet den vorweihnachtlichen Spätnachmittagstrubel. Viele Menschen hetzen von Geschäft zu Geschäft. Noch an diesem letzten Tag vor Heiligabend müssen die Geschenke gekauft werden. Weihnachten kommt ja immer so plötzlich! Die bunten Lichter in Kerzen- und Sternform erleuchten die Frankfurter Innenstadt, an den Buden stehen vermummte Leute, die sich in der Kälte an einem Punsch oder Grog wärmen und weiße Atemschleier in den Zuckerwatte-, Lebkuchen- und Alkoholduft mischen.

    Bernau steht jetzt vor dem mit elektrischen Kerzen beleuchteten Bau am Mainufer, in dem er bald Executive Creative Director sein wird. Bosse und Hack steht in großen Buchstaben über dem Eingang. Ein führendes Werbeunternehmen. Stefan Bosse, der Inhaber, hatte mit Bernau neulich bei dem Kongress in Stuttgart das entscheidende Vorstellungsgespräch geführt, und für heute 17 Uhr ist die Vertragsunterzeichnung vereinbart.

    „Ich wünsche mir, dass wir den Vertrag noch vor Weihnachten unterschreiben“, hatte er gesagt und Bernau nach Frankfurt eingeladen.

    Ab April wird das gute Leben auch für mich wieder beginnen, hofft Bernau, und ich werde von Stuttgart nach Frankfurt ziehen und mich beruflich und privat neu orientieren. Er spürt die Freude auf seine kommenden Erfolge, rückt die Krawatte unter dem Schal zurecht und mustert sich in der Scheibe der Eingangstür. Dann betritt er selbstsicher seine zukünftige Arbeitsstätte.

    An der Rezeption wird er freundlich begrüßt: Ja, man habe schon auf ihn gewartet, meint die Dame lächelnd und telefoniert kurz. Zwei Minuten später bringt Marga Distler Bernau in die oberste Etage.

    Im Aufzug sagt sie: „Herr Bosse hat gerade aus dem Auto angerufen, er verspätet sich etwas. Sie wissen ja, der Stau im Feierabendverkehr und dann noch vor Weihnachten! Wir gehen jetzt zuerst in das Büro Ihrer zukünftigen Assistentin. Ich vertrete sie zurzeit, sie kommt morgen aus einem Kurzurlaub zurück!“

    Frau Distler öffnet die Tür, und Bernau sieht im Vorbeigehen das Namensschild „Franca Sturm, Assistentin der Geschäftsführung“.

    „Möchten Sie gern einen Kaffee oder Tee, Herr Bernau, oder … Ist Ihnen nicht gut? Sie sehen ja plötzlich ganz blass aus! Geben Sie mir rasch Ihren Mantel und Schal, und setzen Sie sich hier an den Besprechungstisch. Soll ich einen Arzt rufen?“

    Bernau schüttelt den Kopf und hält sich an einem Stuhl fest, dann lässt er sich langsam auf die Sitzfläche sinken. Er spürt den Schweißausbruch, der in kürzester Zeit sein Hemd angefeuchtet hat.

    „Ich werde sofort aus dem Erste-Hilfe-Schrank ein paar Kreislauftropfen holen, die werden Ihnen helfen. Bitte stehen Sie nicht auf! Ich bin gleich wieder da!“

    Frau Distler öffnet die Fenster und eilt hinaus.

    Bernau schließt einen Moment die Augen. Ein kalter Windstoß trifft ihn erfrischend ins Gesicht.

    Nein, nicht wieder Franca!, fleht er im Stillen. Ich ertrage sie nicht mehr.

    Er sieht seine Ex-Frau vor seinem inneren Auge leibhaftig am Schreibtisch sitzen. Ihre pechschwarzen Haare schaukeln um den Hals und bilden einen starken Kontrast zu dem leuchtend roten Lippenstiftmund.

    Sie grinst hämisch, aus ihren Augen lodert Kampfeslust: Tja, mein Lieber, du entkommst mir nicht! Jetzt wirst du hübsch den Vertrag unterschreiben, und dann werden wir hier wunderbare Zeiten miteinander haben. Ich werde deinen Terminkalender führen und dir eine sehr aufmerksame Assistentin sein, nicht wahr, Liebling!

    Bernau bäumt sich innerlich auf, lässt sich aber auf den Dialog ein: Ja, ich will diesen Vertrag haben! Aber ohne dich, Franca! Endlich habe ich mich von dir in Stuttgart gelöst und von deiner Sucht, dich über alles und jedes zu ereifern. Jetzt bin ich nicht mehr bereit, mich wieder in deine Fänge zu begeben. Du hast mich vom siebten Himmel der Leidenschaft und Liebe direkt in die Hölle deiner triebhaften Eifersucht und in einen erbarmungslosen Scheidungskrieg gestürzt. Immer diese sinnlosen Kämpfe um Kleinigkeiten! Ganze Nächte haben wir sinnlos durchdiskutiert und gestritten!

    Franca ergänzt in seiner Fantasie: Ja, ich weiß, aber denk mal an die leidenschaftlichen Versöhnungen hinterher! Ach Liebling, das war doch nur mein Temperament!

    Bernau wehrt ab: Nein, das war nicht nur dein berstendes Temperament, das war deine Bosheit, die aus jeder noch so banalen Gelegenheit einen neuen Eifersuchtsausbruch provoziert. Wie ein Vulkan bist du jedes Mal explodiert und hast mich unter einer Lava von Verdächtigungen, Beschuldigungen und Hass begraben. Das werde ich nicht mehr dulden. Ich werde diesen Vertrag unterschreiben und dich bei der nächstbesten Gelegenheit kündigen!

    Plötzlich schöpft Bernau Hoffnung: Ja, das ist die Lösung! Er strafft sich, wischt den kalten Schweiß von seiner Stirn und will aufstehen.

    Da hört er wieder Francas höhnische Stimme: Glaub ja nicht, dass du mich loskriegst!

    Bernau überlegt sofort: Sie hat womöglich einen unbefristeten Vertrag und eine sehr gute Beziehung zu Bosse! Und die letzten beiden Jahre hat sie genutzt, um sich hier eine kleine Festung zu bauen! Nachdem sie alle Bewerbungen gelesen hat, war es ihr sicher ein hinterhältiges Vergnügen, dafür zu sorgen, dass ich hier Chef werde. Bosse weiß bestimmt nicht, dass wir verheiratet waren. Sie hat ja ihren Namen behalten!

    Bernau sinkt in den Stuhl und überlegt: Soll ich den Vertrag trotzdem unterschreiben? Soll ich mir noch einmal die Strapazen mit den ständigen Kämpfen aufladen? Schaffe ich es, Franca in ihre Schranken zu weisen? Als ECD müsste mir das doch gelingen! Ich könnte ihr Anweisungen geben, die sie befolgen muss. Wenn sie sich querstellt, kann ich sie deshalb entlassen.

    Er fasst wieder Mut und richtet sich auf. Aber Franca legt sofort in seinem Kopf nach: Du kennst mich ja, Liebling! Ich weiß, was ich will, und ich weiß, wo ich dich packen kann! Glaub ja nicht, dass du mich unterkriegst!

    Das ist zu viel für Bernau. Es ist ihm klar, dass er ihr nicht gewachsen ist. Er zuckt zusammen, als Frau Distler herein kommt:

    „Hier sind die Tropfen. Da wird es Ihnen gleich wieder besser gehen!“

    Sie zählt die Tropfen in ein halb volles Wasserglas, Bernau trinkt in kleinen Schlucken, holt tief Luft und sagt:

    „Frau Distler, es ist mir außerordentlich peinlich, aber ich bitte Sie, Herrn Bosse auszurichten, dass ich den Vertrag nicht unterschreiben kann. Ich ziehe meine Bewerbung zurück. Es gibt einen sehr persönlichen Grund, der mir erst gerade erschreckend deutlich geworden ist und über den ich nicht sprechen möchte.“

    Bernau wirft den Mantel über den Arm, nimmt seinen Aktenkoffer, wendet sich zur Tür – „Ich finde allein hinaus, vielen Dank!” – und verlässt den Raum mit mühsam gebremstem Schritt. Am liebsten würde er rennen.

    Die nächsten beiden Stunden schlendert er ziellos in den nasskalten Straßen umher, lässt sich in der Menge von einer Bude zur anderen durch das Vorweihnachtstreiben schieben, bis er an einem Stand einen Glühwein trinkt.

    Dabei ist er abgelenkt von seinen Gedanken, hadert mit dem Schicksal und fragt sich, warum er von Franca nicht loskommt. Andererseits ist er heilfroh, Franca gerade noch entronnen zu sein. Gleichzeitig ist er erschüttert und deprimiert, dass er sich erneut von ihr hat in die Flucht schlagen lassen.

    Plötzlich fällt ihm ein, dass er noch eine Verabredung hat. Er eilt zum Auto zurück und fährt zu seinem Schulfreund Karsten. Bernau hat ihn seit drei Jahren nicht mehr gesehen, weil Karsten inzwischen mit seiner Familie in Frankfurt lebt. Er hat Bernau eingeladen, nach der Vertragsunterzeichnung zum Abendessen zu kommen, und Bernau wird von Karsten und seiner Frau Anja herzlich begrüßt:

    „Es ist prima, dass du kommst und über Nacht bleibst! Jetzt machen wir uns einen gemütlichen Abend. Wir haben extra für dich eine Freundin aus der Nachbarschaft eingeladen.“

    Thomas Bernau sieht zuerst wadenlange beige Stiefel, dann eine schlanke Taille in einer champagnerfarbenen Hose und einen dunkelbraunen Kaschmir-Rollkragenpulli. Das Gesicht der Frau mit winzigen Sommersprossen lacht ihn an und lädt ihn zum Schmunzeln ein. Er fühlt die Wärme ihrer braunen Augen. Ihr blonder Pferdeschwanz wippt, als sie beschwingt auf ihn zugeht – selbstsicher und doch mit gebührender Distanz.

    „Schön, Sie kennen zu lernen, Herr Bernau! Ich gratuliere Ihnen!“

    Bernau ist verwundert: „Wozu?“

    „Zum Vertragsabschluss. Leider konnte ich an der Unterzeichnung nicht teilnehmen, weil ich heute erst heute Nachmittag vom Urlaub zurückkam. Ich bin Ihre neue Assistentin Franca Sturm!“

  • Spät abends kam eine Patientin in die Notfallpraxis, begleitet von ihrer Tochter. Es fiel mir auf, wie gebeugt die Patientin beim Betreten des Sprechzimmers ging und wie sie mich mit tief traurigen Augen anschaute. Ich erwartete, dass sie gleich anfangen würde zu weinen. Sie klagte mit gedämpfter Stimme über starke Nacken- und Kopfschmerzen. Ich stellte einige Fragen, untersuchte sie und fand dabei “nur” eine erheblich verspannte Schulter- und Halsmuskulatur. Alle Zeichen und die Vorgeschichte sprachen für die Diagnose Spannungskopfschmerzen.

    „Können Sie meine Mutter ein paar Tage krankschreiben?“, fragte die Tochter.

    „Ja, das kann ich, aber das löst die Probleme nicht. Es lindert vielleicht ein paar Tage den Druck, unter dem Ihre Mutter leidet.“

    Dabei legte ich meine Hände auf die Nackenmuskulatur und sagte: „Der Rucksack, den man Ihnen aufgeladen hat und den Sie sich haben aufladen lassen, ist zu schwer! Dadurch wird der Nacken ganz hart. Und dann kommen noch die Nackenschläge dazu, die sie im Alltag einstecken müssen!“

    Ich symbolisierte mit dem erhobenen Arm einen Handkantenschlag ins Genick.

    „Und das halten sie im Kopf nicht aus. Sie haben das Gefühl, der platzt bald.“

    Die Patientin erschrak: „Ja, genau so ist es!“

    „Sie können Krankengymnastik machen, den Nacken einreiben, Schmerzmittel nehmen, sich von mir in die verspannte Muskulatur spritzen lassen, in Urlaub gehen – alles in Ordnung – für eine Weile, aber die Probleme sind dadurch nicht gelöst. Die Beschwerden kommen wieder! – Ich bin überzeugt, Sie wissen genau, woher die Anspannungen kommen und was Sie tun müssen, um eine dauerhafte Lösung zu bekommen!“

    Die Patientin sagte spontan und mit fester Stimme: „Ja, Schluss damit!“

    „Sehen Sie, das ist die Lösung, auf die Sie selbst gekommen sind. Ich glaube, Sie sind nur hier, um dafür eine Bestätigung zu erhalten. Sie brauchen einen kleinen Schubs, um das zu tun, was Sie längst als richtig erkannt haben, stimmt´s?“

    Die Augen der Frau fingen an zu leuchten: „Woher wissen Sie das? So hat mir noch niemand gesprochen!“

    Wir ändern erst etwas in unserem Leben, wenn der Leidensdruck größer ist als die Angst vor der Veränderung! Sind Sie so weit?“

    Die Patientin saß jetzt aufrecht auf der Liege und schaute mir entschlossen in die Augen. Sie hatte eine klare und feste Stimme: „Ja, es reicht! Das mache ich jetzt, Schluss mit dem Druck, dann geht´s mir wieder besser! Danke!“

    Ich sehe immer noch, wie die Augen der Frau strahlten und wie straff und entschlossen ihr Gang und ihre Körperhaltung waren, als sie die Praxis verließ, aufgerichtet im wörtlichsten Sinn.

    Copyright Dr. Dietrich Weller

  • Es bleibt der Regen,
    der spendet Segen
    für Wald und Flur.
    Zum Nutzen der Natur.

    Es bleibt die Sonne,
    die schenkt uns Wonne
    durch Wärme und Licht,
    wenn der Tag anbricht.

    Es bleibt der Himmel mit den Sternen,
    den nahen, weiten und sehr fernen,
    die funkelnd erstrahlen am Firmament.
    Gar manche man mit Namen kennt.

    Es bleibt die Welt.
    die weiter zerfällt
    in arm und reich.
    Sind alle Menschen wirklich gleich?

    Es bleibt das Werk in seiner Zeit,
    das Mühen um Verständigkeit,
    das Zeugnis gibt  von dem Bestreben,
    die Welt zu bessern, zu erheben.

    Es bleibt der Eindruck personalisiert,
    wie der Mensch war, was er bewirkt,
    sein Schaffen bestimmt, sein Dasein geprägt.
    Das Füreinander belebt und bewegt.

    Die Welt, wie wir sie einst erlebt,
    ist von der Zeit hinfort geweht.
    Im steten Wandel wirkt die Kraft,
    die auf uns aufbaut, Neues schafft.

     

    Copyright Dr. Paul Kokott

  • Ich hock im zweiten Stock in meinem schwarzen Zimmer
    mit Gewimmer im Eck – ganz still.
    Ich will weg und schreien und speien vor Schreck,
    denn er hat mein Versteck entdeckt!

    Er und seine Genossen haben unverdrossen
    mit fahlen Strahlen
    durch meine kahlen Wände behände
    mit Hirn-Zerriss und Pitbull-Gebiss
    meine Gedanken ins Wanken gebracht.
    Über Nacht sind sie eingedrungen
    und haben Mordgedanken mir ins Hirn gesungen,
    die mit Horror, Terror drücken
    und meinen Lebenssinn zerstückeln.
    Mit ihren Bluthunden reißen sie Glutwunden,
    die brennen wie Schmerzen von tausend Kerzen.
    Sie schlecken die kratzenden Tatzen
    und blecken die Fratzen
    mit Speichel leckenden, lechzenden Lefzen.

    Ich blick mit Schreck ins Eck:
    Der blanke Schrank schwankt krank
    und verhöhnt mit dröhnenden verpönten Wörtern
    Götter und Götzen.

    Die rüden Stimmen brüten und trimmen
    meinen guten Geist auf grimmenden Hass!
    Ich, der Gute, blute und bin nass,
    weil mein Schweiß vom Nacken,
    wo sie mich packen,
    bis zum Steiß glühend heiß
    über meinen Rücken rinnt.

    Zu ihrem Entzücken
    stiere ich, obwohl ich tobe innerlich
    wie ein dumpfes Tier
    durch meiner Seele Gitterstäbe,
    als ob es keine Seele gäbe –
    nur diese hassgestählte, quälende Gier.

    Sie zwingen mich und ringen
    meinen Friedenswillen im Stillen nieder.
    Meine schlaffen Glieder schaffen
    bloß noch Zittern, Schlottern,
    und ich kann nur bitter stottern
    und habe keine Macht mehr über meine Nacht!
    Lass mich in Ruhe, Schrecken-Sender!

    Ich versteck mich in der kahlen Truhe
    vor dem Dreck- und Strahlenspender,
    dann merkt er nicht,
    wie mein Friedenslicht
    den Hass zerstrahlt.
    Dann wird er leichenblass und prahlt
    vergebens, denn seine Macht
    versiegt zeitlebens über mich.

    Ich hasse dich!
    Du kennst es nicht, wie dicht
    du an dem Abgrund hängst,
    in deinem Schlund die Strahlen fängst
    und in der grellen Angst
    um dein bisschen Leben bangst!
    Du fühlst es nicht, das Zittern
    um ein wenig Licht in diesem bittern Graus!
    Ich will hier raus!

    Der Strahl, der deine Seele spleißt,
    das Hirn zergleißt
    und jeden Ton aus deiner Kehle reißt,
    ist dir unbekannt.
    Meine Seele ist verbrannt,
    die Lebenslust aus meiner Brust
    vom blanken Hass verbannt.
    Du spürst nicht, wie der Atem stockt,
    wenn die Finsternis die Seele blockt
    und lähmende Dämonen
    hinter deiner Stirn
    feixend dein zermartertes Gehirn
    bewohnen!

    Wenn der Quälgeist Zähne fletschend
    deinen Nacken packt,
    bist du schutz- und nutzlos, Finger quetschend, nackt!
    Du willst mein Leben geifernd greifen,
    mit gemeinem Mörderstreben füllen?
    Ich werd mich in Gedankenhüllen schützen,
    denn ich kann ohne Brüllen nützen!
    Alle außer mir sind von dem Wahn besessen,
    ich sei auf der falschen Bahn und hätt´ total vergessen,
    wer ich wirklich bin.
    Das ist lachhaft, ohne Sinn!

    Deine Hasstiraden plagen mich in meinen Ohren,
    ich kann nur blassgeraten zagen, bin verloren,
    wenn ich diesen Auftrags-Mord begehe!
    Höre mich an diesem Ort! Ich flehe
    hilflos um Erbarmen,
    entlass mich aus den hasserfüllten Armen!

    Wollt ihr Irren meine reine Seele rauben
    in dem wirren Glauben,
    ich sei nicht der Friedensbringer?!
    Ich gehe nicht in euren
    Hass- und Strahlen-Zwinger!
    Glaubt mir endlich was!
    Verlacht mich nicht!
    Ich bin Jesus Christus,
    Gottes Macht und Friedenslicht!

    Copyright Dr. Dietrich Weller

  • (vorgetragen bei der öffentlichen Lesung „Mein bester Text“ am Jahreskongress 2013 in Münster)

    Siegmund Kraft wurde 1945 in Bremen geboren. Sein Vater fiel kurz vor Siegmunds Geburt in einem der letzten Gefechte in Russland. Die Mutter zog den Jungen liebevoll auf und verdiente als Lehrerin den Lebensunterhalt. Siegmund entdeckte früh seine Liebe zum Langlauf und lief ein Jahr vor dem Abitur den ersten Marathon. Auch dadurch lernte er, mit Disziplin schwierige Momente zu bewältigen und gegen innere Widerstände bis zum selbst gesetzten Ziel auszuhalten. Seine Mutter erzog ihn im ehrenden Gedanken an den Vater, der ihr immer wie starker Baum erschienen war, an dem sie sich anlehnen konnte. Sie wollte aus Siegmund auch einen solch kräftigen und durchsetzungstarken Mann machen, und Siegmund nahm diese Prägung früh auf.

    Den ersten schweren Schicksalsschlag musste Siegmund verarbeiten, als seine Mutter während seines Jurastudiums verstarb. Dies brachte Siegmund dazu, noch härter zu arbeiten. Er beendete sein Studium in kürzest möglicher Zeit als Jahrgangsbester, und seine Doktorarbeit wurde summa cum laude bewertet. Eine wesentliche Hilfe für seinen Erfolg war sein fotografisches Gedächtnis, wodurch er regelmäßig Mandanten und Kollegen mit langen wortgetreuen Zitaten und Quellenangaben verblüffte.

    Nach der Gründung einer Anwaltskanzlei in Bremen heiratete er seine Jugendfreundin Helen, die mit ihm Abitur gemacht hatte, anschließend Schulmusik studierte und Lehrerin in einem bremischen Gymnasium wurde. Sie kauften eine Jugendstilvilla im besten Wohnviertel, die er mit Helens stilsicherer Hilfe renovieren ließ und innerhalb weniger Jahre vom Erlös mehrerer großer Prozesse bezahlte. Er war als Wirtschaftsanwalt bald weit über die bremischen Grenzen hinaus gefragt. Als der Sohn Felix geboren wurde, strahlten Helen und Siegmund als elegantes Paar das Bild der perfekten Familie aus.

    Siegmunds Sekretärin Frau Harmsen organisierte den Arbeitsablauf in der Kanzlei ebenso perfekt wie Helen die Familie und den Haushalt. Siegmund arbeitete nach seinem morgendlichen 10-km-Lauf in der Kanzlei oder bei Gericht. Der Nachmittag und Abend waren dem Aktenstudium und Prozessvorbereitungen gewidmet. Den Samstag nutzte Siegmund als normalen Arbeitstag. Am Sonntagvormittag absolvierte Siegmund einen längeren Lauf, der manchmal über die Marathondistanz ging. Die Nachmittage verbrachte er mit Helen und Felix.

    Felix war ein guter Schüler und sportlich wie der Vater. Als Felix zwölf Jahre alt war, wurde er an einem Spätnachmittag auf dem Gehweg von einem betrunkenen Autofahrer angefahren und so schwer verletzt, dass er noch auf dem Weg in die Klinik starb. Siegmund reagierte nach einer kurzen Schockphase äußerlich routiniert, setzte aber seine Wut, Trauer und Verbitterung ein, um den Autofahrer in dem Prozess als gewissenlosen alkoholkranken Fahrer darzustellen. Er trug mit einem juristisch brillanten und emotionalen Plädoyer als Nebenkläger dazu bei, dass der Fahrer für die fahrlässige Tötung in Tateinheit mit Trunkenheit am Steuer zur Höchststrafe von sechs Jahren Gefängnis verurteilt wurde, da er schon ein längeres Vorstrafenregister hatte. Damit verschaffte sich Siegmund eine gewisse Genugtuung, und die weiter schwelende Trauer betäubte er mit noch mehr Arbeit. Sein Lauftraining behielt er strikt bei und zwang sich, am Wochenende noch 28 km zu laufen und dabei die letzten drei Kilometer im Renntempo zurückzulegen. Er war erfahren genug, seine Kondition nicht mit einem Übertraining zu verderben oder gar eine Verletzung zu riskieren.

    Helen dagegen vergrub sich fast den ganzen Tag im Schlafzimmer und vernachlässigte sich und ihre häuslichen Aufgaben. Auch eine zuerst ambulante und später stationäre Psychotherapie, die Siegmund veranlasst hatte, gelang nur vorübergehend. Das beste Ergebnis der Therapie war aber nur eine funktionierende Frau, die mit ruhiggestellter Mimik und scheinbar gleichgültigem Gemüt die Hausarbeit erledigte. Ein halbes Jahr nach Felix´ Tod fand Siegmund Helen abends totenstarr im Bett. Neben ihr lagen zwei leere Röhrchen Schlaftabletten und eine leere Flasche Rotwein. Der Brief auf dem Nachttisch war kurz: „Liebster, es tut mir leid, ich kann nicht mehr! Ich muss zu Felix. Ich liebe dich. Helen.“

    Siegmund brach am Bett weinend zusammen und rief erst nach einer halben Stunde den Hausarzt und bat ihn, den Totenschein auszustellen. Frau Harmsen half Siegmund, eine würdige Trauerfeier zu organisieren. Siegmund arbeitete verbittert in seiner Kanzlei, hielt die Fassade eines in sich ruhenden Anwalts aufrecht und kam spät nachts in das kalte Haus, wo er nur kurz schlief. Morgens war er früh auf der Laufstrecke unterwegs und anschließend bei der Arbeit. Er vermied private Kontakte, und Frau Harmsen sah ihn nicht mehr lachen. Sie besorgte für ihn aus einem kleinen Restaurant nebenan Essen und machte ihm in der Kanzlei Frühstück. Die immer frischen Blumen auf seinem Schreibtisch nahm er nicht wahr. So vergingen zwei Jahre.

    Eines Tags nahm Siegmunds bester Freund und Kollege ihn zwischen zwei Gerichtsterminen auf die Seite und sagte: „Siegmund, ich sehe, wie du nach außen hin diese Schicksalsschläge wegsteckst. Du wirkst für viele Bekannte wie eine große Eiche, die bei jedem Tornado steht. Aber ich weiß, wie sehr dich der Verlust von Felix und Helen immer noch plagt. Hast du nicht Lust, am Samstagabend bei uns zu essen? Erika hat ein paar Freunde eingeladen, die du auch kennst.“ Siegmund antwortete nach kurzer Bedenkzeit: „Ja, gut, ich komme!“

    Zu diesem Abendessen kam auch Sofia, Helens beste Freundin, die vor zwei Jahren ihren Mann verloren hatte. Siegmund und Sofia hatten in den letzten Jahren kaum Kontakt gehabt, weil Sofia während Helens schwerer Depression mit dem Sterben ihres Manns belastet war und seither sehr zurückgezogen lebte.

    Sofia und Siegmund unterhielten sich angeregt, sodass der Abend für beide erholsam und entspannend war. Siegmund nahm Sofias Einladung zu einem Spaziergang am nächsten Sonntag an. In den folgenden Monaten kamen sich Sofia und Siegmund immer näher. Siegmund konnte sich aus seiner seelischen Erstarrung und verbissenen Arbeit in Sofias Gegenwart lösen und freute sich auf die Treffen. Sofia war glücklich, aus ihrer Isolation herauszukommen. Die Beziehung zwischen Siegmund und Sofia wurde innig und vertraut. Nach einem Jahr heirateten sie.

    Sofia gab der Villa mit einigen ihrer Möbelstücke und Bildern eine persönliche Note. Ihre Liebe zum Garten war für jeden Besucher an den herrlichen Blüten, Büschen, Beeten und dem prächtigen Blumenschmuck im Haus sichtbar. Sofia begleitete Siegmund bei seinem morgendlichen Lauftraining und reduzierte es langsam. Dafür machten sie am Wochenende lange Wanderungen. Siegmund genoss das Leben im Haus wieder und freute sich besonders an den gemütlichen Abenden mit Sofia. So lebten sie fünf Jahre harmonisch und dankbar miteinander.

    Da die Kanzlei sehr gut lief und Siegmund mehr Zeit für sich und Sofia haben wollte, nahm er Eric Knudsen als Juniorpartner in die Kanzlei auf, der sich rasch einarbeitete und für Siegmund eine wertvolle Hilfe darstellte.

    Die Katastrophe schlich sich unerbittlich ein. Zuerst fiel Sofia auf, dass Siegmund sich an einem Sonntagmorgen nicht erinnerte, mit ihr eine Wanderung in der Lüneburger Heide vereinbart zu haben. Auch Frau Harmsen bemerkte, dass er seinen Füllfederhalter oft verlegte, der sonst immer am gleichen Platz lag. Besonders verblüfft war sie, als Siegmund bei einer Verhandlung in seiner Kanzlei aufstand, eine Tür öffnete und mit der Bemerkung „Das war die falsche Tür!“ wieder schloss und durch die andere Tür zur Toilette ging. Die Vergesslichkeiten und alltäglichen Fehler bei banalen Handlungen häuften sich. Die Krankheit schritt mit zerstörerischer Wucht voran.

    Er blieb oft mitten im Satz stecken, verlor den Faden und verwendete Wörter, die nicht in den Zusammenhang passten. In der Gerichtsverhandlung meldete er sich mehrfach zu Wort, stand auf und – wusste nicht mehr, was er sagen wollte. Seine schriftlichen Notizen, die er Frau Harmsen nach den Verhandlungen zur Bearbeitung vorlegte, wurden fahriger und enthielt immer mehr Ungenauigkeiten. Er gab immer mehr Gegenständen die Bezeichnung „das Ding da“. Diese Sprachunsicherheit und die Abflachung des Wortschatzes fielen umso dramatischer auf, weil Siegmund als hervorragender Redner mit druckreifer Sprache und unfehlbarem Gedächtnis bekannt war. Anfänglich tat er diese „Kleinigkeiten“ als Folge seiner Überarbeitung ab. Die Zeichen wurden aber häufiger und schwerwiegender. Er verlor sogar einen Prozess, weil ihm im richtigen Moment sein bewusst vorbereitetes und entscheidendes Argument nicht einfiel.

    Frau Harmsen bereitete mit Eric Knudsen viele Arbeiten so vor, dass Siegmund nur noch unterschreiben musste. Sofia sorgte dafür, dass Siegmund krankgeschrieben wurde. Der Hausarzt verschrieb Medikamente zur Förderung der Hirndurchblutung und äußerte Sofia gegenüber den Verdacht auf eine rasch fortschreitende Demenz.

    Als Siegmund eine Kreuzung bei roter Ampel überfuhr und von der Polizei gestoppt wurde, stand er wie ein kleiner schuldbewusster Junge da und ließ sich von dem Polizisten zurechtweisen.

    Sofia ließ Siegmund nicht mehr Auto fahren und bat ihn mehrfach, die Kanzlei zu verkaufen. Erst als der Vorsitzende der Anwaltskammer ihm eindringlich die möglichen Folgen von Schadensersatzklagen aufgrund von falschen Beratungen schilderte, gab Siegmund nach. Eric Knudsen übernahm Siegmunds Anteil an der Kanzlei. Sofia nahm keine gesellschaftlichen Verpflichtungen mehr an.

    Zuhause füllte Siegmund das Kaffeepulver in den Wasserbehälter und stopfte den Kaffeefilter in die Kanne. Im Bad putzte er sich mit dem Kamm die Zähne und kämmte sich mit der Zahnbrüste. Er verirrte sich sogar nachts in seinem eigenen Haus und rief Sofia, die ihn ins Bett zurück brachte. Beim Essen versuchte er, mit der Gabel zu schneiden. Als er mit dem Messer die Suppe löffeln wollte und nicht mehr wusste, wohin die Suppe geführt werden musste, ging Sofia dazu über, Siegmund zu füttern.

    Bei einer neurologischen Untersuchung zeigte Siegmund eine schwere Störung beim Benennen von Gegenständen und beim Rechnen im Zehnerbereich. Als er eine Uhr mit Zeigern zeichnen oder ein Quadrat und ein Dreieck nachmalen sollte, saß er ratlos mit zitterndem Stift vor dem Blatt und krakelte nur zusammenhanglose Striche aufs Blatt. Der Arzt bat ihn, möglichst rasch viele Gegenstände aufzuzählen, was man in einem Supermarkt kaufen könne. Siegmund dachte lange nach, schließlich fielen ihm Kartoffeln ein, mehr nicht. Die Untersuchungen und die Vorgeschichte sicherten die Diagnose Rasch fortschreitende Alzheimer-Demenz. Siegmund konnte dem einfühlsamen Gespräch des Arztes nicht folgen. Als Sofia und Siegmund die Klinik verließen, fragte er: „Was hat er gesagt? Bin ich krank?“

    Siegmunds geistige Fähigkeiten und das alltägliche Verhalten verschlechterten sich auch unter gesteigerter Medikamentendosis rapid. Die Tabletten wurden deshalb wieder abgesetzt. Sofia betreute Siegmund rund um die Uhr. Sie musste ihm auch auf der Toilette beim An- und Ausziehen und bei der Reinigung helfen.

    Eines Morgens wollte er sich im Schlafzimmer anziehen und wurde wütend, als sie ihm helfen wollte. „Das kann ich allein!“, brauste er auf, „geh ins Wohnzimmer!“ Also beobachtete sie ihn durch den offenen Türschlitz und kämpfte mit den Tränen, als sie sah, wie lange er brauchte, um das Hemd so hinzuhalten, dass er es anziehen konnte. Als er nach einer langen Weile erschöpft ins Wohnzimmer kam, hatte er das Unterhemd auf das Hemd angezogen, die Knopfreihe falsch geknöpft, und das Hemd hing teilweise aus der Hose. Einen Socken hatte er vergessen, und die Schuhbändel waren nicht gebunden. So kam jeden Tag ein neues Vergessen dazu, der Wortschatz wurde kleiner, die Sprache lückenhaft.

    Im Sommer stand Siegmund einmal lange im Garten vor den blühenden Rosen. Sofia fragte: „Woran denkst du?“ Nach einigem Überlegen fragte er: „Ist heute Dienstag oder Dezember?“

    In einem unbeobachteten Moment verließ Siegmund bei strömendem Regen auf Socken das Haus, nur mit Hemd und Hose bekleidet. Sofia rannte sofort los, als sie die offene Haustür sah und fand ihn durchnässt an einer Bushaltestelle. Sie gewöhnte sich deshalb an, die Haustür abzuschließen.

    Eines Nachts wachte Sofia auf, das Bett neben ihr war leer. Sie fand Siegmund innen vor der Haustür stehen. Er war nackt. Sie fragte: „Was machst du hier?“ – „Warte auf den Bus, muss zur Arbeit!“

    Am nächsten Tag sah Sofia, wie Siegmund im Arbeitszimmer mit heruntergelassener Hose auf dem Papierkorb saß. Sofia stieß einen entsetzten Schrei aus. Siegmund fragte ruhig: „Warum schreist du, Mama? Bin auf der Toilette!“ – Sofia hatte er vergessen.

    Sofia sah ein, dass sie Siegmund nicht mehr zu Hause pflegen konnte. Das überstieg ihre Kräfte. Sie brachte ihn in einem Pflegeheim in der Nähe unter und besuchte ihn täglich. Siegmund nahm die Ortsveränderung nicht wahr. Jeder Besuch Sofias war ein neues Erlebnis für ihn, aber es tat ihr weh, jeden Tag zu hören: „Schön, Mama, dass Du endlich kommst!“

    Sie blieb eines Abends wie immer an seinem Bett sitzen und wartete darauf, dass er einschlief. Da atmete er leise ein und aus und ein und aus. – –

    Die Eiche war gefällt.

     

    Copyright Dr. Dietrich Weller

  •  

    Ab und zu musste sie mal Stadtluft schnuppern, mal viele Menschen erleben, sich ins Gedränge begeben, sich berühren lassen, vielleicht nur mit den Augen. Menschen wahrnehmen, ganz offen sein für die kleinen Alltagsepisoden einer Stadt.

    Sie konnte die Stadt gut mit der Bahn erreichen und lebte doch scheinbar weit weg von ihr in ihrer Art „Einsiedelei“. Das war der große Garten und der nahe Wald, das Zuhause ihrer Seele. Das kleine Haus nicht zu vergessen.

    Heute war wieder so ein Stadt-Tag. Sie hatte sich „stadtfein“ angezogen und begutachtete sich im Spiegel. An ihre grauen Haare hatte sie sich gewöhnt. Manchmal fand sie diese sogar schön, wenn sie – frisch gewaschen – einen silbernen Schimmer hatten.

    „Richtig wertvoll bin ich“, sagte sie dann mit einem Schmunzeln, „ich sollte mich hoch versichern lassen.“

    Als sie dann in der Stadt war, schlenderte sie durch ihre Lieblings-Einkaufsstraße. Sie mochte die vielen kleinen Geschäfte, die Möglichkeiten an der Straße sitzend einen Kaffee zu trinken und einfach Leute zu beobachten. Und diese gab es in allen Größen und Farben.

    Irgendwann stand sie an einer Fußgänger-Ampel, um nun auf der anderen Straßenseite weiter zu bummeln. Eine junge Frau ging vorbei mit ihrem schlanken, schönen Körper, langen mittelblonden Haaren und glatter Haut. Solche Haarfarbe hatte sie auch einmal. Sie dachte das ohne Wehmut und betrachtete die junge Frau mit einer Art Wohlwollen. Sie war einfach nett anzusehen.

    Die Ampel hatte die Phase längst gewechselt. Sie hatte es ja nicht eilig. Sie hatte der jungen Frau lange hinterher geschaut.

    Jetzt fuhren die Autos an. Das erste Auto, ein Kleintransporter, hielt kurz vor ihr. Der Fahrer drehte die Scheibe herunter, wandte ihr das Gesicht zu und sagte deutlich:

    „Du bist doch schön!“, lachte sie an, drehte das Fenster wieder hoch und fuhr weiter.

    Wann hatte sie zum letzten Mal solch einen roten Kopf gehabt? Sie wusste es nicht. Ein wenig benommen, doch mit einem ganz tiefen Glücksgefühl, drehte sie sich um, ging zurück zu dem kleinen Straßencafé, an dem sie grad vorbeigekommen war. Sie setzte sich an einen 2-er Tisch und bestellte einen Cappuccino. Sie wollte dieses Gefühl einfach genießen.

    Für eine Weile blieben alle Menschen und Dinge „draußen“, ausgeschlossen von ihrem Lächeln. Wenn sie den Cappuccino ausgetrunken hatte, würde sie zu der kleinen Eckboutique zurückgehen und sich dieses auffallende Oberteil mit den verschiedenen aufeinander abgestimmten Rottönen kaufen, das sie vorhin schon eine Weile angehimmelt hatte. Ihre Schwester würde zwar wieder sagen: „In deinem Alter kannst du so was nicht mehr tragen!“

    Doch sie konnte!

    Manche Worte waren einfach so kostbar, dass sie in Samt und Seide gekleidet werden mussten.

    Copyright Barbara Kromphardt