Tag: Medizin

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  • Freilich Fragmente.
    Sind wir nicht
    Des Herrn?

    Ach, wenn ich könnte
    Ich bliebe
    Mein leuchtender Stern.

    Leider gebunden
    Im Wesen
    Der eilenden Zeit

    Hat mich gefunden
    Im Alter
    Die Zerbrechlichkeit

    Der wachen Seele
    In Grenzen
    Von Wissen, Verstand.

    Was ich auch wähle
    Im Glauben
    Liegt das endgültige Land.

    Ich springe über Mauern
    In Trümmern
    Meines geborstenen Ich

    Es wird lange dauern
    Bis Samen
    So ordnen dass mich.

    Aus Fragmenten
    Neues  Licht
    Erweckt.

    Die Trümmer könnten
    Was? Das weiß ich nicht
    Ich bin nicht perfekt?


  • Nun stehst du anmutig
    in unserem winterlichen Garten
    und trägst deine schönste Tracht
    die trächtige Nacktheit
     
    Ich umarme dich liebevoll
    nehme in jedem deiner Äste
    mit allen Sinnen wahr
    den belebenden Pulsschlag
    dieser unaufhaltsamen Umwandlung
    und fühle mich zutiefst glücklich
    dich als Vorbild erkannt zu haben 

  • Mitten im grauenvollen Geheule
    der größten zeitgenössischen Gewalttäter
    im Auftrage ihrer Herren hartgesotten handelnd

    umgeben von der stumpfsinnigen Stille
    und dem törichten Wegschauen vieler Mitbürger
    sich in ihre nächste Katastrophe hineinkatapultierend
     
    strecke ich meine Fühler nach dir, Mutter Erde
    und dichte mit Inbrunst und Zuversicht
    für dich meine schönsten Liebeslieder 

  • TieredesAsklepios_wolfgang-Huber.

  • Betrachtet wird die Kindersterblichkeit im 19. Jahrhundert und hier speziell auch auf die Mortalität der Scharlacherkrankungen eingegangen. Diese hatten sich in Deutschland und speziell auch 1832/33 in Erlangen, dem Wohnort und der Wirkungsstätte des Orientalisten und Dichters Friedrich Rückerts ausgebreitet. Zwei der fünf in der Familie lebenden Kindern verstarben 1833 an Scharlach und inspirierten Friedrich Rückert zu seiner mehr als 400 Verse umfassenden Kindertodtenlieder -Dichtung. Anhand der Analyse des dichterischen Werkes und von Aufzeichnungen der Mutter wird über den Verlauf der Erkrankung bei den Kindern aus medizinhistorischer Sicht berichtet. Auch wird auf den Scharlachtod von Kindern von Clemens Brentano, Gustav Mahler und des Berliner Baumeisters Hoffmann hingewiesen. Die Mängel der Medizin der Zeit werden aufgezeigt und die Trauerarbeit im 19. Jahrhundert mit unserem Jahrhundert verglichen. Das gesamte dichterische Werk von Friedrich Rückert, das er für seine verstorbenen Kinder Luise (3 Jahre) und Ernst (5 Jahre) geschaffen hat, steht unter dem Credo: “ Ihr habt nicht umsonst gelebt“.

    Kindstod im 19. Jahrhundert (Volker Hesse)

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  • Johann Wolfgang von Goethe empfand sich nicht nur als Dichter, sondern unter anderem vor allem auch als Naturwissenschaftler. Das Streben nach Naturerkenntnis nach dem, „was die Welt im Innersten zusammenhält, hat ihn sein ganzes Leben beschäftigt und begleitet. Die Bedeutung der Wissenschaft ist für ihn hochrangig:
    „Die Wissenschaft hilft uns vor allem,   daß sie dem immer mehr gesteigerten Leben neue Fertigkeiten erwecke zur Abwendung des Schädlichen und Einleitung des Nutzbaren.

    Naturwissenschaftliche Erkenntnis erwarb Goethe bereits während seines Studiums, vertiefen könnte er sie später vor allem im Verbund mit Fachpersönlichkeiten und Spezialisten der Jenaer Universität. Der Schrift informiert über Goethes Beziehungen zu den Vertretern der Fachbereiche Botanik, Geologie, Mineralogie, Chemie, Physik, der Anatomie und Medizin. Seine Laboratorium-Szene im Faust II, mit der Erschaffung des künstlichen Menschen, des Homunculus, geht auf aktuelle naturwissenschaftliche Kenntnisse Goethes zurück.
    Aus seinem Studium der Naturwissenschaften zieht Goethe folgendes Resümee:
    Ohne meine Bemühungen, in den Naturwissenschaften hätte ich die Menschen nie kennengelernt, wie sie sind …  der Mensch muß fähig sein sich zur höchsten Vernunft erheben zu können, um an die Gottheit zu rühren, die sich in Urphänomenen, physischen, wie sittlichen offenbaret —“.

    Goethes Jenaer naturwissenschaftliche Lehrer und Partner (Volker Hesse)

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  • Vor einiger Zeit las ich ein besonders schönes Buch, in dem russische Erzählungen von Gogol, Tolstoi, Tschechow und Turgenjew vorgestellt und besprochen werden. Man lernt in diesem Buch, wie gute Geschichten funktionieren, wie man sie schreibt, und was sie uns über unsere Welt erzählen.
    Man lernt, dass gute Literatur moralische Einstellungen beeinflussen und das Leben verändern kann, so ein Rezensent. Stimmt.

    Die Szene, „bei Regen in einem Teich schwimmen“ entstammt der Erzählung „Stachelbeeren“ von Anton Tschechow aus dem Jahre 1898, sie hat dem Buch von George Saunders den Namen gegeben.

    Daran denke ich, als wir am 9. September 2022 im Regen von Worpswede die Hamme hinunterrudern.
    Eigentlich wollte ich an diesem Wochenende mit dem Schwager auf dem Kummerower See segeln, die Tour wurde wegen eines herannahenden großen Tiefdruckgebietes abgesagt.
    Viel Regen und kein Wind, das wäre tatsächlich ungünstig gewesen.

    Das Tief ist da. Es regnet. Dennoch freue ich mich: Ich friere nicht im Ruderboot – durch die Muskelarbeit, wir rudern trotz der Nässe im Takt, lediglich die Griffe der Skulls sind durch das Wasser etwas rutschig, was beim Einsetzen und Aushebeln stört.

    Ich sehe vor meinem inneren Auge, wie der trockene Wandboden fast widerspenstig das Wasser aufnimmt, wie der Waldbrand unter dem Brocken im Hochharz langsam gelöscht wird, und wie der verbrannte Rasen in unserem Garten zu neuem Leben erwacht. Dem Jahrhundertsommer wird eine Abkühlung gegönnt.

    Mitten in dieser Abkühlung rudern wir freudig im Regen auf der Hamme – und erst an Land werden uns der Ukraine-Krieg, die Energiekrise und die Klimakatastrophe wieder einholen, wohl gegen 20 Uhr.

    Literatur:

    Die Stachelbeeren
    Anton Tschechow, Russkaja Mysl, August 1898

    Bei Regen in einem Teich schwimmen
    George Saunders, Luchterhand 2022


  • Am 27. Juli 2022 bekam ich überraschend Post von Herrn Dr. Klaus Baier, dem Präsident der Bezirksärztekammer Nordwürttemberg. Er gratulierte mir zum goldenen Promotionsjubiläum! Und er entschuldigte sich dafür, dass die Universität Heidelberg-Mannheim keine Urkunden mehr zu diesem Feiertag ausstellt, „auch nicht gegen Bezahlung!“
    Das hat mich verblüfft: Die Ärztekammer denkt an meine Doktorarbeit, und der Präsident schickt mir einen persönlichen Brief! Herzlichen Dank dafür! Diese Post kam auf den Tag richtig! Der 27. Juli 1972 war nämlich der genaue Tag meiner Promotionsprüfung. Da musste ich wieder einmal schmunzeln, als ich über meine Doktorarbeit nachdachte. Diese Geschichte wollte ich schon lange aufschreiben. Hier ist sie.

    Ich studierte im Wintersemester 1969 und Sommersemester 1970 im Klinikum Mannheim, das der Universität Heidelberg angeschlossen war. Nebenbei machte ich Nachtwachen in der Abteilung für Schwerverbrannte in der Berufsgenossenschaftlichen Klinik Ludwigshafen. Die beeindruckenden und manchmal tragischen Erlebnisse in dieser Klinik gehören nicht hierher, aber sie haben mich nachhaltig geprägt. Das will ich wenigstens erwähnen.

    Eines Morgens im Januar 1970 sagte ein Kollege im Hörsaal der Uni zu mir: „Du suchst doch nach einem Thema für eine Doktorarbeit. Bei Prof. Stoll in der Frauenklinik steht am Schwarzen Brett, dass er eine Arbeit zu vergeben hat! Interessiert dich das?“

    Also bat ich im Sekretariat von Herrn Prof. Stoll um einen Termin zu einem Gespräch. „Gut, der Termin ist jetzt!“, sagte die Sekretärin, „Er ist da und hat jetzt gerade Zeit, ich melde Sie an!“

    Prof. Stoll erklärte mir nach einer kurzen Begrüßung sein Anliegen: „Für 1968 habe ich von einer Doktorandin überprüfen lassen, mit welchen Indikationen die Neugeborenen in die Kinderklinik verlegt werden, welche Diagnosen sie dort erhalten und in welchem Zustand sie entlassen werden. Ich möchte wissen, inwiefern sich das verändert hat. Dazu habe ich zwei besondere Fragen: Haben wir alle Kinder rechtzeitig verlegt? Und eine andere Besonderheit sollten Sie genauer anschauen. Ich habe nämlich bemerkt, dass im Sommer 1969 eine Durchfallepidemie im Neugeborenenzimmer ausgebrochen ist und wir deshalb noch viel mehr Neugeborene verlegt haben als in den Vergleichsmonaten des Vorjahres. Ich will wissen, ob das etwas mit den hygienischen Zuständen des Neugeborenenzimmers zu tun hat. Wir verlegen sehr viele Kinder nur, weil wir keinen Platz haben, sie hier zu behandeln. Sie müssen sich das Zimmer mal anschauen und mit den Schwestern dort über die Situation sprechen. Interessiert Sie das Thema?“

    „Ja, das interessiert mich! Ich möchte nach dem Examen eine Kinderfacharztweiterbildung machen. Da passt dieses perinatologische Thema sehr gut! – Mir fällt spontan ein Vorschlag ein: Mein Vater ist niedergelassener Kinderarzt, und ich werde morgen zum Wochenende zu meinen Eltern fahren. Da kann ich mit meinem Vater zusammen eine Gliederung der Arbeit und eine Liste der Dinge erstellen, die ich brauche, um die Grundlagen für die Arbeit zu sammeln.“

    „Gut, dann kommen Sie am Montag wieder zu mir, damit wir das besprechen können. Ich möchte, dass wir immer wieder kurz während Ihrer Arbeit miteinander reden, damit Sie möglichst keine Umwege machen und zielgerichtet und rasch das Ergebnis erreichen. Einverstanden?“

    Ja natürlich war ich einverstanden, was konnte mir Besseres passieren? Andere Doktoranden warten monatelang, bis ihr Doktorvater mal Zeit für sie hat.

    Als ich am Wochenende meinen Eltern den Plan vorlegte, den ich mir schon teilweise gemacht hatte, war mein Vater voll Interesse, und wir wollten gleich mit der gemeinsamen Arbeit loslegen.

    Da bremste meine Mutter: „Kennst du die Frau von Prof. Stoll?“ – „Nein, natürlich nicht, warum?“ – „Ich habe den Verdacht, dass das die Freundin ist, die ich seit vielen Jahren suche. Mit ihr habe ich viel Zeit im Reichsarbeitsdienst verbracht und seither den Kontakt verloren. Bei jedem Kongress, zu dem ich Vater begleitet habe, halte ich Ausschau nach ihr, weil ich gehört habe, dass sie einen Frauenarzt geheiratet hat. Ich hole mal mein Fotoalbum aus der RAD-Zeit!“

    Sie zeigte mir in dem Album einige leicht vergilbte Bilder und deutet immer wieder auf die Freundin, die sie suchte.
    „Ich möchte sie so gern wieder treffen!“

    „Mutter, dann mache ich dir einen Vorschlag. Ich nehme das Album am Montag mit zu Prof. Stoll und frage ihn, ob diese Frau seine Frau ist.“

    „Ja, das ist prima. Und ich schreibe jetzt einen Brief an diese Frau, den du ihm geben kannst, wenn er seine Frau auf diesen Bildern erkennt! Und jetzt könnt ihr beiden an die Arbeit gehen.“

    Vater und ich entwarfen unseren Plan, und es machte uns beiden richtig Spaß, dieses Projekt gemeinsam anzustoßen.

    Am Montag war ich bei Prof. Stoll, und er fragte sofort: „Na, was haben Sie mit Ihrem Vater erarbeitet?“ – „Das erkläre ich Ihnen gleich, aber ich möchte Ihnen vorher etwas anderes zeigen!“
    Ich zog das Album aus meiner Aktentasche. Er schaute erstaunt: „Wo haben Sie das Buch her? So eines haben wir auch zu Hause?“

    Ich legte das Album auf den Tisch und schlug es gezielt auf bei einer Seite, die meine Mutter mit einem kleinen Zettel markiert hatte. Dann deutete ich auf die Frau, die meine Mutter suchte:
    „Ist das Ihre Frau?“ –
    „Ja! Ja!“
    Er war ganz begeistert, als ich ihm berichtete, wie ich zu dem Buch gekommen war und dass ich jetzt auch noch einen Brief für seine Frau hatte:

    „Bitte nehmen Sie das Album und den Brief mit für Ihre Frau! Sie können mir das Album ja gelegentlich wieder geben.“
    Dann besprachen wir die Arbeitsliste, wegen der ich eigentlich gekommen war. Prof. Stoll war sehr angetan von dem Plan und schlug noch wenige kleine Änderungen vor, dann verabschiedete er mich: „Gehen Sie ins Archiv, lassen Sie sich alle Akten geben, die Sie brauchen, dann gehen Sie in die Kinderklinik und suchen dort alle Akten raus. Und dann gehen Sie noch in das Neugeborenenzimmer und schauen sich dort um! Meine Sekretärin meldet sie überall an. Wenn Sie die Unterlagen beieinander haben, melden Sie sich wieder. Sie bekommen dann kurzfristig wieder einen Termin!“

    Am Abend erfuhr ich telefonisch von meiner Mutter, dass Frau Stoll schon angerufen hatte! Sie hatten wohl eine lange Unterhaltung, und beide Frauen waren hoch erfreut über das späte Treffen.

    Ich erstellte in der Frauenklinik eine Liste der Kinder, die 1969 in der Frauenklinik geboren worden waren und füllte meine Fragebogen mit allen Daten aus, die ich brauchte. Dafür hatte ich mir einige Abkürzungen festgelegt, um die Liste übersichtlich zu halten. Dann ging ich mit der Liste in die Kinderklinik und ergänzte die Daten von dort.

    Der Besuch im Neugeborenzimmer war besonders interessant. Die Kinderkrankenschwester, die mir öffnete und der ich erklärte, warum ich komme, war schon informiert über meine Aufgabe. Sie war sehr bereit, mir zu helfen und kam gleich zum Punkt: „Schauen Sie, hier an dieser Wand ist der lange Wickeltisch, wo vier Kinder gleichzeitig gewickelt werden können. Und es ist sehr praktisch, dass ich mich nur umdrehen muss, um die volle Windel in diesen Papierkorb zu werfen. Aber dieser Korb hängt am ersten Bett der Reihe von Kinderbetten, die hier im Zimmer stehen! Und so haben wir vier Bettchenreihen, die alle am ersten Bett der Reihe einen Windelkorb tragen! Wir haben festgestellt, dass immer zuerst das Kind im ersten Bett den Durchfall bekam und dann das zweite, und das dritte. Kein Wunder! Merken Sie was? Das ist ein Planungsfehler! –  Und wir können keine Kinder isolieren  und wegen des geringen Platzes keine Kinder unter 2500 g Geburtsgewicht hier unterbringen, weil sonst die Station überläuft. Deshalb müssen wir so viele Kinder verlegen. Und deshalb will der Professor das unbedingt ändern, aber er sagt, er bekommt kein Geld dafür!“ –

    Jetzt war mir schlagartig klar, worum es ging. Das war eine zusätzliche Motivation, diese Arbeit zu schreiben. Keine wissenschaftlich anspruchsvolle Arbeit, aber immerhin mit der Aussicht, etwas Praktisches und Wichtiges in der Klinik verbessern zu helfen!

    Ich machte mich mit Freude und gewisser Neugier an die Auswertung meiner vielen Daten und stellte tatsächlich die vermehrte Überweisungsaktivität im Sommer fest und konnte sie genau mit der Diagnose Enteritis verbinden. Außerdem konnte ich als Begleitergebnis dokumentieren, dass kein einziges Kind zu spät verlegt worden war. Auch die schwerstkranken Neugeborenen, die später in der Kinderklinik verstarben, waren sofort nach der Geburt in die Kinderklinik verlegt worden. Aber von den 1853 Kindern, die 1969 in der Frauenklinik geboren waren, -das sind durchschnittlich fünf Kinder jeden Tag!-, mussten 472 verlegt werden. Das sind 25%! Diese sehr hohe Zahl lag ganz offensichtlich an den sehr schlechten hygienischen und beengten räumlichen Bedingungen im Kinderzimmer der Frauenklinik. So entschloss man sich zum Beispiel, alle Kinder unter 2500 g Geburtsgewicht auch gesund zu verlegen, weil eine angemessene Versorgung nicht möglich war. In einer gut ausgestatteten Frauenklinik wäre zum Beispiel ein gesundes Neugeborenes mit 2000 g nicht verlegt worden! Die Kinder mussten also von der Mutter getrennt werden, weil das Kinderzimmer zu klein war, nicht weil das Kind oder die Mutter krank waren.

    Als ich Prof. Stoll meine Ergebnisse erklärte und schriftlich zeigte, war er sehr zufrieden: „Das habe ich erwartet! Jetzt schreiben Sie das sehr genau und detailliert in einen flüssigen Text, berücksichtigen Sie die einzelnen Diagnosegruppen der Verlegungen, und bleiben Sie streng bei Ihrer Gliederung. Dann kommen Sie wieder.“

    So war ich immer, nachdem ich einen Teilschritt der Arbeit erledigt hatte, bei ihm zu einem kurzen Gespräch, das nie länger als zehn Minuten dauerte, aber mich sehr zielsicher auf meiner Arbeitsspur hielt. So machte ich nichts Überflüssiges und musste nichts Falsches korrigieren. Diese Bereitschaft von Prof. Stoll, mich so zu unterstützen, war eine echte und vorbildliche Hilfe, für die ich heute noch dankbar bin.

    Ich fand auch noch eine Sekretärin, die in enormer Fleißarbeit meine gesamte Datenliste abschrieb, die wir dann später verkleinert in die Arbeit hinten einfügten.

    Als ich sechs Wochen nach unserem ersten Gespräch Herrn Prof. Stoll an einem Freitag nach seiner Vorlesung meine fertige Arbeit abgab, die ich selbst in die Schreibmaschine getippt hatte, fragte ich ihn: „Wann darf ich wieder kommen, um das zu besprechen?“

    Er überlegte kurz: „Ich fahre morgen mit dem Zug nach Bremen, um einen Vortrag zu halten. Da lese ich die Arbeit während der Fahrt. Meine Frau hat mir verboten, mit meinem schnellen Auto selbst zu fahren. Kommen Sie am Montag nach meiner Vorlesung wieder!“

    Na, besser konnte es ja nicht laufen!

    Als ich am Montag die Arbeit abholen wollte, sagte Prof. Stoll: „Die Arbeit ist prima, ich habe nur ein einziges Adjektiv geändert, den Rest lassen Sie so. Ich habe die Arbeit heute Morgen schon unserem Perinatologen gegeben. Bis morgen hat er sie gelesen, dann gehen Sie zu ihm, holen sie ab und fragen nach seiner Meinung. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er etwas auszusetzen hat.“

    Auch von diesem Kollegen bekam ich freundlich und knapp den Kommentar: „Ja. Sehr gut, nichts ändern!“

    Prof. Stoll schlug noch vor, Herrn Prof. Huth, das war der Direktor der Kinderklinik, und Herrn Prof. von Keiser, das war der Dekan der Medizinischen Fakultät und gleichzeitig Direktor der Radiologischen Klinik, als Prüfer der Arbeit zu benennen. Diesen beiden Professoren brachte ich die Arbeit auch, als ich sie in Reinschrift verfasst hatte, und sie waren ebenfalls einverstanden.

    So, könnte man denken, das war´s.

    Aber so einfach geht es natürlich nicht. Zu jeder Doktorarbeit gehört eine Prüfung! Rigorosum nennt man das oder in manchen Fakultäten sogar Verteidigung. Das hört sich sehr militärisch nach einem großen Widerstand an, dem sich der Kandidat stellen muss. In einigen Universitäten findet diese Prüfung öffentlich statt, und der Kandidat muss sich nach einem Vortrag, in dem er seine Arbeit vorstellt, nicht nur über sein Promotionsthema, sondern auch über alle anderen Themen seines Fachs prüfen lassen! Das bedeutet in meinem Fall über die gesamte Medizin! In dieser Prüfung kann man wirklich durchfallen, und ich kenne Menschen, die in dieser Prüfung regelrecht gegrillt wurde, weil auch Themen genau hinterfragt wurden, über die der Kandidat gar nicht gearbeitet hat. Solche Prüfungsmanöver sind oft nur Profilierungsversuche der Prüfer vor ihren Kollegen.

    Es ist Vorschrift, dass diese Prüfung erst nach bestandenem Staatsexamen stattfinden darf. In den meisten Fächern darf man erst nach einem sehr gut bestandenen Examen eine Doktorarbeit anfangen! Das ist dann eine zusätzliche Auszeichnung, bei der man weiß, dass dieser Mensch eine sehr gute Gesamtexamensnote geschafft hat. In der Medizin gibt es da die Ausnahme, dass man die Arbeit schon vor dem Examen schreiben darf. Aber man darf den Titel erst nach dem Rigorosum tragen.

    Das war also noch eine Weile hin. Denn ich musste noch drei Semester studieren, und ich wollte wieder zurück nach Tübingen zum Endspurt. Es gab da nämlich die drei Freunde, mit denen ich Physikum gemacht hatte. Dann hatten wir in Wien ein Semester lang offiziell Medizin studiert und inoffiziell den großen Theater – Oper – Konzert – Kino – Freizeit – Schein gemacht. Den haben wir mit Bravour bestanden, nachdem wir fast jeden Abend bei einer anderen großartigen Veranstaltung waren – oft auf den Stehplätzen, aber wir waren dabei! In diesem Sommer fiel in Wien das 100-jährige Ballettjubiläum mit den Wiener Festwochen zusammen. Das durfte ich mir als großer Klassikliebhaber nicht entgehen lassen.

    Im Klartext: Es gab Fächer, in denen man tatsächlich zwei Mal in einen Kurs kommen musste: zur Anmeldung und um den Schein abzuholen. Deshalb wollte ich ja nach Mannheim, um dort in zwei Semestern an einer kleinen Uni die neun Scheine nachzuholen und tatsächlich zu erarbeiten, die ich Wien „gewonnen“ hatte.

    Meine Freunde hatten so wie ich nach Wien auch andere Unis besucht: München und Innsbruck. Deshalb verabredeten wir uns für das Sommersemester 1970 in Tübingen, um miteinander auf das Staatsexamen zu lernen.

    Su diesem Grund fragte ich Prof. Stoll bei meinem Abschied, wie wir das mit dem Termin für das Rigorosum machen sollten.

    „Das ist einfach: Sie rufen meine Sekretärin an, und sie macht Ihnen die Termine bei mir und den Prüfern.“

    Also zog ich beruhigt wieder nach Tübingen.

    Einen Monat vor der letzten der 18 Prüfungen rief ich im Sekretariat der Frauenklinik an und bat um die Termine. „Ja klar, mache ich für Sie! Wann ist ihr letzter Prüfungstermin? 25. Juli? Gut, rufen Sie mich morgen wieder an, dann habe ich die Termine.“

    Am nächsten Tag sagte die Sekretärin: „Ich habe alle drei Termine auf den 27. Juli gelegt, dann haben Sie es an einem Tag hinter sich und müssen nur einmal hierher fahren!“

    Also fuhr ich am 27. Juli nach Mannheim.

    Erster Termin bei Prof. Stoll. Er begrüßte mich sehr freundlich, bot mir einen Platz vor seinem Schreibtisch an und setzte eine ungewöhnlich ernste Miene auf. Das kannte ich nicht von ihm.

    „Herr Weller, Sie sind zur Prüfung hier!“

    Er machte eine Pause, schaute mich mit unbeweglicher Miene an und wartete offensichtlich darauf, dass seine Worte Wirkung zeigen.
    In welchen Film bin ich denn jetzt geraten?, schoss mir durch den Kopf? So kenne ich den Professor gar nicht!

    Dann fuhr er fort: „Ich habe mir drei besondere Fragen für Sie ausgedacht, die müssen Sie alle sehr gut beantworten, sonst kann ich Sie nicht bestehen lassen! Sind Sie bereit?“

    „Ja natürlich“, sagte meine Stimme, mein Kopfkino stellte auf Alarm und begann mit Rauswurfszenen.

    „Also, erste Frage: Welche Gesamtnote haben Sie im Staatsexamen erreicht?!“

    Puh, das war leicht.

    „Eine Eins.“

    Aber wie geht es weiter?

    „Zweite Frage: Wie geht es Ihren Eltern?“

    Jetzt wurde ich viel lockerer, er spielte mit mir und machte sich einen Spaß daraus. Ich wurde lockerer.

    „Oh, denen geht es gut, ich war gestern bei ihnen und soll freundliche Grüße ausrichten, auch von meiner Mutter an Ihre Frau!“

    „Dritte Frage: Wohin fahren Sie jetzt in Urlaub?“

    Ja bitte, gern noch mehr solche Fragen! Jetzt war ich wieder ganz entspannt.

    „Ich werde am kommenden Montag mit einem Freund eine sechswöchige Rundreise durch die Balkanstaaten bis Istanbul und dann um das Marmarameer zurück über Griechenland nach Deutschland machen.“

    Jetzt lachte der Professor: „Na, sehen Sie, Sie haben doch alles sehr gut beantwortet. Ich unterschreibe das hier jetzt, und Sie grüßen Ihre Eltern sehr herzlich. Und alles Gute für Ihre nächsten Prüfungstermine!“

    „Die habe ich jetzt gleich im Anschluss. Aber ich habe noch eine Frage an Sie.“

    Er schaute verwundert, fragend.

    „Was habe Sie denn mit meiner Arbeit gemacht, hatte sie irgendwelche Konsequenzen?“

    „Das kann man wohl sagen! Ich bin damit zum Baubürgermeister gegangen und habe mir 200.000 DM geben lassen, um das Neugeborenenzimmer endlich umbauen und vergrößern zu lassen. Sie sollten sich das noch ansehen, bevor Sie das Haus verlassen. Ist richtig schön geworden!“

    Das ließ ich mir nicht zweimal sagen, ging direkt dorthin, und man zeigte mir gern den schönen Umbau.

    Deshalb habe ich immer noch das gute Gefühl, eine sinnvolle Arbeit geschrieben zu haben. Nicht wissenschaftlich, aber dafür pragmatisch mit einem echten Vorteil für diese Klinik und die Neugeborenen! Keine Arbeit für die Schublade, sondern etwas Notwendiges, das die Not wendet! Dafür bekam ich die Note cum laude – mit Lob. Das ist die beste Note, die man für eine nicht experimentelle Arbeit erhalten kann. Es gibt ja noch magna cum laude und summa cum laude.

    Bei Prof. Huth in der Kinderklinik war die erste Frage: „Welche Arbeit haben Sie denn geschrieben, ich erinnere mich nicht mehr. Können Sie mir kurz das Wesentliche erklären?“

    Das war einfach, und ich konnte fließend berichten und einige beeindruckende Zahlen einstreuen, weil ich am Tag davor meine Arbeit noch einmal gelesen hatte. Außerdem hatte ich sicherheitshalber ein Exemplar der Arbeit in meiner Aktentasche dabei, aber das wollte er gar nicht sehen.

    „Das war eine gute Arbeit, jetzt erinnere ich mich wieder! Also kann ich hier unterschreiben, dass Sie die Prüfung bei mir bestanden haben! Alles Gute für Sie!“

    Bei Prof. von Keiser wurde ich freundlich und jovial begrüßt. Das war schon mal erfreulich, weil er als sehr strenger Prüfer bekannt war.

    „Herr Weller, zuerst will ich mal wissen, welche Note Sie im Staatexamen gemacht haben.“

    „Eine Eins.“

    „Also, Sie wissen ja, wenn ich Sie durchfallen lassen will, schaffe ich das!“ Das klang sehr streng.

    Ich nickte und ahnte Schlimmes. Er setzte sich bequem hin. Ich noch nicht.

    „Wenn Sie aber in 18 Einzelprüfungen bewiesen haben, dass Ihr medizinisches Wissen insgesamt eine Eins wert ist, muss ich jetzt nicht eine 19. Prüfung machen! Erzählen Sie mir einfach mal, was Sie für eine Arbeit geschrieben haben. Ich erinnere mich nicht mehr daran.“

    Nach meinem Bericht sagte er freundlich und schon im Aufstehen: „Also, mein Glückwunsch! Ich unterschreibe hier und wünsche Ihnen alles Gute!“

    Damit war ich draußen, erleichtert und mit verschwitztem Hemd, aber das kam natürlich nur von der Bullenhitze an diesem heißen Julitag und meinem dunklen Anzug und der korrekt geknoteten und hochgezogenen Krawatte!

    Anschließend ging ich –endlich ohne Sakko und Krawatte!- in einen Herrenkonfektionsladen und kaufte mir eine beige Hose. Ich hatte nämlich fast während der ganzen Prüfungsvorbereitung und der sechsmonatigen Prüfungszeit beim Lernen und Lesen am Schreibtisch immer dieselbe Hose an, weil sie so bequem war. Sie war jetzt durchgewetzt, und ich hatte mir vorgenommen, sie erst nach dem bestandenen Examen zu ersetzen. Die neue Hose behielt ich gleich an, weil sie so schön leicht war. Dazu passte ein helles Sommerhemd, das auch noch auf dem Ausstellungstisch lag. Auch das behielt ich gleich an. Die dunkle Anzughose und mein weißes Hemd ließ ich einpacken.

    Jetzt wurde mir die Symbolik richtig bewusst: Studium ade – Urlaub, ich komme!

    Die neue Hose und das Hemd bezahlte ich mit einem Scheck, und ich unterschrieb zum ersten Mal in meinem Leben und sehr aufmerksam mit Dr. Dietrich Weller. Darüber habe ich mich noch viel mehr gefreut als über die Hose und das Hemd.

    Das war mein ganz stiller Triumph in diesen Minuten des Einkaufs: In einer einzigen Woche hatte ich mein Studium nach sechs Jahren und die Promotion abgeschlossen und das mit 25 Jahren! Das fühlte sich sehr großartig an!

    Ich fuhr in bester Stimmung und gemütlich nach Leonberg zurück, wo meine Mutter schon Vorbereitungen getroffen hatte für das Fest am morgigen Samstag. Meine Eltern hatten nämlich schon vor Monaten, als die Prüfungstermine bekannt waren, die Idee gehabt, meine drei Studienfreunde mit ihren Eltern zu einem Grillfest in unserem Garten einzuladen. Ein meinen Eltern gut bekanntes Ehepaar, er war Koch, machte sich eine Freude daraus, uns am Grill leckere Speisen zuzubereiten. Es wurde ein richtig stimmungsvoller Abend an diesem wunderbaren Sommertag und ein denkwürdiger Abschluss unseres Studiums!

    Einen Nachklapp zur der Geschichte will ich der Vollständigkeit halber noch hinzufügen.

    Lange, nachdem ich schon meine eigene Praxis in Leonberg hatte, bekam ich von der Kreisärzteschaft eine Einladung zu einem Vortrag von Prof. Stoll in Leonberg.  So sah ich meinen Doktorvater wieder, und mein Vater brachte meine Mutter mit, die sich während des Vortrags im Restaurant des Hotels mit Frau Stoll zwei gute Stunden machte.

    Einige Jahre später, als ich in einem meiner Bücher eine kurze Geschichte aus einer Vorlesung bei Prof. Stoll veröffentlichte, suchte ich ihn, um ihm das Buch zu schicken. Ich erreichte telefonisch seine Frau, die mir erzählte, er sei an einer Lungenfibrose verstorben. Also schickte ich das Buch an Frau Stoll.

    Leonberg, am 08.08.2022


  • Die meisten Patienten sprechen nicht gerne über ihre Krankheit. Krankheit ist Verlust der körperlichen Unversehrtheit, Schwäche, Hilfsbedürftigkeit. Die Bremer Krebsgesellschaft kann hier helfen: Der Umgang mit Krankheit ist erlernbar, hinnehmbar, vielen hilft es, „Leidensgenossen“ kennenzulernen, das Wissen, mit seiner Krankheit nicht allein zu sein.

    Manche Menschen schreiben über ihre Krankheit. Die Schreibwerkstatt der Bremer Krebsgesellschaft legt Zeugnis davon ab. Oder auch ein Buchprojekt der besonderen Art, das 2019 unter dem Titel „Schau mich an“ abgeschlossen und vorgestellt wurde.

    Beeindruckend ist der Umgang von Theodor Storm mit seiner Magenkrebserkrankung. Er hat diese Erkrankung an sich selbst diagnostiziert:

    Kurz vor seinem Tod konnte Theodor Storm, der schon mit 15 zu schreiben begann, noch seinen „Schimmelreiter“ vollenden. Das war ein wichtiges Buch in der Zeit des bürgerlichen Realismus. Noch heute legt der Hauke Haien Koog zwischen Dagebüll und Reußenköge am Nordseestrand in Nordfriesland Zeugnis von den Schwierigkeiten der damaligen Zeit ab.

    Theodor Storm hatte Magenkrebs.

    Das war damals häufiger als heute.

    Wir wissen, woran das lag:  Der erste europäische Kühlschrank wurde 1929 von den durch Jørgen Skafte Rasmussen gegründeten „Zschopauer Motorenwerken“ gebaut. Bei Storms zu Hause gab es also noch keinen Kühlschrank. Lebensmittel mussten geräuchert, gepökelt oder getrocknet werden, um sie haltbar zu machen.

    Räuchern oder Pökeln führt aber dazu, dass wir mit der Nahrung krebserregende Substanzen, „Karzinogene“, aufnehmen, die beim Essen direkt im Magen landen. Aus dem Nitritpökelsalz entstehen im Magen Nitrosamine, und die sind für die Krebsentstehung sehr gefährlich.

    Erst mit der flächendeckenden Versorgung der Bevölkerung mit Kühlschränken nach dem zweiten Weltkrieg, im Wirtschaftswunder, wurde dem Magenkrebs die wichtigste Entstehungsgrundlage entzogen.

    Man konnte Magenkrebs damals auch noch gar nicht operieren: Erst 1881 gelang Theodor Billroth –ebenfalls einem Norddeutschen, auf Rügen geboren- die erste Magenresektion. Bestrahlung, Chemotherapie: Das waren alles Zukunftsvisionen.

    Man konnte noch nicht mal ein Röntgenbild machen: Erst 1895 entdeckte Wilhelm Conrad Röntgen die X-Strahlen, mit denen man das machen konnte, was wir heute „röntgen“ nennen. Er erhielt dafür 1901 den Nobelpreis.

    Die Magenspiegelung steckte auch noch in den Kinderschuhen: 1868 schob Kußmaul einem Schwertschlucker eine starre Röhre in den Magen und vollführte damit die erste Magenspiegelung. Bis zum flexiblen „Gastroskop“ war es noch ein sehr weiter Weg.

    Theodor Storm hat seinen Magenkrebs dennoch diagnostizieren können.

    Er konnte nicht in sich hineinsehen, da Endoskopie und Röntgen -wie gesagt- noch nicht zur Verfügung standen. Er konnte aber in sich hineinhorchen, hineinfühlen.

    Er hatte buchstäblich „Einfühlungsvermögen“.

    Und:

    Er war ein exzellenter „Beschreiber“.

    Das wünschen wir uns heute, wenn wir eine Magenspiegelung machen lassen: Daß der Untersucher den Befund auch entsprechend und verständlich beschreibt, und sich nicht auf die Verwendung von Textbausteinen beschränkt.

    Theodor Storm tat mehr als das: Er beschrieb die Symptome seiner Magenkrebserkrankung sehr treffend in einem Gedicht:

    Beginn des Endes

    Ein Punkt nur ist es, kaum ein Schmerz,
    Nur ein Gefühl, empfunden eben;
    Und dennoch spricht es stets darein,
    Und dennoch stört es dich zu leben.

    Wenn du es andern klagen willst,
    So kannst du’s nicht in Worte fassen.
    Du sagst dir selber: »Es ist nichts!«
    Und dennoch will es dich nicht lassen.

    So seltsam fremd wird dir die Welt,
    Und leis verläßt dich alles Hoffen,
    Bist du es endlich, endlich weißt,
    Daß dich des Todes Pfeil getroffen.

    Theodor Storm hatte keine Schmerzen. Schmerz ist häufig ein entscheidendes Anzeichen einer Erkrankung, ein Warnsignal. Beim Magenkrebs versagt dieses Signalelement häufig, was das Erkennen dieser Erkrankung so erschwert.

    Für Theodor Storm war die Diagnose „Magenkrebs“ sein Todesurteil.

    Das ist heute anders: Wir haben viele verschiedene Therapiemöglichkeiten und können diesen Krebs behandeln: Operation, Chemotherapie, manchmal auch Bestrahlung, Antikörperbehandlung und zielgerichtete Therapie können helfen.

    Theodor Storm war das nicht vergönnt.

    Er nahm es gelassen, er war ein gelassener Mensch:

    „Es kommt das Leid,
    es geht die Freud,
    es kommt die Freud,
    da geht das Leid-
    die Tage sind nimmer dieselben.“

    Theodor Storm ist also einer der Schriftsteller, die mit ihrer Erkrankung umgehen konnten. Er starb 1888.

    50 Jahre später wurde der Lübecker Schriftsteller und Nobelpreisträger Thomas Mann krank und kraftlos: Er hatte viel hinter sich. Erst war er von Lübeck nach München gezogen, wegen der Repressionen im Nationalsozialismus war er von Deutschland erst in die Schweiz, dann nach Amerika emigriert. Er schrieb dort an seinem Roman „Doktor Faustus“.

    Thomas Mann beschreibt einen Kräfteverfall im Januar 1946, im Tagebuch mehrten sich die Vermerke über Kopfschmerzen, Hustennächte und eine „absurde“ Müdigkeit.

    „Röntgenaufnahmen meiner Lunge hatten einen „Schatten“ irgendwo in diesem Organ zum Vorschein gebracht.“

    Mann hat seine eigene Erkrankung sehr scharf beobachtet. Er litt unter Fieber oder auch nur unter erhöhter Temperatur und genoss teilweise den zugleich matten und gehobenen Zustand, in den ihn das mäßige Fieber versetzte. Er bekam von seinem Arzt Dr. Friedrich Rosenthal Eigenblut-Injektionen und eine Bellergal® Kur. Bellergal® erkenne ich noch aus den Erzählungen meiner heute 98-jährigen Mutter, es handelt sich chemisch um Gesamtalkaloide aus Belladonnablättern, Ergotamin und Phenobarbital.

    Das ist eine gefährliche Kombination.

    Ich bin überzeugt, dass diese Substanzmischung heute nicht mehr angewendet wird.

    Nach dem Versuch mit einer Penicillinkur wurde dann endlich der Entschluss gefasst, eine Bronchoskopie durchzuführen. Diese beschreibt Thomas Mann sehr detailliert: „Ich hatte nach dem Empfange kaum noch zwei Worte gesprochen, als mein Bewusstsein so sanft wie restlos entschwand und ich – wohl nur für kurze Frist, fünf oder sechs Minuten – tief einschlief. Was geschah, muss wachen Geistes recht peinlich hinzunehmen sein – der kalifornische Consiliarius hatte ja gesagt, dass ich mich binnen einer Woche ganz gut davon erholt haben würde. Hier war Erholung nicht Not, denn es gab keine Strapaze. Ich erwachte, schon wieder in meinem Zimmer, davon, dass der gute Dr. Adams, der mich hinaufbegleitete, mir mildtätig die Nase schnäuzte. In die Einführung des mit einem elektrischen Lämpchen versehenen Apparates durch die Luftröhre in die Lunge (wobei eine Art von periskopischer Vorrichtung erlaubt, sich genau über die Verhältnisse dort unten aufzuklären) bewirkt natürlich eine schleimige, leicht blutige Reizung des gesamten Atmungstraktes, und man braucht nach der Rückkehr in seinem Bett einige Papierservietten, was aber auch von Unannehmlichkeit alles ist. Ich war entzückt und sprach tagelang zur Erheiterung namentlich der jungen Mediziner, mit Bewunderung, Preis und Dank von der magischen Spritze.

    Nach der Bronchoskopie ist Thomas Mann tatsächlich operiert worden. Es wurde eine Unterlappenresektion auf der rechten Seite vorgenommen. Der Patient beschreibt wieder seine Narkose und vor allem auch die Phase, in der er aus der Narkose wieder erwacht ist: „noch stark benommen sprach ich gegen alle Gewohnheit Englisch zu mir, und sonderbar:

    Ich führte Klage: “It was much worse than I thought, sagte ich. I suffered too much!”

    Noch heute denke ich nach über den Sinn dieses Unsinns. Wovon redete ich? Ich hatte ja von allem nichts gespürt. Gibt es irgendwelche Tiefen des Vitalen, in denen man, bei völlig ausgeschaltetem Sensorium, dennoch leidet? Ist Leiden vom Erleiden im untersten nicht vollkommen zu trennen? Dies könnte sich sogar auf den toten Organismus beziehen, von dem niemand weiß, wie tot er vor seiner wirklichen Auflösung ist; es könnte, wen nur auch nur als misstrauische Frage, ein Argument gegen die Feuerbestattung bilden, um englisch zu sprechen: It may hurt.

    So klassisch und jedes Zwischenfalls bar die Operation verlaufen war, so ereignislos, im klinischen Sinn, hurtig und ungestört ging es mit der Wiederherstellung voran. Ein 30-Jähriger, versicherten die Ärzte, hätte sich nicht entgegenkommender verhalten können. Ich galt als eine Art „prize patient“.

    Der Schock, den jeder Eingriff dieser Art für den Gesamtorganismus, das Nervensystem bedeutet, war mir wohl fühlbar. Auch war eine Schwäche der Brust zurückgeblieben, die bei großer Neigung zu falschem Schlucken führte, das Räuspern und Husten ängstlich erschwerte.

    Obligate Verwachsungsbeschwerden im Rücken wurden mit Codein® bekämpft und die Veränderungen die in meinem Inneren, unter Entfernung der siebten Rippe, vorgenommen wurden, eine Höherlagerung des Zwerchfells und dergleichen, schufen nach vorschneller Bewegung wohl einige Atembedrängnis. Aber der Sauerstoffapparat, der eine Weile neben meinem Bett gestanden, verschwand sehr bald und der meterlange Einschnitt heilte vortrefflich, so dass der hübsche Carlson (hübsche Menschen sind eine Freude, ob männlich oder weiblich) nach ein paar Wochen die Fäden entfernen konnte. Mit einer Geschicklichkeit, die jede erwartete Unannehmlichkeit hintanhielt. Er war von der Highschool, deren Bildungsziele nichts überspanntes haben, ohne College Besuch sogleich auf die Medical School gekommen, wo er übrigens als Marine Aspirant seine Ausbildung gratis erhalten hatte, und wusste offenkundig in aller Welt von nichts etwas als von Chirurgie, für die er ebenso offenkundig geboren, und in der er glücklich war. Noch sehe ich ihn in Gummihemd und Schürze eine Schubkarre auf Gummirädern, mit einer lakenverhüllten Gestalt darauf, in jungenhaftem Trab durch die Korridore von Billings Hospital vor sich hertreiben, – ein vergnügt einseitiges, gut anzuschauendes und tüchtiges Stück Leben.“

    Thomas Mann hat über die Reaktion des rechten Unterlappens mehrfach in seinen Tagebüchern berichtet er, ausführlicher in seinen Essays über die Entstehung des „Doktor Faustus“- Roman eines Romans.

    Welche Beweggründe haben Thomas Mann zu diesem Entschluss geführt?

    Darüber sprechen, darüber schreiben, hilft, die Krankheit aufzuarbeiten.

    Es ist darüber hinaus reizvoll, einen Blick auf die Thoraxchirurgie der Mitte des letzten Jahrhunderts zu werfen, auf die Usancen in der Klinik, auf das Gehabe der ärztlichen Kollegen jener Zeit, auf die Medikation, die Operation und die perioperative Behandlung und Pflege, und das aus der Sicht eines prominenten Laien und Patienten.

    Thomas Mann hat sich nicht erst mit seiner eigenen Lungenerkrankung mit Medizin beschäftigt. 1912 hat er seine Frau im Waldsanatorium in Davos besucht und wollte seine Eindrücke und Erfahrungen und die Atmosphäre der Behandlung in einer Novelle zusammenfassen. Herausgekommen ist in den zwanziger Jahren der berühmte Roman „Der Zauberberg“. Im Juli 1913 begonnen, während des Krieges mehrfach unterbrochen, vor allem durch „Die Betrachtungen eines Unpolitischen“, gedanklich aber ständig weitergeführt, konnte Thomas Mann den Zauberberg im September 1924 abschließen. Die Geschichte, erklärte Thomas Mann in einer Einführung in den Zauberberg, arbeitet wohl mit den Mitteln des realistischen Romans, aber sie ist kein solcher, sie geht beständig über das Realistische hinaus, indem sie es symbolisch steigert und transparent macht für das Geistige und Ideelle.

    Thomas Mann wurde 1875 in Lübeck geboren.

    Ich habe ebenfalls eine Zeit meines Lebens in Lübeck verbracht, war dort an der Universitätsklinik tätig, bin dort Facharzt für Chirurgie und Gefäßchirurgie geworden, wurde als Viszeralchirurg ausgebildet, und ich durfte mich habilitieren. Als Mitglied des Lehrkörpers durfte ich das medizinische Staatsexamen abnehmen. Immer, wenn ich mit unserem Radiologen prüfte, kamen Fragen aus dem Zauberberg. Herr Professor Weiß war der Überzeugung, dass jemand, der in Lübeck Medizin studiert hatte, über den Zauberberg Bescheid wissen müsse. So fühle auch ich mich genötigt, den Zauberberg zu lesen, und ich habe das nie bereut. Insbesondere die Beschreibung der damals noch so jungen Röntgentechnik ist nach wie vor faszinierend.

    Im Juni 1955 schließlich feierte Thomas Mann, wieder in Europa, seinen 80. Geburtstag. Er beklagte eine Schwellung des rechten Beines und man vermutete eine Thrombose. Als Ursache dieser Thrombose musste ein großes Iliacalaneurysma angesehen werden, das die Beckenvene komprimierte. Thomas Mann ist an einem rupturierten Aneurysma gestorben. In der Literatur wird mal von einem rupturierten Bauchaortenaneurysma gesprochen, aber es wird wohl ein Iliakalarterienaneurysma gewesen sein.

    Auch diese Lebensphase von Thomas Mann ist literarisch dokumentiert, im Thomas Mann Jahrbuch findet sich ein Journal-Artikel mit dem Titel „Thomas Manns letzte Krankheit“.

    Mann befindet sich mit seiner Aneurysmaerkrankung nicht nur in guter Gesellschaft mit Charles de Gaulle aus dieser Zeit, sondern auch mit Albert Einstein, der in den vierziger Jahren von Rudolf Nissen in New York erfolgreich am Bauchaortenaneurysma operiert worden war (Gefäßprothesen gab es noch nicht, aber es wurde ein Aneurysmawrapping, eine Ummantelung des Gefäßes, durchgeführt), und der zehn Jahre später (1954) ebenfalls an einem rupturierten Aneurysma starb. Albert Einstein war wie Thomas Mann zur Zeit des Nationalsozialismus in die USA emigriert, beide lehrten an der University of Princeton.

    Der Bogen von Theodor Storms Magenkrebs über Thomas Manns Lungenkrebs bis hin zu seinem rupturierten Aneurysma schlägt einen literarischen Bogen von den Anfängen der modernen Medizin, der internistischen Endoskopie, den ersten Röntgenbildern und den ersten großen Operationen hin zu den Erfolgen der Thorax- und Gefäßchirurgie, die in den neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts einen weiteren entscheidenden Impuls mit der Einführung der minimal invasiven Techniken erfahren haben.

    Die Anästhesie darf dabei nicht zu kurz kommen: „I suffered too much“ bezog sich schließlich nur auf die Narkose, aber Thomas Mann hat das -wie er selbst schreibt- ironisch gemeint.

    Man muss ihn verstehen lernen.

    Thomas Mann ist ein Beispiel dafür, wie man mit Krankheit umgehen kann. Darüber sprechen, darüber schreiben hilft, die Krankheit aufzuarbeiten.

    Das Lesen hilft uns andererseits, die Krankheit zu verstehen, wir bekommen Einblicke in die Medizin, und wir lernen, was sie Krankheit mit dem Patienten macht.

    Eines noch: Hätte Thomas Mann nicht geraucht, wäre ihm vielleicht sowohl der Lungenkrebs, als auch die Gefäßerkrankung erspart geblieben. Er wäre diesen berühmten Satz „I suffered too much“ niemals losgeworden.

    Literatur:

    Bernhard, M.: Theodor Storm Hausbuch. Gondrom Verlag, Bayreuth (1981)

    Bremer Krebsgesellschaft (Hrsg): Schau mich an. Druckpartner Coels, Verden (2019)

    Kropp,R., Schaberg T.: Thomas Manns Bericht über seine Lungenoperation. Pneumonologie 68: 752-757 (2014)

    Mann, T.: Der Zauberberg. Fischer, Frankfurt (1924)

    Schrecher T., Wiethoff E.: Thomas Manns letzte Krankheit. Thomas Mann Jahrbuch 10: 249-276 (1997)

    Wenk H.: Theodor Storm und der Magenkrebs: Zum Weltkrebstag 2019. In: Informiert – Mitteilungen der Bremer Krebsgesellschaft (2019)