Schlagwort: Medizin

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    Dieser Artikel  wurde in dem GeNoMagazin für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Klinikverbunds Gesundheit Nord, Ausgabe 20, im Juni 2018 veröffentlicht. Wir danken für die Abdruckgenehmigung. Autorin des Artikels ist Melanie Walter.

    Da der Artikel auf zwei DIN A4-Seiten erschien ist, die in diesem Format hier nicht lesbar sind, haben wir die Einzelteile separat abgedruckt.

     

    Der Gefäßchirurg ist seit 1996 Chefarzt der Klinik für Allgemein-, Gefäß- und Viszeralchirurgie im Klinikum Bremen-Nord. Seit Mai 2018 ist er zudem Vorsitzender der Bremer  Krebsgesellschaft. Während des Studiums in Kiel hat sich der 61-Jährige in den Norden Deutschlands verliebt. Nach vielen Jahren Ruder-Pause hat er wieder mit dem Rudern angefangen.
    Heiner Wenk ist aktives Mitglied in zwei Rudervereinen. Er ist verheiratet und Vater von zwei erwachsenen Kindern. In seiner Freizeit spielt er auch Gitarre.

     

     

    „Beim Schreiben kann ich gut Gedanken ordnen“

    Gefäßchirurg Heiner Wenk ist Mitglied des Bundesverbandes Deutscher Schriftstellerärzte (BDSÄ). Sechs Tage vor der Zeitumstellung auf Sommerzeit ist Heiner Wenk guter Dinge. Der
    Frühling steht vor der Tür, Vogelgezwitscher und die wärmende Sonne lassen keine
    Zweifel an der neuen Jahreszeit. Kaum zu glauben, dass der Gefäßchirurgie-Chefarzt
    aus dem Klinikum Bremen-Nord dagegen ist, an der Uhr zu drehen.
    „Der Frühaufdreher oder: Gegen die Zeitumstellung“ lautet der Titel eines Textes,
    den der 61-Jährige veröffentlicht hat. Launig und leicht, dabei logisch gedacht,
    reiht er eigene Gedanken aneinander. Es geht um die Zeit. Zeit an sich und wie
    sich die Zeiten ändern. Und es geht ums Rudern und darum, dass auch das
    sich verändert mit der Zeit.
    Schreiben strukturiert das Denken, findet Heiner Wenk. Er gehört dem Bundesverband
    Deutscher Schriftstellerärzte (BDSÄ) an. Dort finden sich auch viele weitere, sehr
    unterschiedliche Texte vom Chefarzt der Gefäßchirurgie.
    Der Wassersport ist seine große Leidenschaft, dicht gefolgt von der Gefäßchirurgie.
    Wenn er nicht mit den Vereinskollegen von Bremen 1882 auf der Weser rudert, lebt
    Heiner Wenk seine sportliche Passion am liebsten auf der Hamme aus, die er als
    schönsten Fluss der Welt bezeichnet.
    „Unglaublich toll ist die Regatta Anfang März durch Amsterdam. Es ist kalt. Es ist eine
    lange Tour. Und jedes Mal frage ich mich in meinem Achter ‚Warum mache ich das?‘
    Aber die Stadt ist so schön und das in dieser Jahreszeit.“ Auch bei der drittgrößten
    Regatta der Welt auf der Außenalster ruderte er im Vierer mit.
    Prof. Wenk ist dagegen, dass zweimal im Jahr die Uhr verstellt wird. „Man kann
    die Zeit umstellen“, schreibt er. Aber muss man das, nur weil der Mensch es kann?
    „Ein Wahnsinn. Eine Riesenspökenkiekerei.“ heißt es in „Der Frühaufdreher“.
    Der Autor möchte die Winterzeit abschaffen.
    „Beim Schreiben kann ich gut Gedanken ordnen“, antwortet Prof. Wenk auf die Frage,
    warum er schreibt. Er tut das schon sehr lange. Gerne frühmorgens, mit dem Blick auf
    die Wiesen vor’m Fenster, die Vögel im Ohr. Es gibt Bücher von Heiner Wenk, „die werden
    auch gelesen“. „Jette in Weimar“ heißt eines, darin geht es um den Familienhund,
    der sich im Urlaub in Thüringen sehr wohl fühlt.
    Während er davon erzählt, klingelt das Handy des Chefarztes. „Hast du ’ne
    Mannschaft zusammen?“, wird der Anrufer gefragt. Wenige Worte werden
    gewechselt und alles ist klar. Demnächst läuft der Gefäßchirurg beim Organspende-
    Lauf in Berlin mit. Strahlend freut er sich darüber, auch seine dritte Leidenschaft –
    das Laufen – mit der Gefäßchirurgie verbinden zu können. „Das mache ich nur,
    weil ich da sowieso auf einem Kongress bin.“

    www.bdsae.org

     

  • Der Wurm im Kopf

     

    Hugo dachte immer komplizierter. Morgens beim Zähneputzen überlegte er lange, warum er die Zahnbürste für die Zähne und die Handbürste für die Hände verwenden sollte. Beides waren Bürsten. So nahm er die Handbürste und putzte damit Zähne und mit der Zahnbürste reinigte er die Fingernägel. Beim Zähneputzen störte in, dass es auf den Lippen kratzte, auch wenn er die Lippen weit auseinander riss. Als er versuchte, die Backenzähne zu reinigen, verkrampfte sich der Kiefer, so dass er über einige Minuten den Mund nicht mehr schließen konnte. Ich habe noch nicht die richtige Technik, dachte er und setzte sich an den Schreibtisch, um auf einem Blatt Papier die richtige Bürstentechnik zu entwerfen. Nach einer Stunde angestrengtem Nachdenken kam er zu dem Schluss, dass es an seinen Rotationsbewegungen liegen müsse.

    „Hugo, musst Du heute nicht zur Arbeit?“ rief seine Frau ungeduldig.

    „Doch, doch,“ brummte Hugo und stieg die Treppe nur langsam hinunter, da er seitlich über Kreuz abwärts stieg. Er schaffte es ohne zu stürzen. Eine Tasse Kaffee wollte er noch trinken, bevor er zur Arbeit ging. Er stülpte die Tasse verkehrt auf seinen Frühstücksteller und versuchte, Kaffee aus der Kanne einzuschütten. Verwundert sah er zu, wie das braune Wasser vom Tassenboden über den Rand, die Wand der Tasse hinunter auf den Teller floss. Es erinnerte ihn an die Wand in der Toilette eines teuren Restaurants, die durch das herabfließende Wasser faszinierend in ständiger Bewegung schien.

    „Hugo! Halt!“ Seine Frau riss ihm die Kanne aus der Hand, gerade so rechtzeitig, dass der Kaffee nicht mehr über den Rand des Frühstückstellers auf das Tischtuch schwappte. Etwas verärgert darüber, dass das Schauspiel so abrupt beendet wurde, wandte sich Hugo mit einer eckigen Bewegung ab, stolperte zur Garderobe und zog den Mantel mit der Innenseite nach außen an. „Es ist so praktischer,“ dachte er, da er nun leichter seine Papiere aus der Innentasche nehmen konnte. Was er schon immer erproben wollte, realisierte er jetzt. Er setzte sich in den Fond seines Automatikwagens, um von dort aus das Fahrzeug zu steuern. Wenn er mit dem Müllgreifer um die Lehne des Vordersitzes griff, konnte er das Steuer fassen und mit dem langen Stockschirm ließen sich Gaspedal und Bremse bedienen. Den Automatikhebel auf der Mittelkonsole erreichte er ohne Probleme. So setzte er das Fahrzeug in Gang und fuhr etwas unsicher langsam los. Die überholenden Fahrer blickten sich überrascht um nach dem Auto ohne Fahrer mit dem scheinbar entspannten Gast im Font. Heute im Zeitalter der Digitalisierung war ja alles möglich. So war niemand wirklich beunruhigt. Die Verwicklungen am Arbeitsplatz übergehe ich. Es war zu absurd.

    Als Hugo nach Hause kam, teilte ihm seine Frau mit, sie habe schon für morgen früh einen Termin beim Hausarzt gemacht.

    „Warum?“, rief Hugo fröhlich, „Wir sind doch alle gesund!“

    „Vorsorge!“, antwortete seine Frau ernst, „Das ist dringend notwendig.“

    Wenn es so dringend war, konnte Hugo nichts dagegen einwenden. Dem Hausarzt berichtete die Ehefrau die Verhaltensauffälligkeiten Hugos.

    Nach einigem Nachdenken sagte Hausarzt: „Es ist ein komplizierter Fall. Als Erstes schlage ich eine Kernspintomographie des Kopfes vor.“ Nach einigem Telefonieren hatte er einen Termin schon für den nächsten Tag organisiert.

    „Warum die Hektik?,“ fragte Hugo verunsichert.

    „Es ist dringend notwendig,“ antwortete seine Frau ernst.

    Wenn es so dringend war, konnte Hugo nichts dagegen einwenden. Hugo lauschte intensiv dem Klopfen des Kernspintomographen, das ihn an den Besuch in einem Bergwerk erinnerte. Er gewann jedoch keine neuen Erkenntnisse. Der Radiologe drückte Ihnen eine CD in die Hand und einen fast unleserlich beschrifteten Zettel.

    „Gehen sie damit zu Hausarzt und besprechen sie das weitere Vorgehen.“ Er schob sie zur Tür hinaus und schloss diese rasch.

    „Hugo hat die sogenannte Politikerkrankheit, die eigentümlicherweise bevorzugt Politiker befällt,“ klärte der Hausarzt das Ehepaar auf, nachdem er sich die Bilder der CD im Computer angesehen hatte.

    „Und was bedeutet das? Hugo ist doch kein Politiker.“

    „Ein großer Wurm frisst sich durch das Gehirn.“ Er drehte den Bildschirm des Computers ein wenig, so dass sie auf den Bildern eine wurmförmige Struktur sehen konnten, die das Gehirn durchzog. „Dies erklärt das auffällige Verhalten. Ich wollte es zuerst nicht glauben, da typische Symptome, wie Lügen und intrigantes Verhalten fehlen. Die Bildgebung ist jedoch eindeutig.“

    „Kann man dagegen etwas machen?“

    „Es gibt eine medikamentöse Behandlung, die jedoch nur eine langsame Besserung ermöglicht, da der absterbende Wurm weiter Symptome machen kann. Alternativ ist eine neurochirurgische Entfernung möglich, die zwar rasch wirkt, aber dafür muss man den Kopf aufbohren.“

    „Wir überlegen uns das,“ sagte Hugo schnell, der sich nicht wirklich krank fühlte und das mit dem Wurm nicht glauben wollte. Er zog  seine Frau am Arm aus dem Arztzimmer und ließ sich schweigend von ihr nach Hause fahren.

    Dort setzte er sich in sein Arbeitszimmer und dachte intensiv nach. Später habe ich gerüchteweise gehört, das er sich weder medikamentös noch neurochirurgisch behandeln ließ. Der Hinweis des Hausarztes auf das Lügen und Intrigieren hatte ihm gefallen. Er entschloss sich, in die Politik zu gehen und soll heute Staatssekretär in dem kürzlich geschaffenen Heimatministerium sein.

    Copyright Dr. Walter-Uwe Weitbrecht

  • Ärzteschaft

    (6.5.2018)

     

    Den Ärzten in kapitalistischen Gesellschaften
    wird immer wieder vorgeworfen
    den Profit im Sinn zu haben
    Menschen und ihre Nöte
    als Waren zu betrachten
    und zu Handlangern großer Konzerne
    verkommen zu sein 

    Die Frage wird dabei selten gestellt
    wieso gerade diese Berufsgruppe
    gegen die Grundzüge des Systems
    vorgehen soll

    ֎֎֎

  • Beitrag zum BDSÄ-Kongress in Wismar 2018

    Auszug aus dem Buch von Jürgen Wacker „Johannas Schwester – Djamila auf den Spuren von Jeanne d´Arc“
    Kapitel
    3
    Hinter dem Zaun um das Asylbewerberheim befand sich eine
    Bachniederung, die voller Abfall war. Djamila und Isabelle mussten
    sich durch einen Berg von umgestürzten Einkaufswagen,
    Gestängen von Wäschtrocknern, Fahrradrädern, blauen Säcken,
    Matratzen und vielen anderen Abfallgegenständen, die
    zwischen den verwilderten Büschen und Bäumen herumlagen,
    kämpfen. Als sie die Böschung zu dem ca. 2,50 Meter hohen,
    festen Drahtzaun erklommen, erkannten sie in der Morgendämmerung
    die einzelnen Häuser des Asylbewerberheimes.
    Die feste, unüberwindlich wirkende Einzäunung wurde an ihrer
    Oberkante von zwei straff gespannten Stacheldrähten begrenzt.
    Zu diesem Zeitpunkt waren noch keine Sozialarbeiter oder andere
    Mitarbeiter der Einrichtung zu sehen. Isabelle wusste, dass
    die offizielle Besuchszeit erst um acht Uhr begann und bis 22
    Uhr dauerte.
    Djamila sah drei einstöckige, endlos lang wirkende Häuser,
    deren Fenster alle geschlossen waren. Die Häuser waren weiß
    angestrichen und standen auf einem etwa 50 Zentimeter hohen,
    braun gestrichenen Sockel. Die Fensterrahmen waren
    ebenfalls weiß gestrichen und vor den meisten Fenstern waren
    die weißen Vorhänge zugezogen. Zwischen den einzelnen
    Häusern hingen zahlreiche elektrische Kabel, die Djamila an das
    Kabelgewirr zwischen den Häusern in der alten Innenstadt von
    Ouagadougou erinnerten. Der Rasen zwischen den einzelnen
    Häusern war ungepflegt. Auch zwischen den Häusern sah Djamila
    zahlreiche Einkaufswagen, die vermutlich zu einem nahe
    gelegenen Laden einer Discounterkette gehörten. An den Wäscheleinen
    zwischen den Häusern hingen auffallend farbige,
    exotisch wirkende Kleidungsstücke, die Djamila ebenfalls an
    ihre burkinische Heimat erinnerten. Sie glaubte sogar an einer
    Wäscheleine ein schwarzgelbes Kleid zu erkennen, das sie
    selbst einmal in Dori und Bonfara getragen hatte. Jetzt trug sie
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    eine verwaschene Jeans und ein T-Shirt des Catering-Services
    von Isabelle mit dem Logo von Heidelberg. Einen Moment lang
    überlegte Djamila über den Zaun zu klettern, um das gelbschwarze
    Kleid von der Leine zu nehmen und anzuziehen.
    Plötzlich pfiff Isabelle ganz laut. Kurze Zeit später öffente sich
    die Tür eines seitlich der Häuser abgestellten, braun gestrichenen
    Wagens, der Djamila an die Kerwewagen in Edingen erinnerte.
    Eine schwarze Frau huschte gebückt zu einer Stelle des
    Zaunes, an der die Frau offensichtlich das Gelände des Asylbewerberheimes
    verlassen konnte. Als sie bei Isabelle und Djamila
    angekommen war, konnte Djamila erkennen, das sie das gleiche
    T-Shirt des Heidelberger Catering-Services trug.
    „Das ist Salome. Sie ist hier, weil sie in ihrer Heimat in Nigeria
    wegen ihres christlichen Glaubens verfolgt wurde. Sie wurde im
    Gefängnis in Nigeria gefoltert, die Wärter brachen ihre Beckenknochen
    und sie musste mit ansehen, wie ihr Mann von Muslimen
    grausam getötet wurde. Im neuen Testament wird Salome
    als erste Jüngerin Jesu bezeichnet, die bei seiner Kreuzigung auf
    der Hinrichtungsstätte Golgatha dabei war. Wörtlich übersetzt
    heißt Salome: die Friedliche. Im Markus-Evangelium (Kapitel 15,
    Vers 40) heißt es unter ,Kreuzigung und Tod‘: Und es waren
    auch Frauen da, die von ferne zuschauten, unter welchen war
    Maria Magdalena, Maria und Salome, die ihm nachgefolgt waren,
    da er in Galiläa war, und ihm gedient hatten. Außerdem war
    Salome nach dem Evangelium von Markus (Kapitel 16) Zeugin
    der Auferstehung: Und da der Sabbat vergangen war, kauften
    Maria Magdalena und Salome Spezerei, auf dass sie kämen und
    salbten ihn. Und sie sahen auf und wurden gewahr, dass der
    Stein abgewälzt war. Sie fanden einen Jüngling in einem weißen
    Gewand, der sprach: ,Ihr suchet Jesus von Nazareth, den Gekreuzigten.
    Er ist auferstanden, er ist nicht hier.’ (Markus 16).
    Somit war Salome eine der ersten Adressatinnen der Auferstehungsbotschaft
    unseres Herrn Jesus Christus.“
    Isabelle stellte Djamila ihre Freundin mit diesen pathetischen
    Worten aus dem Neuen Testament vor. Anschließend umarmten
    sich beide herzlich und Salome schenkte Djamila ihr gewinnendes
    Lächeln. Sie mussten langsam gehen, weil Salome
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    aufgrund ihrer im nigerianischen Gefängnis erlittenen Beckenbrüche
    hinkte. Hinter einem großen Gebüsch hatten sie ein
    Fahrrad für Salome versteckt. Die Sonne war über den Bergen
    des Odenwaldes und den Hügeln des Kraichgaues aufgegangen
    und Salome begann zu beten und einen Gospelsong zu singen.
    Jetzt erst nahm Djamila das fein geschnittene und freundliche
    Gesicht von Salome wahr.
    Isabelle bat Salome weitere Gospels und Gebete aus dem
    Gefängnis in Nigeria vorzutragen. Ein Missionar hatte Salome
    gelehrt Texte und Gebete auswendig zu lernen, als Trost für die
    Stunden der Verfolgung.
    Salome stimmte den Gospelsong Amazing Grace an.
    Amazing grace, how sweet the sound,
    That saved a wretch like me!
    I once was lost, but now I’m found,
    Was blind, but now I see.
    ‘Twas grace that taught my heart to fear,
    And grace my fears relieved;
    How precious did that grace appear,
    The hour I first believed!
    Through many dangers, toils and snares,
    I have already come;
    ‘Tis grace has brought me safe thus far,
    And grace will lead me home.
    The Lord has promised good to me,
    His word my hope secures;
    He will my shield and portion be,
    As long as life endures.
    Djamila war von der Intensität des Gesanges von Salome
    beeindruckt. Deren Augen waren zur aufgehenden Sonne gerichtet
    und sie schien nichts außer dem Sonnenaufgang wahrzunehmen.
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    Zu dritt fuhren sie auf einem Feldweg am Rande des Waldes
    eines der Bergzüge, die den Übergang zwischen Kraichgau und
    Kleinem Odenwald bildeten, zur Zentrale des Catering-Services.
    Dort angekommen stellte Isabelle Djamila und Salome dem
    verantwortlichen Mitarbeiter kurz vor.
    „Das trifft sich gut, dass wir heute zwei weitere Mitarbeiter
    haben, denn eine unserer Mitarbeiterinnen ist nicht erschienen
    und wir haben heute einen großen Event im Schlosshof des Heidelberger
    Schlosses zu organisieren.“, antwortete der Mitarbeiter
    des Catering-Services.
    Sie waren acht Frauen aus verschiedenen Ländern in dem
    Kleinbus des Unternehmens. Isabelle forderte Salome und Djamila
    auf, sich neben sie in die letzte Sitzreihe zu setzen. Sie hatte
    immer noch Sorge in eine Polizeikontrolle zu geraten, falls Djamila
    immer noch gesucht wurde. Wenn sie angehalten würden,
    könnte sich Djamila hinten leichter vor den Blicken der Polizisten
    verbergen. Sie selbst fühlte sich auf der letzten Sitzbank
    auch sicherer.
    Djamila gewann den Eindruck, dass Isabelle von allen anderen
    Frauen anerkannt und akzeptiert war, obwohl sie die einzige
    schwarze Frau war, die bei dem Catering-Service fest angestellt
    war. Isabelle erklärte Djamila auf Französisch, dass die
    anderen Frauen aus Russland und dem Balkan stammten und
    weder Französisch noch Englisch verstünden, und selbst in der
    deutschen Sprache sei es schwer, sich mit ihnen zu unterhalten.
    Sie fuhren von Pfaffengrund über eine Brücke über die Eisenbahn
    zu einer großen Kreuzung. Djamila verfolgte alles sehr
    aufmerksam, ständig auf der Hut vor einer Polizeistreife. Die
    Kreuzung kam ihr bekannt vor, wie im Traum erkannte sie die
    Bergheimer Straße, die zum Bismarckplatz führte und in deren
    Nähe die Kathedrale, ihr Gymnasium, stand. Bevor ihre Adoptiveltern
    entschieden, sie in das Internat der Bergstraßenschule
    in Heppenheim zu geben, von wo sie geflüchtet war, war sie hier
    zur Schule gegangen. Ihr kamen die Buben auf dem Bismarckplatz
    in den Sinn, die sie wegen ihrer Hautfarbe gehänselt, und
    die Klassenkameraden, die sie wegen ihres Kurpfälzerdialektes
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    ausgelacht hatten. Djamila war als Flüchtling in ihre Lieblingsstadt
    Heidelberg zurückgekehrt.
    Der Kleinbus des Catering-Services bog an der Kreuzung am
    Bismarckplatz nicht zur Kathedrale sondern zum Gaisbergtunnel
    ab. Der Kleinbus bog hinter dem Gaisbergtunnel bergauf
    nach rechts zum Heidelberger Schloss ab. Aufgrund einer Sondererlaubnis
    durfte er direkt in den Schlosshof fahren, um Tische,
    Kochgeräte und das Personal dort abzuladen.
    Der Fahrer des Kleinbusses forderte die Frauen auf, die
    Kochgeräte zwischen dem Brunnen und dem dahinterliegenden
    Gebäude abzustellen. Salome und Djamila führten die Anweisungen
    gemeinsam mit den anderen aus und in kurzer Zeit
    waren die Wärmepfannen und Schüsseln für den Empfang des
    Universitäts-Institutes aufgestellt.
    Der Inhaber des Catering-Services wies seine Mitarbeiterinnen
    auf ihre jeweiligen Aufgaben hin. Isabelle war wie gewohnt
    für das Büfett zuständig. Sie sollte das Essen immer wieder
    nachlegen, sodass Schüsseln und Wärmebehälter immer gut
    gefüllt waren. Auch Eis sollte immer ausreichend vorhanden
    sein. Djamila und Salome sollten die Getränke bereitstellen und
    Sekt- und Weingläser immer wieder nachfüllen.
    Die Gäste des wissenschaftlichen Meetings kamen aus der
    ganzen Welt. Die Damen und Herren trugen offizielle Kongresskleidung,
    die Herren Krawatten und die Damen kurze, schwarze
    Kleider.
    Djamila hatte insgeheim gehofft, dass einer der schwarzen
    Kongressteilnehmer sie ansprechen und sie in seine Obhut
    nehmen würde. Stattdessen versuchte ein deutscher Student
    mit Djamila zu flirten, in dem er ihr die Geschichte der Zerstörung
    des Heidelberger Schlosses im Jahre 1689 erzählte.
    „Ist es das erste Mal, dass du auf dem Heidelberger Schloss
    bist?“, fragte der Student in Burschenschaftsuniform Djamila.
    „Nein, ich habe hier das Gymnasium besucht und einen Klassenausflug
    zum Schloss gemacht.“, antwortete Djamila selbstbewusst.
    Der Student wandte sich wieder anderen zu, war
    aber wohl aufgrund seines Auftretens und seiner Burschenschaftsuniform
    nicht der geeignete Gesprächspartner für die
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    Kongressteilnehmer. Eine ältere Dame hatte das Gespräch gehört
    und kam auf Djamila zu. „Darf ich dir die Geschichte der
    Frau erzählen, die unter der Zerstörung Heidelbergs durch die
    Franzosen am meisten gelitten hat? Kennst du Liselotte von
    der Pfalz?“, fragte die freundliche ältere Dame weiter. Djamila
    schüttelte den Kopf und die ältere Dame begann zu erzählen:
    „Liselotte von der Pfalz, die spätere Herzogin von Orléans,
    wurde am 27. Mai 1652 als Tochter des Kurfürsten Karl Ludwig
    von der Pfalz und seiner Frau Charlotte von Hessen als Elisabeth
    Charlotte in Heidelberg geboren. Kurz nach ihrer Geburt zerstritten
    sich ihre Eltern, aber Liselotte wohnte zunächst weiter
    in Heidelberg. Im Alter von sieben Jahren kam Liselotte zu ihrer
    Tante Sophie, Herzogin von Braunschweig-Lüneburg. Dort
    erhielt sie eine fundierte Bildung und lernte die Weltoffenheit
    und Toleranz ihrer Tante zu schätzen. Ihr Vater holte sie nach
    fünf Jahren wieder zurück nach Heidelberg, um sie nach seinen
    Vorstellungen zu erziehen. Trotz der strengen Erziehung durch
    den Vater berichtete Liselotte später von einer unbeschwerten
    Jugend zusammen mit ihrem Bruder Karl und ihren Halbgeschwistern.
    Mit 19 Jahren verheiratete ihr Vater Karl Ludwig sie
    mit dem Herzog von Orléans Philip I., dem Bruder von Ludwig
    XIV., dem Sonnenkönig von Frankreich. Die Vermählung mit
    dem verwitweten Herzog von Orléans wurde durch eine Pariser
    Tante vermittelt und war das Ergebnis politischer Kalkulationen
    beider Seiten. Die französische Seite versprach sich von dieser
    Eheschließung mögliche Erbaussichten auf die Kurpfalz, denn
    Ludwig XIV. wollte Frankreich nach Osten erweitern. Liselotte
    schrieb darüber in einem ihrer zahlreichen Briefe: ,Aber was
    will man tun? Wo die Raison will, dass eine Sache sein muss,
    muss man nur schweigen und nichts mehr davon sagen.‘ Infolgedessen
    musste Liselotte vom Calvinismus zum Katholizismus
    übertreten, was ihr nicht leicht fiel. Sie ließ sich aber nicht vom
    Lesen der Bibel abbringen und hielt am Prädestinationsglauben
    der Calvinisten fest. Weiterhin vertrat sie offen ihre Kritik am
    päpstlichen Primat und am Heiligenkult der katholischen Kirche.
    Ihr Mann war und blieb ihr fremd! Sie hasste die Intrigen
    am Hof und besonders die des Ministers ihres Mannes, der zum
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    maître de plaisir, zum Spieler und Trinker verkommen war. Als
    1685 ihr Bruder Karl, der letzte Spross aus dem protestantischen
    Haus Pfalz-Simmern kinderlos starb, sah Ludwig XIV. die
    Gelegenheit gekommen, für seine Schwägerin Besitzansprüche
    geltend zu machen. Es folgte der Pfälzisch-Orléanische Erbfolgekrieg
    in dessen Verlauf die Städte und Dörfer der Kurpfalz
    von den französischen Truppen zerstört wurden. Im Jahre 1689
    wurden von den Truppen Ludwig XIV. Mannheim und Heidelberg
    zerstört. In ihren Briefen berichtete Liselotte, wie die Zerstörung
    ihrer Heimat selbst im fernen Paris und Orléans ihr das
    Herz brach: ,Ich kann mich noch nicht getrösten über was in der
    armen Pfalz vorgegangen; darf nicht danach denken, sonsten
    bin ich den ganzen Tag traurig.‘ An ihre Tante Sophie schrieb
    sie: ,So kann ich doch nicht lassen zu bedauern und zu beweinen,
    dass ich sozusagen meines Vaterlandes Untergang bin.‘
    Die Franzosen zogen ab und die Heidelberger Bürger konnten
    einige der Gebäude dieses Schlosses und der Stadt vor den
    Flammen retten. Liselotte hatte ihr Heidelberg nie wieder gesehen
    und starb einsam und verlassen 1722 in Saint-Cloud bei
    Paris.“
    Djamila würde ihrer Heimat so etwas nie antun, beschloss
    sie für sich, sie würde für ihre Heimat immer eintreten oder
    sterben. Sie hatte in der Schule gelernt: ‚La patrie òu la mort –
    nous vaincrons!’
    „Da tust du Liselotte aber Unrecht! Sie heiratete aus Staatsräson
    einen Mann, den sie weder kannte noch liebte, lebte an
    einem Königshof, den sie verabscheute und verließ ihre Heimat
    für immer. Alles nur aus Staatsräson, weil ihr Vater durch ihre
    Heirat mit dem französischen Herzog Frieden für seine Kurpfalz
    erreichen wollte. Liselotte war eine intelligente, selbstbewusste
    Frau, musste aber früh erkennen, dass sie zur Marionette in
    einem Drama wurden, dessen Ausgang sie nicht beeinflussen
    konnte. Ihre Wut und ihre Wünsche beschrieb sie in unzähligen
    Briefen an ihre Freunde und Verwandten in Deutschland. Du
    musst diese Briefe lesen.“
    Die ältere Dame verabschiedete sich höflich von Djamila und
    wünschte ihr alles Gute.
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    Djamila hatte in dem Gymnasium, das sie als Kathedrale der
    Bildung in Erinnerung behielt, Latein vor der englischen Sprache
    gelernt, mit dem Erfolg, dass Englisch für sie die Sprache
    der Emporkömmlinge und Wichtigtuer war. Als sich ein afrikanischer
    Wissenschaftler mit der Frage „Can I have a Whiskey“ an
    sie wandte, antwortete Djamila: „Nous avons seulement l’eau
    minérale, pas de l’eau de Vichy!“ Der distinguierte afrikanische
    Wissenschaftler wandte sich prompt einer Kollegin des Party-
    Services zu, die aus Weißrussland stammte, die ihm anstelle von
    Whiskey Wodka einschenkte. Offensichtlich war es dem Präsidenten
    des Kongresses wichtig, die afrikanischen Gäste allen
    deutschen Ehrengästen vorzustellen. Ständig war er bemüht,
    irgendeinen schwarzen Wissenschaftler den gelangweilt herumstehenden
    Ehrengästen vorzustellen. Die Gäste aus Frankreich,
    England und den USA schienen lediglich Zaungäste zu
    sein.
    Plötzlich ergriff der Kongresspräsident das Wort, in dem er
    ein drahtloses Mikrofon in die Hand nahm:
    „Meine sehr geehrten Damen und Herren,
    liebe Referenten unserer Tagung, werte Ehrengäste,
    das Schwerpunktthema unserer internationalen Tagung lautet:
    Ursachen und Folgen von Global Warming. Wie die Mehrzahl
    der Referenten ausführte, müssen wir feststellen, dass von
    1906 bis 2005 die jährliche Durchschnittstemperatur unserer
    Erde ständig angestiegen ist. So waren die Oberflächentemperaturen
    im Jahr 1998 ungewöhnlich warm, weil die globalen
    Temperaturen durch die El Niño-Southern Oscillation (ENSO)
    mehr als wir bisher vermuteten, beeinflusst werden. Wir hatten
    im vergangenen Jahrhundert die stärkste El Niño-Strömung
    in diesem Jahr. Globale Temperaturen unterliegen kurzfristigen
    Schwankungen, die langfristige Trends vorübergehend
    überlagern und maskieren können. Die relative Stabilität der
    Oberflächentemperatur von 2002 bis 2009, die eine globale Erwärmungspause
    darstellt, ist mit diesem Phänomen zu erklären.
    Aber wir dürfen unsere Augen nicht davor verschließen,
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    dass die Erderwärmung ständig zunimmt, und wir Menschen,
    besonders diejenigen in den reichen Ländern, für diese Entwicklung
    mitverantwortlich sind. Es ist unstrittig, dass von den
    Menschen der nördlichen Hemisphäre mehr Treibhausgase als
    von denen der südlichen Hemisphäre emittiert werden. Als Folgen
    der weiteren Erwärmung der Erde werden die Eiskappen
    an den beiden Polen schmelzen, ebenso die Gletscher in den
    Hochgebirgen und auf Grönland. Als Folge wird der Spiegel der
    Weltmeere ansteigen, und häufige Überschwemmungen und
    Fluten bedrohen die Küstenstaaten dieser Erde. Die Anzahl der
    Unwetter und extremen Wetterverhältnisse wird zunehmen
    und Dürren und Wassermangel werden zukünftige Konflikte
    mit sich bringen.
    Aber noch haben wir Zeit, aus den wissenschaftlichen Erkenntnissen
    zu lernen, und den schädlichen Einfluss des Menschen
    auf das Klima zu reduzieren. Deshalb haben wir uns hier
    in Heidelberg getroffen, um die nächste Klimakonferenz wissenschaftlich
    zu begleiten.“
    Die Zuhörer dankten dem Kongresspräsidenten für dessen
    aufmunternde Rede und den gastlichen Empfang im Schlosshof
    mit lautem und lang anhaltendem Beifall.
    Nach der Rede und dem Imbiss im Keller des großen Fasses,
    versammelten sich die Gäste der Tagung erneut im Schlosshof,
    um Zeuge eines Feuerwerkes zu werden. Die Startrampe der
    Raketen und Feuerwerkskörper war etwa 30 Meter vor dem
    Eingang zum Apothekermuseum aufgestellt. Es war dunkel
    und Djamila sah nur einige wenige Sterne am schwarzen Himmel
    über dem Schlosshof. Djamila sah die anwesende Kongressgesellschaft
    nur schemenhaft, da vor Beginn des Feuerwerks
    sämtliche Laternen der Innenbeleuchtung des Schlosshofes
    gelöscht worden waren. Plötzlich rauschte ein Feuerwerkskörper
    in den schwarzen Himmel, glühte auf und produzierte einen
    lauten Knall. Danach folgten rote, gelbe und blaue Funken
    streuende Raketen. Djamila erlebte zum ersten Mal ein Feuerwerk
    und erschrak bei jedem Zischen und bei jedem Knall. Auf
    63
    einmal strahlte der Eingang vor dem Apothekermuseum in hellem,
    loderndem Licht. Die alte Krüppelkiefer vor dem Eingang
    stand in Flammen, offensichtlich von den Funken eines Feuerwerkskörpers
    in Brand gesetzt. Isabelle erschien es wie ein Zeichen
    Gottes. Sie rannte zu Djamila. Es ist fast wie in der Bibel,
    als plötzlich der Busch brannte, als gerade Abraham Gott seinen
    erstgeborenen Sohn Isaak opfern wollte und Gott Abraham einen
    Hammel zeigte, den er an Stelle von Isaak opfern konnte.
    „Müssen erst die Bäume brennen, bis wir begreifen, was Global
    Warming für uns bedeutet und wie es uns bedroht.“, philosophierte
    der Kongresspräsident.
    Die Mitarbeiterinnen des Party-Services packten schnell ihre
    Utensilien zusammen und verließen den brennenden Schlosshof,
    während Isabelle Djamila und Salome an die Hand nahm,
    um in den Park des Schlosses auf die Scheffelterrasse zu flüchten.
    Djamila war außer Atem und stützte sich auf Isabelle und Salome.
    Sie setzten sich auf eine Bank hinter der Ballustrade der
    Scheffelterrasse, außer Atem und mit Schweiß auf der Stirn. Sie
    sahen von fern, wie allmählich die flackernde Helligkeit im gegenüberliegenden
    Schlosshof erlosch. Es wurde ruhig. Sie nahmen
    die Stille des ehemaligen Hortus palatinus eher wahr, als
    sie die Geräusche der unter ihnen liegenden Altstadt von Heidelberg
    hörten. Djamila und Isabelle sahen auf der dem Neckar
    gegenüberliegenden Seite den Heiligenberg mit der Bismarcksäule
    und dem Aussichtsturm vor dem ehemaligen Stephanskloster.
    Djamila hatte einen weiteren Tag auf ihrer Flucht von
    der Bergstraßenschule unbemerkt überlebt.
    Salome fror, zitterte und bat Isabelle ihr die Decke um ihre
    Schultern zu legen. Salome hatte bei der Vorbereitung des
    Essens im Keller des Schlosses, neben dem großen Weinfass,
    einen dunklen Kerker mit vergitterter, kleiner Fensteröffnung
    gesehen. Sie ließ vor Schreck den Stoß Teller fallen, den sie mit
    beiden Händen getragen hatte. Dieser Kerker im Heidelberger
    Schloss erinnerte sie an ihre schlimme Zeit, an die verdrängten
    Erlebnisse der Jahre im Gefängnis von Kano in Nigeria.
    Isabelle bemerkte das veränderte Verhalten ihrer Freundin
    64
    und sah die pure Angst in deren Augen. „Salome, erzähle was
    dich bedrückt, erleichtere deine Seele, was treibt dich um?“,
    sagte Isabelle zu Salome.
    „Wir waren im Sonntagsgottesdienst in unserer kleinen Kirchengemeinde
    in Kano, als die vermummten Gotteskrieger mit
    Kalaschnikows um sich schossen, die Kirchentüre eintraten. Sie
    erschossen zuerst unseren Priester, dann zerstörten sie den
    Altar und zündeten die kleine Kirche an. Sie schossen wahllos
    in die Menge, wir rannten um unser Leben und nahmen nicht
    wahr, was sie sonst noch alles zerstörten.
    Mein Mann nahm unsere Tochter auf die Schulter und ich
    hielt unseren kleinen Sohn an meine Brust gepresst. Draußen
    vor der Kirchentür erwarteten uns schon andere Gotteskrieger,
    die sofort das Feuer auf uns eröffneten, als wir das Kirchenschiff
    verließen. Mein Mann und ich schlugen uns mit den
    Kindern durch und erreichten einen Buchladen, dessen Besitzer
    wir gut kannten. Wir versteckten uns in dessen Lagerraum, bis
    wir erneut Schüsse und laute Schreie hörten.
    Irgendjemand muss uns verraten haben. Die Eindringlinge
    zerstörten mit ihren Gewehrkolben die Eingangstür des Buchladens,
    zündeten die Bücherregale an und hielten dem Buchhändler
    ein Messer an die Kehle, als sie fragten, wo die Flüchtlinge
    aus der brennenden Kirche seien. Der Buchhändler antwortete
    ihnen nicht und sie durchschnitten ihm die Kehle. Sie traten die
    Tür zum Lagerraum ein und entdeckten uns, als wir hinter einem
    großen Stapel Bücher knieten und zu Gott beteten.
    Meinen Mann, unseren Vater, enthaupteten sie vor unseren
    Augen, und mich und die Kinder zogen sie an Händen und Haaren
    aus dem brennenden Laden zum Marktplatz. Dort hielten
    andere Gotteskrieger mit ihren Kalaschnikows eine Gruppe
    schreiender Kinder und weinender Frauen gefangen. Überall
    war der Boden mit Blut verschmiert und überall lagen leblose
    Leiber herum.“
    Salome stockte und weinte. Sie sahen in die Dunkelheit,
    die sich über dem Heiligenberg ausbreitete. Das Leuchten des
    brennenden Baumes im Schlosshof war erloschen.
    65
    „Wie ging es mit euch weiter?“, wollte Djamila von Salome
    wissen.
    „Wir harrten in der sengenden Sonne ohne Wasser aus. Die
    Kinder waren erschöpft und dem Schreien aus ihren Angst erfüllten
    Gesichtern war ein trauriges Wimmern und Weinen gefolgt.
    Auch die Gotteskrieger mit ihren Turbanen schienen zu
    ermüden. Sie tranken vor unserer Augen Tee und musterten
    mit lüsternen und geilen Blicken besonders die jüngeren der gefangenen
    Frauen, und ganz besonders diejenigen ohne Kinder.
    Viele von diesen jungen hübschen Frauen bemerkten die geilen
    Blicke der Gotteskrieger und versuchten sich abzuwenden und
    ihre Gesichter zu verbergen. Am späten Nachmittag trieb eine
    Gruppe Gotteskrieger, mit Kalaschnikows im Anschlag, unseren
    Bürgermeister vor sich auf den Marktplatz. Sie gaben dem
    Bürgermeister ein Blatt Papier, das dieser vorlesen musste:
    ,Im Namen Allahs fordern wir alle Anwesenden auf, sofort
    dem Christentum abzuschwören und zum Islam überzutreten.
    Wer dieser Aufforderung nicht nachkommt, muss aufgrund
    seines Widerstands gegen den Gottesstaat in das Gefängnis.
    Die Vernünftigen unter euch, die dem Christentum abschwören,
    können in Begleitung der Gotteskrieger in ihre Häuser und
    Wohnungen zurückkehren. Sie sind verpflichtet, die Gotteskrieger
    in ihrem Haus aufzunehmen. Die Häuser der Unvernünftigen,
    die weiter am Christentum festhalten, werden niedergebrannt!‘
    Der Bürgermeister las mit zitternder Stimme den schriftlichen
    Befehl der Gotteskrieger vor. Kaum hatte er geendet, trat
    ein Gotteskrieger hinter ihn und enthauptete ihn mit seinem
    Säbel vor aller Augen. Der Mörder erklärte sich selbst zum
    neuen Bürgermeister und befehligte ab sofort die Polizei der
    Stadt. Die Gotteskrieger nahmen die jungen Frauen, ohne deren
    Antworten abzuwarten, und zerrten diese in die Häuser, die
    dem Marktplatz am nächsten gelegen waren. Bald drangen die
    Schreie der Vergewaltigten aus den Häusern, unterbrochen von
    Schlägen und Schüssen.
    Wir, die wir auf dem Marktplatz alles mitansehen und mitanhören
    mussten, wurden von der eigenen Polizei in das be66
    rüchtigte Stadtgefängnis getrieben. Das Gefängnis lag auf einer
    kleinen Anhöhe und hatte das Aussehen eines Sklavenforts, wie
    wir sie von der Küste Ghanas in Elmina oder von der Insel Goree
    im Senegal kennen. Der Weg auf den Berg des Gefängnisses
    war beschwerlich und einige stürzten mehrmals vor Erschöpfung,
    Trauer und Angst. Keine versuchte zu fliehen, alle trotteten
    hintereinander her, wie eine Schafherde, die der Hirte zum
    Schlachthof trieb. Plötzlich sah ich in einem Haus auf dem Weg
    zum Gefängnis eine Tür offen stehen, durch die ich mit meinen
    Kindern fliehen wollte. Ich nahm meinen Sohn fest an die
    Hand, presste meine Tochter dicht an meine Brust und rannte
    zu der offen stehenden Tür. Aber ein Polizist bemerkte meinen
    Fluchtversuch und stellte sich mir in den Weg. Er nahm mir beide
    Kinder weg und schlug mit seinem Gewehrkolben auf mich
    ein. Als er von mir abließ, halfen mir zwei andere Frauen wieder
    aufzustehen. Sie legten meine Arme um ihre Schultern, denn
    ich konnte nicht mehr allein gehen. Als wir das Gefängnistor
    erreichten, wurden alle Frauen und Kinder in einen großen Hof
    getrieben, während mich der Wärter gleich in das dunkle Innere
    des Gefängnisses schleppte. Er fasste mich an den Schultern und
    zog mich hinter sich her. Die dunklen Gänge waren nur schwach
    beleuchtet und nur gelegentlich bemerkte ich schießschartenartige
    Öffnungen in den dicken Gefängnismauern, durch die
    die letzten, schwachen Strahlen der Abendsonne drangen. Es
    ging ständig bergab und plötzlich ließ mich der Wärter fallen.
    Er holte seinen Schlüsselbund hervor und öffnete eine dunkle,
    stinkende Gefängniszelle, in die kein Licht drang.“
    „Wie hast du denn das alles überleben können?’, fragte Djamila
    Salome mit ängstlicher Stimme.
    „Ich erinnerte mich an meinen Priester, der mir als junges
    Mädchen die Geschichte von Jeanne d’Arc erzählte. Die heilige
    Johanna wurde auch in ein Gefängnis gesteckt und am Ende gar
    auf einem Scheiterhaufen verbrannt. Dabei hielt sie sogar angesichts
    der Flammen an ihrem Glauben fest. Mir fiel auch die
    Geschichte von John Newton, dem Kapitän eines Sklavenschiffes,
    ein. Mit seinem Schiff geriet er am 10. Mai 1748 in schwere
    Seenot. Er rief Gott um Erbarmen an und wurde mit Gottes Hil67
    fe errettet. Er behandelte ab sofort seine Sklaven menschlicher,
    gab seinen Beruf auf, wurde Geistlicher und bekämpfte gemeinsam
    mit William Wilberforce die Sklaverei. In den Tagen nach
    seiner Errettung schrieb John Newton das Lied Amazing Grace.“
    „Aber wie kamst du denn aus dem Gefängnis frei?“, wollte
    Djamila wissen.
    „Nachdem ich wochenlang kein Licht gesehen hatte, im eigenen
    Kot lag, weil ich nicht aufstehen konnte, und ständig
    Hunger und Durst hatte, weil ich nur wenig übel schmeckendes
    Wasser und verschimmeltes Brot vorgesetzt bekam, hörte ich
    hinter meiner Zellentür auf dem Gang fremdartige Stimmen
    und ich begann zu singen:
    Große Gnade, wie süß der Klang.
    Die einen armen Sünder wie mich errettet!
    Ich war einst verloren, aber nun bin ich gefunden,
    War blind, aber nun sehe ich.
    Die Tür der dunklen Gefängniszelle öffnete sich, ich war
    vom hereinfallenden Licht geblendet und sah erst allmählich
    einen schwarzen Priester und zwei weiße Männer, die weiße
    Polohemden mit dem Emblem von Ärzte ohne Grenzen trugen.
    Der nigerianische Gefängniswärter kauerte verstohlen im
    Hintergrund. Einer der beiden weißen Ärzte beugte sich zu mir
    herunter, untersuchte meinen Körper und teilte mir in gebrochenem
    Englisch mit, dass ich zur Behandlung meiner Hüftgelenksbrüche
    nach Deutschland ausgeflogen würde. Alles andere
    verging wie im Flug und ich war eine Woche später in einer
    Klinik in Süddeutschland zur Behandlung. Außerdem stellte ein
    Gynäkologe fest, dass ich einen Tumor in der Gebärmutter hatte,
    und dass dies die Ursache meiner starken Blutungen war, unter
    denen ich litt und die mich immer mehr geschwächt hatten.
    Die deutschen Ärzte haben mich an den Hüften operiert. Ich
    kann wieder, zwar mit Schmerzen, gehen. Danach wurde ich an
    der Gebärmutter operiert, deshalb habe ich keine starken Blutungen
    mehr. Ich bin körperlich wieder einigermaßen gesund.
    Vor wenigen Wochen wurde ich als, wegen ihres Glaubens in Ni68
    geria, Verfolgte anerkannt und erhielt das Recht in Deutschland
    zu bleiben. Sicherlich wird mein Asylantrag auch anerkannt. Ich
    schlage mich allein mit der Arbeit in diesem Catering-Service
    und mit Auftritten bei Weihnachtsfeiern oder Geburtstagen
    durch. Dann singe ich gut gelaunten deutschen Gästen meine
    Gospelsongs vor und wenn sie es verdienen, singe ich zum
    Schluss als Dank Amazing Grace!
    Als ich heute mit den Tellern in den Händen an dem Verließ
    neben dem Fasskeller des Schlosses vorbeikam, fiel mir die ganze,
    verdrängte Geschichte um das Gefängnis in Nigeria wieder
    ein.
    Ich kann nicht vergessen, was die Gotteskrieger mir und uns
    angetan haben. Sie haben mir meine Kinder und meinen Mann
    genommen, aber meinen Glauben habe ich behalten.“

    Copyright: Der Abdruck dieses Kapitel aus dem Buch von Jürgen Wacker erfolgt mit ausdrücklicher Erlaubnis des Berliner Westkreuz-Verlags, Wir danken für die Genehmigung.

  • Beitrag zum BDSÄ-Kongress in Wismar 2018

    Spiritueller Materialismus

    oder Manipulationsversuch

    Ich erzählte im Bekanntenkreis, dass in einigen Monaten eine Knieoperation auf mich zukomme. Eine Freundin meinte sofort, dann solle ich darauf achten, dass die OP an keinem Steinbocktag stattfindet. ??? Ich war zu perplex, um irgendwas entgegnen, fragen oder sagen zu können. Im Kopf tauchten gleichzeitig Fragen auf und manchmal synchron zu einer Frage die Antwort auf eine andere. Was ist ein Steinbocktag? Wahrscheinlich der Tag, an dem der Mond im Steinbock steht. Warum nicht? Das Knie gehört zum Steinbock, wäre es nicht optimal, gerade dann die OP zu machen? Und da war es, das Unbehagen! Ich möchte den Rat weder befolgen noch in Opposition dazu gehen, das ist auch nicht viel besser. Ich kann mein Unbehagen nicht klar begründen, schliesslich bin ich doch eigentlich mit spirituellem Denken vertraut.

    Ich sprach dann auch mit ihr, konnte aber mein Unbehagen wieder nicht recht erklären. Ich möchte mein Schicksal demütig annehmen, mich freilassend bereit halten für die Hilfe der Engel. Sie meinte, man könne ja den Engeln helfen und ihnen nicht alle Arbeit überlassen. Allmählich dämmerte mir, was mein Unbehagen – vielleicht – verursachte. Es gibt zum Beispiel den Aussaatkalender, nichts aber auch gar nichts habe ich dagegen, den optimalen Aussaattag für bestimmte Samen auszuwählen. Schließlich ist klar, was erreicht werden soll: dass die Pflanze sich optimal entwickelt, und wir – Mensch, Elementarwesen, Engel, vielleicht alle gemeinsam – die dafür günstigsten Bedingungen schaffen.

    Und bei der Knie-OP? Die objektiv günstigste Zeit … Wer sagt, dass die gelungene OP das Ziel ist? Vielleicht ist anderes für meine „optimale Weiterentwicklung“ viel wichtiger? Ist es nicht auch egoistisch, nur an mich zu denken? Was ist mit all den anderen Menschen, die auch mit meiner OP beschäftigt sind? Außerdem bin ich ein Einzelner, kein Sonnenblumenkern, die sind alle – mehr oder weniger – doch gleich!

    Allenfalls könnte ich das I GING fragen nach der günstigsten Zeit. Aber die Frage nach dem Sinn der ganzen Kniegeschichte ist mir näher. Und das zu entdecken ist wohl unabhängig vom Datum der OP, oder? Wenn ich mich meditativ in die Situation versenke, spüre ich: Wunsch nach Gelassenheit – annehmen können – demütig empfangen möchten – achten auf die Zeichen, die Wegweiser sein können. Zusammengefasst: wachsen – sich entwickeln lassen. Das aktive Tun von außen durch die OP nicht noch durch  eigene Aktivitäten verstärken. Wachsen lassen, nicht machen!

    Auf keinen Fall möchte ich die geistige Welt manipulieren! Manipulation ist eine versteckte Form des Etwas-erzwingen-Wollen! Gerade frage ich mich, ob das (die Knie-OP nicht an einem Steinbocktag durchführen) nicht auch eine Form von Materialismus ist. Ich benutze geistige Mittel, geistige Erkenntnisse, um auf materieller Ebene etwas zu erreichen. Ist das nicht spiritueller Materialismus?

    Vielleicht stimmt das ja alles nicht, aber ich empfinde es so. Ich bin ein freier Mensch, versuche zumindest es zu sein, auf jeden Fall übernehme ich die Verantwortung für mein Tun. Ich habe nichts gegen Hilfe und Unterstützung, weder von meiner irdischen Umgebung noch von der geistigen Welt, aber es soll sich keiner verpflichtet fühlen, mir zu helfen!

    Copyright Dr. Helga Thomas

  • Ein Beitrag von Dr. Helga Thomas zum Thema „Der Roboter im Menschen- der Mensch im Roboter“  beim BDSÄ-Kongress in Wismar 2018

    Warum ich gegen das Visualisieren bin
    Oder: Spiritueller Machtmissbrauch

    Heute wurde mir ein Gedanke geschenkt, einfach so, ich weiß nicht, von wem, er kam einfach angeflogen, wie ein Frühlingsvogel im Morgendämmern.  Ich las im Neuen Testament bei Matthäus (im Zusammenhang mit der Versuchung): „Da entrückte ihn der Widersacher in die heilige Stadt und stellte ihn auf die Zinne des Tempels und sprach: Bist du der Sohn Gottes, so stürze dich in die Tiefe. Denn es heißt in der Schrift:“Seinen Engeln hat er dich anbefohlen, und sie werden dich auf ihren Händen tragen, so dass dein Fuß an keinen Stein stößt.“ Jesus sprach: Es heißt aber auch:“Du sollst die göttliche Macht, die dich führt, nicht deiner Willkür dienstbar machen.“

    Wie oft hätte ich diese Worte doch schon als Entgegnung gebrauchen können! Wieso sind sie mir nie eingefallen? Ich kenne den Text doch seit meiner Kindheit! Es geht z.B. um Parkplatzsuche, d.h. eben nicht Suche, der Parkplatz wird auf geistigem Wege einfach bestellt. Man steigt ins Auto und sagt seinemEngel, dass man da und da um die und die Zeit einen Parkplatz braucht. Der Fachausdruck dafür heisst: VISUALISIEREN! Man stellt sich möglichst konkret seinen Fahrweg vor bis zu dem Ort, wo einen dann ein leerer Parkplatz erwartet. Das Visualisieren kenne ich, aber nicht, weil ich mir einen Parkplatz bestellen will, sondern damit ich ja nicht vergesse, wohin ich jetzt fahren soll bzw will. Ich und mein Auto sind Gewohnheitstiere, wir fahren am liebsten den vertrauten, gewohnten Weg…. Aber leider führen nicht alle Wege nach Rom, bzw dorthin, wo ich erwartet werde.

    Mehrere Freunde, Bekannte, auch einige meiner Patienten schwören auf die Methode. Mir gefällt sie nicht (auch wenn ich gerne das Parkplatzsuchen vermeiden möchte), es ist mir zu manipulativ, zu egoistisch, ich empfinde es als spirituellen Machtmissbrauch!

    Ich entschloss mich, darüber zu schreiben (dann kann ich nächstes Mal, statt blöd und verstummt dazusitzen oder stammelnd nach Worten zu suchen, einfach mein kleines Essay überreichem). Da hatte ich ein Aha! Das wäre doch ein Text für Dietrich Weller, für  den diesjährigen BDSÄ-Kongress. Die Lesung, die er moderiert, trägt den Titel: „Der Mensch im Roboter, der Roboter im Menschen.“

    OK, das Thema betraf Roboter, nicht Schutzengel oder Heinzelmännchen und doch… Was wissen wir mit unserem ach so klaren, gut geschulten, naturwissenschaftlichen Verstand, welche Wesen in unseren Maschinen wirken!

    Doch zurück zur Parkplatzsuche. Mein Engel ist doch kein Roboter, der dazu da ist, meine Wünsche zu erfüllen? Er ist auch kein Befehlsempfänger, ja nicht einmal ein Untergebener oder Angestellter, der dafür bezahlt wird, dass er die von mir erteilten Aufträge erfüllt! Allenfalls ein guter Freund… Ja, ein guter Freund, das ist mein Engel, deshalb sage ich vielleicht – wenn es ganz wichtig ist, auch objektiv – bitte hilf mir, schnell einen Parkplatz zu finden ( es muss ja nicht unbedingt mein Engel sein, es kann auch ein genius loci sein oder sonst ein Elementarwesen von dem Ort). Ganz gleich, wer mir nun schlussendlich hilft, Höflichkeit und Dankbarkeit sind doch eigentlich nie fehl am Platz. Höchstens dann, wenn sie gespielt und heuchlerisch sind.

    Was anderes scheint mir viel wichtiger: Wenn werden wir zu einem Roboter? Das ist unbedingt das Thema, aber… ich merke, ich möchte es aufschieben, es wird zu viel. Nicht unbedingt umfangmässig, aber gefühlsmässig. Der Preis für das Roboter-Sein ist zu hoch: das Abspalten der eigenen Gefühle, sich selbst und

    die Umwelt belügen. Mir ist eine Geschichte eingefallen… vielleicht sprenge ich jetzt den Rahmen der Lesung und mache einen Kompromissvorschlag: wenn ich mehr Zeit zur Verfügung habe als acht Minuten, dann werde ich diese Geschichte erzählen. Es fällt mir auch leichter, etwas Grausames rasch zu berichten und nicht durch meine Worte, die ich aufschreibe noch zu fixieren. Es handelt sich um ein Ergebnis der frühkindlichen Erziehung auf dem Boden der Naziideologie.

    Es ist gut, das ich mich mit dem Bericht jetzt nicht aufgehalten habe, denn ich muss unbedingt eine Fortsetzung erzählen von einer meiner Parkplatzbestellenden Patientinnen. Ihr sind selbst Zweifel gekommen,sie ist jetzt nicht mehr so fraglos überzeugt von ihrer Methode. Und zwar kam das durch folgende Ereignisse:

    Als sie nach der Therapiesitzung zu ihrem (natürlich vorher bestellten) Parkplatz kam, hatte sie einen Strafzettel. In ihrer anmassenden selbstverständlichen von sich überzeugten Haltung war sie auf den (einzigen) freien Parkplatz gefahren, ohne das Hinweisschild zu beachten, dass für einen bestimmten Zeitraum die Dauer der Parkplatzbenutzung geändert war! Meine sanfte Nachfrage, ob ihr das nicht zu denken gäbe, verneinte sie, lachend und mit energischem Kopfschüttelm: Meine Unaufmerksamkeit hat doch nichts mit meinem Engel zu tun. Stimmt eigentlich, dachte ich und schwieg. Diesmal rief sie mich nach der Stunde weinend an, ob sie noch mal kommen könne, sie muss die Polizei anrufen und beim Handy ist der Akku leer. Ich war erschrocken. Sie hatte sich – wieder der einzige freie Parkplatz – unter einen Baum gestellt und bei der kurzfristig auftretenden Sturmböe war ein mehr als armdicker Ast auf ihr Autodach gefallen… Totalschaden, zumindest bei der Karosserie. Dieses Erlebnis verursachte eine Wende in der therapeutischen Arbeit… und während ich das jetzt schreibend erzähle, denke ich: Vielleicht hatte da ihr Engel seine Finger oder Flügel im Spiel gehabt!

     

    Copyright Dr. Helga Thomas

  • Beitrag zur Lesung über „Der Mensch im Roboter, der Roboter im Menschen“ beim BDSÄ-Kongress in Wismar 2018

    Waltrud Wamser-Krasznai: Der Roboter im Menschen – Zwei Fälle

     

    Computerassistierte Operation, der Fall M. 

    Robodoc ist bzw. war ein Gerät für die computergestützte Fräsung und Implantation von Hüftgelenksendoprothesen. Nach der Einführung des Geräts kam es zu einer höheren Komplikationsrate als bei der herkömmlichen Methode. Es entstanden häufiger bleibende Schäden am Glutäus maximus und medius sowie an den zugehörigen Nervenbahnen. Klagen auf Schmerzensgeld wurden abgewiesen (2006). Weitere sind noch anhängig. Meine damals 69 jährige Patientin, der die Klinik zu einer computerassistierten Operation geraten hatte, erlitt eine massive Schädigung des Musculus Glutäus medius. Zwar wurde sie schmerzfrei, behielt aber eine schwere Gangstörung mit rechtsseitigem Hinken. Auch ihre Klage wurde abgewiesen. Irgendwann verlor sie die Kraft und die Lust, weiter zu prozessieren. Ihr Gang ist schauderhaft, aber sie hält sich mit ihren jetzt 81 Jahren wacker, betätigt sich in vielen Vereinen und sieht einen mittelmäßigen Trost darin, wenigstens nicht an großen Schmerzen zu leiden.

    Spaziergang mit schweren Folgen, der Fall B.

    Ein sportliches junges Mädchen, Medizinstudentin, macht mit ihrem Freund einen verliebten nächtlichen Spaziergang über eine Wiese mit grasenden Pferden. Sie nähert sich einem Pferd von hinten, dieses erschrickt und tritt aus. Der Hinterhuf trifft sie am rechten Unterschenkel und sie erleidet eine komplizierte Fraktur. Drei Tage später stellt sich eine lebensbedrohliche Gasbrand-Infektion ein, die nur durch eine Oberschenkelamputation zu beherrschen ist. Die psychischen Folgen sind ebenso verheerend wie die körperlichen – ihr Freund verlässt sie, in der Familie herrscht Katastrophenstimmung, Kommilitonen, Bekannte und Unbekannte triefen vor Mitleid. Sie hat überlebt, steht das durch und nimmt ihr Leben mutig in die Hand. Wie viele Prothesen sie ertrug und noch erduldet, kann nicht einmal ich, die ich ihr die meisten davon verordnet habe, zusammenaddieren. Sie bewältigt ihr Studium, absolviert nach einer kurzen Ehe eine Facharztausbildung und versorgt bis zu ihrem 60. Lebensjahr eine Schar zufriedener Patienten. Dabei übertrifft sie die meisten ihrer Altersgenossen an Aktivität, reist in der ganzen Welt umher, tanzt,  engagiert und verliebt sich immer wieder aufs Neue. Aber  die Medaille hat ihre zwei Seiten. Fehlstatik, chronische Überlastung des inzwischen teilweise  ersetzten Kniegelenks, Lumbalgien, schmerzhafter Reizzustand des linken Iliosacralgelenks sind ebenso an der Tagesordnung wie Phantomschmerz, Stumpfbeschwerden, Wundscheuern und Ekzem. Ihre Weltsicht ist pessimistisch, mit Phasen, in denen sie zwar Fremden gegenüber all ihre Liebenswürdigkeit entfaltet, ihren Nächsten jedoch mit Ungeduld und Besserwisserei, Aggression und depressiven Verstimmungen begegnet. Bisweilen steigert sie sich in einen regelrechten Verfolgungswahn hinein, kurz, ihre Seele ist schwer verwundet. Das war auch durch Roboter, sprich bionische / myoelektrische Prothesen mit ihrem exorbitanten Preis und Wartungsaufwand  bedauerlicherweise nicht zu verhindern.

    Copyright Dr. Wamser-Krasznai

     

  •                                                FLOWER´S RHYMES

     

                                               

     

     

     

     

     

     

    Poet YI-SHENG* had a dream.
    Under the blooming tree of a scenting peach
    he acquainted the knowledge of a flower-to-flower speech.
    Amidst the camellias, daises and peonies,
    in his marvellous dream,  poet YI-SHENG listen in,
    the amazing flower’s  rhyme:
    “Here, we arrive,  thanks the gardener’s goodness
    we survive.
    He takes care of us, from a dawn to dusk.
    In sunrise his smile gives us the power
    his stroke in the twilight is like
    the good- night tale.”
    Suddenly awaken; embraced by gentle breeze,
    eavesdropped   poet YI- SHENG
    flower’s whisper again.
    In vain …. in vain.
    Desperate poet YI- SHENG
    reminds  flower- to- flower  speech,
    no more

    However, flower’ rhymes hang back in his core.
    Therefore, he declaims flourished verses
    subtle like the petals, delicate like blossoms.
    Unexpectedly, the thankful flowers,
    hug by gentle wind, bend towards a new friend,
    poet YI SHENG .

     

    Dr med. André Simon © Copyright

    Author’s note: Poet YI SHENG is a physician, too.

    * YI SHENG (Chinese expression for a medical doctor )

     

    Credits.  

    „Siesta” was photographed by Dr. Dietrich Weller, who has agreed to illustrate this story. The author is grateful for this permission. http://www.fotocommunity.de/user_photos/2099744

     

    Übersetzung von Dietrich Weller

    Der Dichter Yi-Sheng hatte einen Traum.
    Unter einem dufterfüllten Pfirsichbaum
    lernte er, wie Blüten zueinander sprechen.
    Inmitten von Kamelien, Gänseblümchen und Peonien
    in wunderschönem Traume hört Yi-Sheng geheim
    den wunderlichen Blumenreim:

    „Hier kommen wir! Dank Gärtner´s Güte
    bleiben wir in Blüte.
    Er sorgt für uns vom Morgen- bis zur Abendglut,
    im Sonnenlauf sein Lächeln schenkt uns Mut,
    sein Streicheln auch im Dämmerlicht
    wirkt als Gute-Nacht-Geschicht.“

    Plötzlich wach, umarmt von zartem Wind
    erlauscht Yi-Sheng, der Dichter,
    der Blumen Flüstern lind:
    Vergebens -…  vergebens.
    Verzweifelt weiß er
    der Blüten Sprache
    nicht – nicht mehr.

    Aber Blumenreime stecken tief in seiner Seele,
    so rezitiert er blühende Verse
    zart wie Blumenblätter, erlesen wie Blüten.
    Unerwartet beugen sich die Blumen voll von Dank
    umarmt von lauem Wind, zum neuen Freund
    Yi-Sheng, dem Dichter.

     

    Bemerkung des Autors:

    Yi-Shen ist auch Arzt. Yi-Sheng ist die chinesische Bezeichnung für einen medizinischen Doktor.

     

    Dank: 

    Das Bild „Siesta“ wurde von Dr. Dietrich Weller fotografiert, der erlaubt hat, es hier zu veröffentlichen. Der Autor dankt für die Genehmigung.
    Quelle: http://www.fotocommunity.de/user_photos/2099744

     

     

     

                                                                                                                                                                                                                             

     

  • Krankheit und Kränkung antiker Götter 

     

    Was bedeutet Krankheit für die Götter zur Zeit des trojanischen Krieges? Man denkt an die Söhne des Asklepios, Machaon und Podaleirios[1], die später von ihrem Vater, dem Heilgott schlechthin, bei Weitem an Ruhm übertroffen werden. Aber erleben Gottheiten auch selbst Unfälle und krankhafte Veränderungen, erfahren sie Kränkungen?  Nun, sie mischen sich in die kriegerischen Auseinandersetzungen der Menschen ein und übertragen, wie auf dem Schlachtfeld vor Troja, nicht nur ihre eigenen Zwistigkeiten auf die gegnerischen Parteien[2], sondern sie schlagen, noch dazu unter dem beifälligen Lachen des Göttervaters Zeus, heftig auf einander los[3]. Sie werden verwundet wie Menschen, dank ihrer Unsterblichkeit aber nicht tödlich, und sie beklagen ihre Verletzungen auf durchaus menschliche Art.

    Auch von nichttraumatischen pathologischen Veränderungen bleiben sie, wie etwa der Gott Hephaistos mit seiner Gehbehinderung[4], nicht ganz verschont. Götter reagieren äußerst empfindlich, wenn sie sich nicht genügend geehrt fühlen[5], sind verärgert und gekränkt, wenn man ihnen mit Hybris – Anmaßung – begegnet. Dann strafen sie unnachsichtig, senden Krankheiten[6], Unfruchtbarkeit[7], Tod und Verderben.

    1. Verwundete Götter:

    In seiner Ilias zeigt Homer die Götter in jener unmittelbaren, persönlichen Aktivität, wie sie sonst das Handeln der Menschen kennzeichnet[8].

    Herakles verwundet die Gottheiten Hera und Hades. Erstere, die Königin der Götter, verfolgt den illegitimen Sprössling ihres Gemahls mit gnadenlosem Hass. Wir erinnern uns, dass der stets für sterbliche Frauen entflammbare Zeus sich der schönen Alkmene in Gestalt ihres abwesenden Gatten Amphitryon genähert und mit ihr den überragenden Helden Herakles gezeugt hatte. Diesen Fehltritt nimmt die ständig betrogene Hera ganz besonders übel. Darüber, wie es zum Angriff des Herakles auf seine göttliche „Stiefmutter“ kommt, erfahren wir wenig mehr als nichts[9].

    Hera ertrug es, als sie des Amphitryon mächtiger Sprosse
    Traf in die rechte Brust mit dem Pfeile, dem dreifachgezackten.
    Damals ergriffen auch sie ganz unerträgliche Schmerzen[10].  

    Andere antike Quellen zu diesem speziellen Ereignis fehlen[11]. Aus dem Wort „damals“ können wir auf Vorzeitigkeit schließen. In der Ilias wird mehrfach von früheren Geschehnissen berichtet.

    In demselben Zusammenhang ist von der Verletzung des Hades die Rede. Anders als Hera, die den Schmerz einfach erträgt, lässt sich der Herr der Unterwelt von Paiéon behandeln[12].

    Hades ertrug den schnellen Pfeil, der übergewaltge,
    Als ihn derselbe Mann, des Zeus Sohn …
    in Pylos traf und ihm Schmerzen bereitet‘
    ... es war ja der Pfeil ihm
     in seine wuchtige Schulter gedrungen...
    Aber Paiéon heilte ihn dann mit lindernden Kräutern.

    Diomedes, ein weiterer griechischer Heros und wie Herakles Schützling der Göttin Athena, verletzt Aphrodite[13] und Ares.

    Von der lieblichen Aphrodite sagt Zeus: Dir sind nicht gegeben, mein Kind, die Werke des Krieges[14]. Dennoch hatte sie sich auf das Schlachtfeld gewagt, um ihren sterblichen Sohn Aeneas vor dem Schlimmsten zu bewahren. Der kampfesmutige Diomedes verfolgt sie.

    Nachspringend  stieß er ihr dann mit dem scharfen Speer in das Ende ihrer so zarten Hand.. nahe der Wurzel …; es floss das ambrosische Blut … chor genannt, wie es fließt bei den seligen Göttern …. Sie aber schrie laut auf und ließ den Sohn dabei  fallen, doch den fasste … und barg ihn in schwarzblauer Wolke Phoibos Apollon. Er bringt Aeneas in seinen Tempel auf der Burg von Troja, wo sich Artemis und Leto seiner annehmen und die Verletzungen heilen[15].

    Inzwischen wird die schmerzgeplagte Aphrodite von Iris mit windschnellen Füßen hinweg geführt. Ares stellt seiner Schwester (Geliebten, Gattin) seine Rosse zur Verfügung, Iris ergreift die Zügel … da flogen die Pferde

    Doch Aphrodite … fiel in den Schoß der Dione, ihrer Mutter 
    Halte es aus, mein Kind, rät diese, und fasse dich, wie du auch leidest!

    Dann wischt sie das göttliche Blut ab und heil ward die Hand, und die schweren Schmerzen wurden gelindert.

    Bei der Verwundung des Ares greift Athena entscheidend ein[16]:

    Sie, mit strahlenden Augen … führt ihm die Lanze von Erz … gegen die Weichen am Bauch … dorthin traf sie stoßend und riss ihm die Haut auf

    Klagend zeigt Ares dem Allvater das göttliche Blut, das nieder rann aus der Wunde[17],

    Dann macht er seinem Unmut gegenüber Zeus und Athena gründlich Luft:

    Immer müssen wir Götter doch das Ärgste ertragen…[18] [sic!]
    Mit dir hadern wir alle; du zeugtest das sinnlose Mädchen,
    das verderbliche, das stets denkt an gewaltsame Taten…[19]
    Dieser wirfst du nie etwas vor mit Worten und Werken,
    Sondern du lässt sie, da du sie geboren, die scheußliche Tochter…[20]

    Diese Tochter, von Zeus selbst ausgetragen[21], steht ihm besonders nahe. Den „wimmernden“ Ares dagegen duldet er nicht länger in seiner Nähe[22] und beauftragt Paieon, ihn zu kurieren:

    Und Paeion streute ihm auf schmerzlindernde Kräuter,
    Und er heilte ihn
    Wie wenn die weiße Milch von Feigenlabe gerinnet,
    Erst noch flüssig, aber sehr rasch beim Rühren dann dick wird,
    So wurde geschwinde geheilt der stürmische Ares.[23]

    Doch dieser verzeiht seiner Schwester Athena die ihm in Diomedes‘ Namen zugefügte Verletzung nicht. Darum zahle ich dir jetzt heim  für das, was du tatest[24]. Athena jedoch ist nicht nur Kriegsgottheit wie ihr Bruder, sondern auch die Göttin der Weisheit und des Geistesblitzes, daher dem „stürmenden, blutbesudelten“ Ares weit überlegen. Sie weicht seiner Lanze aus und schlägt ihn lachend mit einem Grenzstein zu Boden[25].

     

    1. Nichttraumatische Krankheiten:

    Hephaistos ist ein Gott mit – wie wir heute sagen würden – eingeschränkter Gehfähigkeit[26]. Doch statt sich zu bemitleiden und aus seiner Behinderung eine richtige Krankheit zu machen, nimmt er sie gelassen hin und legt als geschickter Kunsthandwerker und Waffenschmied  Ehre ein. Kränkung allerdings verträgt er ebenso wenig wie irgend ein anderer Gott. Dergleichen erfordert Rache. Seine Mutter Hera, die ihn ohne die Mitwirkung eines männlichen Wesens erzeugt hatte und ihn, entsetzt über seine verkrüppelten Füße (oder über seine Hässlichkeit), vom Olymp herab warf, nötigt er auf einen von ihm konstruierten Thronsessel, von dem sie sich ohne seine Hilfe nicht mehr erheben kann. Aphrodite, die treulose Gattin, die er mit ihrem Liebhaber Ares in flagranti erwischt, fängt er in seinem unzerreißbaren Netz ein[27].

     

    1. Götter senden Seuchen

    Apollon, erzürnt wegen der Kränkung seines Priesters Chryses, schießt  Pestpfeile in das vor Troja befindliche Lager der Achäer[28].

    Artemis, Herrin der Tiere[29], schützt kleine Mädchen und Parthenoi, die sie aber bestraft, wenn sie ihre Jungfräulichkeit verlieren. Sie ist Hüterin der Frauen, doch Zeus verlieh ihr auch, zu töten, wen du nur möchtest[30]. So steht neben der sichtbaren Krankheit Artemis‘ unsichtbares Geschoss als denkbare Todesursache[31]. Dass Artemis mit ihren Pfeilen – so wie Apollon die Pest verursachte – bei den Gebärenden das Puerperalfieber hervorgerufen haben könne, an dem doch so viele Wöchnerinnen nach kurzer Krankheit sterben, ist ein neuzeitlich- interessanter aber unbewiesener Gedanke[32].

     

    1. Heilende Götter:

    Wir hören von Paiéon, dem Wundarzt der Götter. Die Ägypter sollen von ihm abstammen, denn sie sind kundiger im Umgang mit heilenden Kräutern als andere Menschen[33]. Der Paián ist aber auch ein Heilsgesang der jungen Griechen für Apollon. Bei Hesiod werden Paiéon und Apollon neben einander genannt als Ärzte, die Heilmittel gegen alles kennen und im Stande sind, vor dem Tode zu retten[34].

    Ein Sohn des Apollon ist Asklepios. Sterblich zunächst, empfängt er bald göttliche Ehren. Die Kulte für seine Söhne Machaon und Podaleirios bleiben eher von lokaler Bedeutung[35].

    Auf den Heiler der Krankheit Asklepios heb ich mein Lied an,
    auf den Sohn Apollons; die hehre Koronis gebar ihn[36].

     

    Abkürzungen:

    DNP: Der Neue Pauly

    Hom. h.: Homerische Hymnen

    Il.: Hom. Il.: Homer, Ilias

    Hom. Od.: Homer, Odyssee

     

    [1] W. Wamser-Krasznai, Ärzte und Tod in der Alten Welt. Mythos, Magie und Metamorphosen, in dies., Streufunde (Filderstadt 2017) 71-74.

    [2] Kein Krieg in Troja. Legende und Wirklichkeit in den Gedichten Homers (Würzburg 1997) 10.

    [3] Il. 21, 390.

    [4] W. Wamser-Krasznai, Hephaistos – ein  hinkender Künstler und Gott, in: dies., Auf schmalem Pfad (Budapest 2012/13) 72-82.

    [5] Hesiod, Werke und Tage. Griechisch und deutsch (Darmstadt1991) 138 f.

    [6] S. Laser, Medizin und Körperpflege, ArchHom S, 62 f.

    [7] Laser a. O. 85 f.

    [8] H. Jung, Thronende und sitzende Götter. Zum griechischen Götterbild und Menschenideal in geometrischer und früharchaischer Zeit (Diss.Bonn 1982) 18 Anm. 16.

    [9] „Herakles…shot…Hera under unknown circumstances“,  J. Larson, The singularity of  Herakles, in: S. Albersmeier (Hrsg.), Heroes. Mortals and Myths in Ancient Greece. Walters Art Museum (Baltimore 2009) 32.

    [10] Il. 5, 392-394.

    [11] Wie Hera und Hades vom Pfeil des Herakles getroffen wurden, wird als bekannt vorausgesetzt, R. Hampe, Nachwort zur Ilias (Stuttgart 2007) 562. Larson a. O. 32. Der Trojanische Sagenkreis besteht ja nicht nur aus Ilias und Odyssee, sondern aus weiteren fragmentarisch erhaltenen Epen, die zum Teil erneut von späteren Dichtern erzählt wurden. Troja war bereits, bevor es den Achäern unter Agamemnon und Achilleus in zehnjährigem Kampf unterlag, durch Herakles berannt und geplündert worden. Vom Haus des Königs Laomedon überlebten  nur eine Tochter und ein Sohn, der spätere König Priamos, DNP 1138 f.; Il. 5, 636-642 und Il. 21, 442-457.

    [12] Il. 5, 395-401.

    [13] Il. 5, 336-382. 416.

    [14] Il. 5, 428 f.

    [15] Il. 5. 445-448.

    [16] Il. 5, 856-858.

    [17] Il. 5, 870.

    [18] Il. 5, 873.

    [19] Il. 5, 875 f.

    [20] Il. 5, 879 f.

    [21] Laser a. O. 168.

    [22] Il. 5, 889.

    [23] Il. 5, 899-904.

    [24] Il. 21, 399.

    [25] Il. 21, 402-408.

    [26] Spekulative Diagnosen erstrecken sich von Klumpfüßen über posttraumatische Läsionen bis zur Lähmung als Berufskrankheit bei dem für einen Schmied ständig notwendigen Umgang mit Arsenbronzen, dazu Wamser-Krasznai a. O. 2012/23, 74-77.

    [27] dies. a. O. 2012/13, 75. 80.

    [28] Il. I 44-52; S. Laser, Medizin und Körperpflege, ArchHom Kap. S 62.

    [29] Potnia theron, Il. 21, 470.

    [30] Il. 21, 483 f.

    [31] DNP 53; Hom.Od. 11, 171 f.

    [32] G. Maggiulli, Artemide – Callisto, in: Mythos. Scripti in Honorem Marii Untersteiner (Genova 1970) 183.

    [33] Hom. Od. 4, 229-232.

    [34] Hes. Fr. 194 Rz, Laser a. O. S 94.

    [35] Wamser-Krasznai a. O. 2017, 71-74.

    [36] An Asklepios, Hom. h. 16.

  • Krankes und Morbides im Werk von Thomas Mann

     

    Das Wort Krankheit steht hier für bedrohliche pathologische Veränderungen am Patienten; das „Morbide“ setzt sich aus einer Gruppe von Befindlichkeitsstörungen zusammen, wie Hypochondrie, Resignation, Neurasthenie. Die Betroffenen erleben einen schleichenden Niedergang. Beide Erscheinungsformen, Krankheit und Morbides treten in den Erzählungen des Autors nebeneinander auf und  durchdringen einander, sowohl in demselben Text und auch innerhalb ein und derselben Person.

    Wir beginnen mit einer Erzählung, die unter den vielen Pathographien Thomas Manns als einzige von einer Krebserkrankung handelt.

     

    … betrauert von allen, die sie kannten.

    Ovarialcarcinom: (Die Betrogene, 1953)

    Eine Dame der Gesellschaft verliebt sich in den Englischlehrer ihres Sohnes, einen etwa 25 Jahre jüngeren Amerikaner. Der junge Ken ist zunächst an der so viel Älteren nur höflich interessiert, dann aber vom reizvollen Gegensatz immer stärker fasziniert. Kurz bevor sich die wieder erblühte Frau den drängenden Wünschen ihres Körpers ergeben kann, widerfährt ihr mit einer nächtlichen Massenblutung der Anfang vom Ende.

    Infektionskrankheiten

    Zu Beginn des 20. Jahrhunderts stellten Seuchen eine ernsthafte Bedrohung dar. Man musste sich oft mit dem Lindern von Symptomen begnügen, und manche Chefärzte übertrugen hoffnungslose Fälle, die ihnen weder Ehre noch schnöden Mammon versprachen, lieber auf unbedeutende Assistenten. Die Rede ist von der Tuberkulose.

    Als Soldat und brav (Der Zauberberg, 1924)

    Joachim, ein junger Offiziersanwärter, kaschiert die Symptome so lange es irgend geht durch Sonnenbräune und militärische Haltung, während sein Vetter Hans das bleibt, was er in jeder Hinsicht ist, der „hübsche Bourgeois mit einer kleinen feuchten Stelle“. Nach dem missglückten Versuch, seinen Dienst wieder anzutreten, stirbt der Fahnenjunker an progredienter Laryngitis tuberculosa. Die Spur des anderen verliert sich in den Wirren des ersten Weltkriegs.

    Wenn es Tuberkeln sind, so muss man sich ergeben (Buddenbrooks, 1901)

    Clara Buddenbrook, ein ernstes, strenges Mädchen, hatte schon als Jugendliche an Gehirnschmerzen gelitten, sie traten neuerdings periodisch in fast unerträglichem Grade auf. Manchmal führt sie eine Hand zum Kopfe, denn dort schmerzt es. Nach geraumer Zeit erliegt sie einer Gehirntuberkulose.

    An einem Zahne … (Buddenbrooks)

    Um die Gesundheit des Thomas Buddenbrook ist es nicht gut bestellt. Während seiner Volontärzeit in Amsterdam erleidet er einen Blutsturz und unterzieht sich einer Luftkur  in Südfrankreich. Frostige Blässe, bläuliches Geäder und eine Neigung zum Schüttelfrost sind ständige Begleiter als er in jungen Jahren bereits…Chef des großen Handelshauses wird. Seine Grundkrankheit ist zwar die Tuberkulose, aber die Ursache seines allzu frühen Todes ist sie nicht… Senator Buddenbrook war an einem Zahne gestorben, hieß es in der Stadt. Man denkt an eine Apoplexie oder man behilft sich mit der gängigen Formel für Fälle, in denen man es nicht so genau weiß: „Verstorben unter den Zeichen des Herz-und Kreislaufversagens“.

    Die junge Frau litt an der Luftröhre…und Gott sei Dank, dass es nicht die Lunge war: (Tristan,1902)

    …kaum vom Wochenbette erstanden … äußerst verarmt an Lebenskräften, als sie beim Husten ein wenig Blut aufgebracht hatte …  es war, wie gesagt, die Luftröhre, ein Wort, das … eine überraschend tröstliche, beruhigende, fast erheiternde Wirkung auf alle Gemüter ausübte … Manchmal hüstelte sie. Hierbei führte sie ihr Taschentuch zum Munde und betrachtete es alsdann.

    Das Ende kommt rasch, nicht ohne dass Thomas Mann den Kontrast zwischen Gabrieles ätherischem Wesen und ihrem stämmigen Gatten, mehr noch: ihrem pausbäckigen, prächtigen und wohlgeratenen Sohn gehörig herausarbeitet hätte.

    Andere Infektionskrankheiten nehmen im Werk des Autors weniger  Raum ein. 

    Mit dem Typhus ist es folgendermaßen bestellt: (Buddenbrooks)

    Die Diagnose ist gelegentlich durch besondere Umstände erschwert, wenn nämlich die Anfangssymptome, Verstimmung, Mattigkeit, Appetitlosigkeit, unruhiger Schlaf, Kopfschmerzen, schon vorher bei anscheinend völliger Gesundheit vorhanden sind. Von völliger Gesundheit kann allerdings kaum die Rede sein, doch geraten wir hier an die Grenze zum Morbiden, von dem später noch zu reden sein wird.

    Seit mehreren Jahren schon hatte die indische Cholera eine verstärkte Neigung zur…Wanderung an den Tag gelegt: (Der Tod in Venedig, 1911)

    Möglicherweise infiziert sich der Schriftsteller Gustav Aschenbach mit rohem Obst, das er vor einem kleinen Gemüseladen kauft, Erdbeeren, überreife und weiche Ware. Die nur halb körperlichen Symptome, die ihn wenig später befallen, sind Schwindel und eine heftig aufsteigende Angst … Und noch desselben Tages empfing eine respektvoll erschütterte Welt die Nachricht von seinem Tode.

    Bevor wir uns dem „Morbiden“ zuwenden, müssen wir uns noch mit einer weiteren durch Infektion in Gang gesetzten Krankheit beschäftigen, der Syphilis.

    Krankheit, und nun gar anstößige, diskrete, geheime Krankheit … (Doktor Faustus 1947)

    Progressive Paralyse:

    Die Lues oder Syphilis wird gern als der „Affe unter den Krankheiten“ bezeichnet, da sie „alle“ Symptome nachahmen könne. Sie hat eine besondere Affinität zum Nervensystem. Adrian Leverkühn, ein hochbegabter Musiker und Komponist aus wohlsituiertem bürgerlichen Hause, handelt sich bei einer reizvollen Werktätigen im ältesten Gewerbe der Welt einen Primäraffekt ein, der scheinbar nach einer Therapie durch zwei Dermatologen spurlos verschwindet. Doch die Behandlung bleibt unvollständig, da der erste Arzt aus unbekannter Ursache plötzlich verstirbt und der zweite unter ebenso unklaren Umständen verhaftet wird – Teufelswerk, wie Adrian später erfährt. Nachdem er sich den Mächten der Finsternis überantwortet hat, erlebt er eine Steigerung seiner mentalen Fähigkeiten und Phasen höchster Seligkeit, schafft unerhörte  musikalische Werke. Nun hat seine Spirochaeta pallida eine Passion für das zarte Parenchym der Kopfregion. Zunächst leidet der Künstler nur an Schwindelerscheinungen und Migräne, wird aber volle vierundzwanzig Jahre post infectionem in tiefster Verzweiflung und Rettungslosigkeit, von unerträglichen Schmerzen gepeinigt, mit allen Anzeichen einer progressiven Paralyse enden.  

    Ebenso einprägsam schildert Thomas Mann die Zeichen der Tabes dorsalis.

    Mehrere Herren mit entfleischten Gesichtern werfen auf  jene unbeherrschte Art ihre Beine, die nichts Gutes bedeutet. Sobald sie in Gabrieles Nähe kommen, lächeln dieselben Herren und versuchen angestrengt, ihre Beine zu beherrschen (Tristan, 1902).

    Das Morbide

    Bei den Buddenbrooks wandert das Übel in Form von Neurasthenie, einer reizbaren Nervenschwäche, als schleichende Familienkrankheit über vier Generationen hinweg, um die beiden letzten Vertreter gänzlich zu zerstören. Eine Schwächung des „Selbst“ macht die Betroffenen unfähig, ihre Arbeits- und Lebenswelt sinnvoll zu strukturieren. Die veraltete Bezeichnung Neurasthenie ersetzen wir heute gern durch die des allgegenwärtigen Syndroms „burnout“.

    Buddenbrooks

    Thomas, der Firmenchef, empfindet, obwohl er kaum siebenunddreißig Jahre zählt, ein Nachlassen der Spannkraft, eine raschere Abnützbarkeit, die mit Rastlosigkeit und einem übertriebenen Hang zur persönlichen Sauberkeit und äußeren Perfektion einhergeht. Er wird sich darüber klar, dass oft die … sichtbarlichen und greifbaren Zeichen und Symbole des Glückes und Aufstieges erst erscheinen, wenn in Wahrheit alles schon wieder abwärts geht. An seinem Bruder Christian missfallen ihm Dinge, die er schon an sich selbst mit Abscheu bemerkt hat, nämlich eine ängstliche, eitle und neugierige Beschäftigung mit sich selbst, die zerfahren, untüchtig und haltlos macht. Aber wir sind bloß einfache Kaufleute … unsere Selbstbeobachtungen sind verzweifelt unbeträchtlich.

    Christian bietet die Zeichen einer schweren hypochondrischen Störung. Er ist ein liebenswürdiger Taugenichts, alles andere als dumm, aber unfähig zu ernsthafter Arbeit. Während er sich als begabter Imitator und geistreicher Unterhalter betätigt, ergeht er sich andererseits in abstoßenden, detaillierten Beschreibungen seiner Qual. Haltlos und bar jeder Selbstkontrolle wird er schnell zum Spielball anderer „Suitiers“ und einer Frau von zweifelhafter Lebensführung. Als seine Ehefrau betreibt sie schließlich unter Berufung auf Wahnideen und Zwangsvorstellungen seine Entmündigung und die Einweisung in eine Anstalt.

    Hanno, der jüngste und letzte Buddenbrook-Spross, still und kränklich, leidend und mitleidend, taugt gewiss nicht zum Kaufmann, allenfalls zum Künstler. Seine Spannungen entladen sich in musikalischen Phantasien bis zur Kakophonie. Die bläulichen Schatten in den tief liegenden Augenwinkeln hat er von seiner Mutter Gerda, und dass sie schon bei dem Neugeborenen auftreten, kleidet, wie Thomas Mann bemerkt, ein vier Wochen altes Gesichtchen nicht zum besten.

    Tristan

    In geringer Abwandlung erscheinen das blaue Äderchen über dem Auge und die tiefen Schatten zu beiden Seiten der Nasenwurzel als Leitmotiv auch bei Tristans Gabriele. Für die Beschreibung ihrer Ankunft in Einfried  findet Thomas Mann ironisierende Sätze, da die beiden Braunen [Pferde] … mit rückwärts gerollten Augen angestrengt diesen ängstlichen Vorgang verfolgen, voll Besorgnis für soviel schwache Grazie und zarten Liebreiz. Wie pathetisch aber wird erst der Neurastheniker Spinell, den die Mitpatienten geschmackvoll den verwesten Säugling nennen! Er schwärmt die junge Frau an, die doch aus einem alten Geschlecht stamme, zu müde bereits und zu edel zur Tat [sic!] und zum Leben, … das sich gegen das Ende seiner Tage noch einmal durch die Kunst verklärt.

    Der Zauberberg

    Hans Castorp, Hospitant und weicher Neuling, bringt es auf dem Berghof mit Fiebermessen und anderen Bemühungen endlich dahin, dass er sich fast wie ein ‚richtiger‘ Patient fühlen darf.

    Der Tod in Venedig

    Gustav Aschenbach erliegt zwar am Ende der Cholera, doch auf der Basis eines Gefühls der Ausweg- und Aussichtslosigkeit, nachdem er sich, ein betörter Liebhaber, im Traum der Raserei des Untergangs ergeben hat und es auch im wachen Zustand gegen die Mahnung seines Gewissens unterlässt, die polnische Adelsfamilie vor den Gefahren der verseuchten Stadt zu warnen, damit er nicht auf den Anblick des leidenschaftlich Begehrten verzichten muss – Man soll schweigen! Man soll das verschweigen!  und:  Ich werde schweigen!

    Meisterhaft versteht es Thomas Mann, seinen Protagonisten stets solche Krankheiten aufzuerlegen, die längst durch das Morbide in ihnen vorbereitet sind und sich schon beim scheinbar Gesunden in persönlichen Eigenschaften und als Symptome einer reizbaren Nervenschwäche äußern.

     

    Lit. bei der Verfasserin.