Monat: Juli 2013

  • Finsternis schwelte über der schlammigen, sumpfigen Tiefe;
    Blasen voll Gase erhoben sich langsam aus kochenden Quellen;
    Welches geheime Geschehen passierte im Innern der Welt?
    Brodelnd und hitzig wurden in Freiheit gesetzt Elemente.

    Doch, unserm Schöpfer der Welt gefiel diese Düsternis nicht mehr;
    Und er besetzte den Himmel mit Mond und der Sonne und Sternen.
    Welch eine Tat, ein besonderer Tag, am Anfang der Schöpfung!
    Helligkeit wogte über dem ruhelosen, urhaften Lande.

    Dann aber dachte der Schöpfer, das Licht nun verlange nach Augen;
    und er beschaute ein Hirn, dann stülpte heraus er zwei Teilchen.
    So wurden Augen, ein Wunder der Schöpfungempfindsam für Licht. 
    Beide, das Licht und das Auge, sind für einander geschaffen.

     

    Copyright Dr. Renate Myketiuk

  •  

    Ich bin die schöne Frau Gelassenheit,
    bin fröhlich, schätze stets die Heiterkeit.

    Wenn eine Last dich quält, und du wirst krank,
    feg nicht umher, sie holt dich wieder ein;
    setz dich ganz still auf eine kleine Bank,
    leg ab die Packen, leer ein Gläschen Wein.

    Denk nach, ob sie für dich bestimmt nur sind,
    ob nicht ein andrer Arbeit sucht geschwind?

    Wenn jemand widerspricht, wird’s dir zur Last;
    bist tief verletzt, weinst still in dich hinein?
    Halt ein, jag nicht umher, mach eine Rast.
    Vielleicht ist jener andere grad klein.

    Machs möglich, dass auch er ein wenig wächst;
    du wirst bestimmt für ihn sein dann der Nächst.

    Und dein Gesicht wird froh, du kannst verstehn;
    du weinst nicht mehr, denn Friede kehrte ein.
    Du wirst die Bitterkeit nun nicht mehr sehn;
    du ließest los und kannst jetzt glücklich sein.

    Bin Frau Gelassenheit, bin stets bereit,
    zu lehren die mit Dank verschlungne Heiterkeit.

     

    Copyright Dr. Renate Myketiuk)

     

     

  •  

    Ich bin die Freude, nimm es endlich wahr;
    ich möchte dir öffnen deine müden Augen!
    Verwirf die Sorgen, viele gar nichts taugen;
    die schleichen stets umher in großer Schar.

    Ich bin die Freude, schenke kostbar’n Wein,
    der Herz und das Gemüt zum Staunen bringt,
    ob der Musik, die aus den Dingen klingt,
    ob all der Wunder rings, ob groß, ob klein.

    Ich bin die Freude, geh mit auf dem Weg:
    Versöhnung ist das Ziel, das ich erstreb,
    und Fried‘ soll sein, an dem ich eifrig web;
    die Nein-Bedenken einfach weg ich feg.

    Ich bin die Freude, freu mich, weil ich fühl
    mein Lied erquickt mit Trost und Freud‘ dein Herz
    und weist Verstand und Sinn dir himmelwärts;
    mein Lied dich wärmt, die Hand ist nicht mehr kühl.

    Ich bin die Freud‘, ich kenn nur Dankbarkeit,
    weil mir die Sonne macht mein Herze hell,
    und weil ein Segenswort ist Lebensquell.
    Ich bin die Freud‘ und sing, damit’s dich freut.

     

    Copyright Dr. Renate Myketiuk

     

  •  

    Ich bin die Trauer, fühle mich sehr krank,
    denn jede Hoffnung, Lebensmut mir sank.
    Der Glaube fror, verlassen hat er mich;
    Einst war er stark und reich, ja, königlich.
    Ich spür, mein Herz nicht mehr im Rhythmus schlägt,
    ob es schon lahm, für sich ein End erwägt?
    Die Wolken greifen tief, der Regen fällt;
    und mein Gemüt ist grau und ist gequält.
    Mein Haus ist leer, die darin warn sind fort,
    und Glanz und Gold, die gingen überbord.
    Mein Magen, auch, verweigert jede Speis;
    verschnürt bin ich, von Freiheit ich nichts weiß.
    Ich bin die Trauer, kenne Liebe nicht;
    Ich wandere durch Gassen, wo kein Licht.
    Ich werd vertreiben oft, werd angezünd´t,
    verlacht, mit Tropfen, die da giftig sind.
    Ich bin die Trauer, trag ein schwarz Gewand,
    werd eingeladen nie, bin ortsbekannt.
     

    Copyright Dr. Renate Myketiuk

  • Einsamkeit

     

    Ich sprech zur Wand, doch die bleibt stumm, sie schweigt;
    versteht mich nicht, ist mir nicht zugeneigt.
    Oh, Graun, die Einsamkeit ein enges Haus,
    ob ich jemals aus dir werd kommen raus?
    Voll Sonnenschein, da flimmert sie, die Luft;
    jedoch, mein Herz lebt tief in eis’ger Gruft.
    Wenn einer sagt, so horch, ein Vogel singt,
    ach, meiner Seel wie Totensang es klingt.
    Warum nur geht vorbei an mir der Tod?
    Sieht er und spürt und fühlt nicht meine Not?
    Ach, Tod, kannst du denn Freund sein, der auch liebt?
    Der aus der Gruft mich holt und Wärme gibt?
    Wer hat erschaffen nur die Einsamkeit?
    Ist sie geboren denn vor aller Zeit?
     

     

    Copyright Dr. Renate Mykteniuk

  •  I

    Schaffe
    in deinem Innenraum
    einen Durchgang
    zu der Welt
    die dahinter liegt

    Dort ist der Ort
    und wo dich niemand findet
    und du dich selbst verlierst
    wenn du den Rückweg
    vergessen hast
    und das Knäuel in deiner Hand
    nutzlos wird
    weil der Faden riss

    Schaff
    einen Durchgang
    damit von dort
    von der Welt
    dahinter
    die Taube
    zu dir kommen kann

    Werde vertraut mit ihr
    sie wird dich dann
    heimgeleiten
    von dem Ort
    wo dich keiner findet
    und du dich selbst verlorst.

     

    II

    Der Ort
    wo dich niemand findet
    nicht einmal
    du selbst
    liegt noch weit
    dahinter
    wo der Himmel
    die Erde
    küsst

    Nur im Flug
    kannst du dahin gelangen
    doch verlass dich
    nicht auf Wolken
    nicht auf dich selbst

    Vertrau dich
    einem Vogel an
    Schwan
    Gans
    oder Ente

    Ein Greif
    dagegen
    gewöhnt sich nur schwer
    an Menschen

     

    Copyright Dr. Helga Thomas

  •  

    Wer bin ich?
    Frage des heutigen Narziss?

    Wer bin ich?
    Aus Angst
    eine falsche Antwort
    zu hören und es
    nicht zu bemerken
    nicht zu erkennen
    stelle ich mich dar:
    so wie ich gern wäre
    oder der andere mich gerne hätte
    Oder …

    wie man so ist heute
    in der Zeit der Individualität
    in der Zeit mit den vielen
    gesichtslosen Individuen
    wie ich
    ein Jemand der Niemand ist

    So stelle ich mich dar
    und der andere in mir
    die andere
    das geschlechtslose ewige Ich
    versteckt sich hinter
    meiner Darstellung
    von dem
    wie ich meine zu sein
    versteck ich
    tief in mir
     

    Nun finde ich mich
    nicht mehr
    und frage
    traurig
    mutlos
    verzweifelt?
    mein Spiegelbild
    wer ich denn sei

    Sehnsucht
    zur anderen Welt
    zur Tiefe
    zum Dunkel

    Sehnsucht
    die Grenze zu überschreiten
    ins Geheimnis einzudringen
    im blinden Schmerz
    den Keim des Lichtes
    zu finden

     

    Copyright  Dr. Helga Thomas

  • Heute war er etwas früher aufgestanden. Er wollte seinen Vater zur Arbeit begleiten. Vor drei Tagen hatte Hubertus Long Moller den Bachelor of Engineering gemacht. Sie hatten gefeiert im schwimmenden Restaurant „Ni Hao“ auf dem Goitzschesee. Es war ein schöner Abend mit Cyber-Music 6.0 und der neuen Droge LMA. Hubertus Long hatte noch am selben Abend mit seinem i-i-i zu Hause angerufen und dem Vater erklärt, dass er nun doch Interesse an dessen Berufsfeld habe. Dann hatte er mit seiner Freundin in Lilli Pilli über Videofone besprochen, ob sie sich nicht heuer zum ersten Mal treffen könnten. Es war schwieriger geworden, seit die Flugpreise nach Australien erneut gestiegen waren.

    Vater Kevin Moller arbeitete seit zwei Jahren bei Xinhua Ltd. in Bitterfeld. Der Investor aus Nanjing hatte geduldig gewartet, bis der große deutsche IT- und Elektrokonzern im Strudel der Eurokrise zusammenbrach und für einen symbolischen Betrag zu erwerben war. Das war in den zwanziger Jahren. Chen Qiang, der neue Boss, hatte bald darauf eine spezielle Entwicklungsabteilung für i-Minding in Bitterfeld installiert. Die Wahl war auf diese Stadt gefallen, weil im Großraum Halle–Leipzig Satellitenstädte mit Migranten aus Indien, dem restlichen Asien und Afrika entstanden waren. Hier konnten bezahlbare Spezialisten für IT leicht je nach Bedarf rekrutiert und gefeuert werden.

    Nach dem Frühstück brachen Vater und Sohn auf. Sie schnallten ihre Fußgänger-Airbags um, die im Zusammenhang mit dem neuen Gesetz zur Drogenfreigabe Pflicht geworden waren und machten sich auf den Weg zwei Blocks weiter zum Cab-Pool. Unterwegs trafen sie auf einen alten Bekannten. „Hi, Heckenreuther, wie geht es Ihnen?“ „Prächtig!“  „Sie sehen müde aus!“ „Kein Wunder. Bis sechs hatte ich Nachtschicht und dann wollte ich schlafen. Aber seit wir hier die Schulbushaltestelle haben, ist von Montag bis Freitag ein Höllenspektakel, die ganze Viertelstunde lang vor Abfahrt. Es sind nur zehn oder zwölf Kids so von sechs bis zwölf. Aber die drehen vielleicht auf! Minimum 100 Dezibel – dass die Kehlen das aushalten!“ „Ja, und seit dem Kinderlärmgesetz vom Anfang des Jahrtausends müssen wir das auch noch schön finden,“ sagte Kevin Moller. „Naja, Papa,“ meinte Hubertus, „ich glaube, wir haben es auch so gemacht.“ „Ich vermute“, antwortete Kevin mit einem Grinsen, „eure Eltern haben euch nichts beigebracht über Etikette und dass es Dinge gibt, die man einfach nicht tut.“ „So muss es gewesen sein – und wie war es bei dir?“ „Mea culpa – wir haben wohl genauso Randale gemacht.“ „Na, dann waren deine Eltern auch nicht besser – tröstet dich das?“ „Mich vielleicht, aber den armen Heckenreuther nicht. Versuchen Sie doch jetzt noch ein Nickerchen, bis die lieben Kleinen mittags zurückfluten.“ „Ja“, sagte Heckenreuther, „und dann schmeißen sie die Folien vom Pausenbrot und leere Getränke-Paks in unseren Vorgarten. Wozu schicken wir die eigentlich in die Schule?“ „Oh, da muss ich mal lange drüber nachdenken. Na, schönen Tag auch!“

    Am Cab-Pool öffneten sie mit der Chipkarte eine der geparkten Elektro-Kabinen. Mit der fuhren sie zur S-Bahn und mit dieser zum Betrieb, den sie intern „Develocloud“ nannten. Vater Kevin hielt die linke Hand vor den Tür-Sanner. Der ID-Chip unter der Haut am Handrücken öffnete die Tür. Für den Sohn musste er einen Gästepass schreiben. Das ging problemlos, da Hubertus Long schon während des Studiums hier ein Praktikum absolviert hatte. Dann fuhren sie mit dem Lift zum 14. Geschoss und gingen ins Labor des Vaters.

    Er arbeitete am Epikef. Das Projekt genoss die besondere Förderung des Politbüros. Es war eine Weiterentwicklung der Smart-Sheets, jener flexiblen Kleincomputer von der Größe eines Notizzettels. Die Besonderheit der neuen Maschine war ihre Ankoppelung an den Kopf des Benutzers. Die altmodischen Smartphones, die Hubertus Long noch von seinem Großvater kannte, hatten den Nachteil, dass man sie umständlich aus der Tasche kramen, anschalten, antippen und ablesen musste. Außerdem war andauernd der Strom verbraucht, man hätte am besten noch ein transportables Elektrizitätswerk mit sich schleppen müssen. Zudem hatten viele Besitzer das Problem, dass sie die Kästchen vergaßen, verlegten und den halben Tag lang suchen mussten. Oft fehlte das Gerät gerade dann, wenn es am nötigsten gebraucht wurde. Der Epikef sollte alles besser machen. Er wurde direkt am Kopf oder Nacken getragen und durch Körperwärme mit Energie versorgt. Die Befehle wurden über Sprache eingegeben, die Antworten kamen ebenfalls als Sprache über kleine Ohrhörer aus der Hörgerätetechnik. Das war schon ein bedeutender Fortschritt gegenüber archaischen Zeiten, von denen der Großvater zu berichten wusste. Damals, so erzählte er, hätten sie in der Schule noch Fakten auswendig pauken und in den Prüfungen hersagen müssen. Allerdings hatten sie schon – im Gegensatz zu ihren Vorfahren – kein einziges Gedicht mehr auswendig gelernt. Das war ihnen als Fortschritt verkauft worden. Erst in reiferen Jahren hatte er erkannt, dass es eher einen Mangel an geistigem Besitz bedeutet.

    „Siehst du,“ sagte Kevin zu seinem Sohn, „in der vorigen Entwicklungsstufe ging es darum, nicht mehr den Schülern das Wissen nach Quantität ins Gedächtnis zu quälen, sondern sie fit zu machen im Gebrauch einer Maschinerie, die im entscheidenden Moment diejenigen Daten herbeiholt, die man gerade braucht.“ „Und natürlich auch,“ ergänzte Hubertus, „den Import kritisch zu filtern.“ „Genau! Aber jetzt gehen wir wieder einen Schritt weiter. Die Ankoppelung muss lückenlos, unverlierbar und schnell sein.“ „Na ja,“ entgegnete Hubertus, „eure Sprachausgabe ist ja noch ziemlich holprig.“ „Ja, und deshalb beschreiten wir neue Wege. Einen Teil der Information übertragen wir über Hautelektroden, dort oder in der Nähe, wo der Epikef aufgeklebt ist. Es erfordert zwar ein bisschen Training, der Nutzer muss konditioniert werden. Aber das gab es ja früher auch schon. Denk nur mal daran, wie mühsam sich unsere Urahnen an Tastaturen gewöhnen mussten.“ „Schön, nur allzu viel Information werdet ihr über die Haut nicht übertragen können.“ „Ja, da werden noch andere Möglichkeiten gesucht. Darüber kann ich jetzt nicht sprechen.“

    Hubertus schaute sich im Labor ausgiebig um. An den Wänden waren wunderschöne Blumen auf Screen-Folien zu sehen. Pünktlich zu bestimmten Zeiten wurde Blumengießen simuliert – vollautomatisch und ganz von allein. Man konnte aber auch andere Programme je nach Stimmung wählen.  Zuletzt verabredete er sich mit dem Vater für die Mittagspause im Park am See und ging. Auf dem Korridor wäre er fast mit dem Reinigungsroboter zusammengestoßen, der rechnergesteuert und leise schnurrend seine Bahnen zog.

    Mittags trafen sie sich. Sie schlenderten durch den Park und bogen in den Wirtschaftsweg zu den Komposthaufen ab. „Hier gibt es wahrscheinlich keine Mikrofone und Kameras“, sagte Kevin. „Was ich dir vorhin im Labor nicht sagen konnte, ist dieses. Wir haben einen Body in der Neurochirurgie Halle, der an einem direkten Zugangs-Port zum Hirn arbeitet. Das Ganze läuft natürlich unter Tarnung. Offiziell geht es darum, defekte Sinnesorgane wie Auge und Ohr zu ersetzen durch elektronische Prothesen. Die koppeln über operativ eingepflanzte Leitungen direkt ans Hirn an. Damit es keine Infektionen gibt, wird die Empfangsantenne dicht unter die Haut gelegt.“ „Ah, verstehe, es gibt also keine offene Stelle. Raffiniert! Und wo ist der Sender?“ „Der sitzt direkt darüber und überträgt drahtlos durch die Haut.“ „Und euer neuer Epikef hat den Sender vermutlich integriert?“ „Genau so ist es. Wir haben jetzt zwei Aufgaben. Die Mediziner müssen für die Elektroden neue Koppelpunkte im Gehirn finden – je nach Verwendungszweck ganz verschiedene Stellen. Und zweitens werden wir die passenden Programme und Algorithmen entwickeln.“ „Das Dumme ist nur, dass die Installation der Elektrode einen Eingriff bedeutet.“ „Ja,“ sagte Kevin, „das ist nur für die Pilotphase. Wenn wir die richtigen Orte kennen, schicken wir die Signale drahtlos über Interferenzwellen von zwei Epikefs direkt ans Ziel. Die nächste Generation wird der Epikef/!\Twin® sein.“ „Hört sich großartig an. Ich glaube, ich kann mir vorstellen, bei dir mitzuarbeiten.“ Der Vater hörte das nicht ungern. Er schwieg eine Weile, während sie in ein Wiesengelände außerhalb des Parks wanderten. „Ja“, begann er nachdenklich, „es eröffnen sich neue Möglichkeiten. Bei der heutigen Relaisdichte hast du praktisch überall web-Verbindung und kannst auf den weltweiten Datenschatz zugreifen. Wenn die Provider noch ein bisschen an Bandbreite und Tempo zulegen, geht das ganz ordentlich. Nur…“ Hubertus horchte auf: „Nur was?“ „Wer herrscht über die Datenbanken und Provider? Es gibt im Politbüro eine Gruppe um Mao Chun Dong, die schon angefangen hat, in vielen Ländern über Beteiligungen und Aufkauf ganzer Firmen, die Hoheit an sich zu bringen. Das läuft alles über das SID.“  „SID?“ „Strategic Investment Department in der Bank of Chinchan. Die haben Kohle ohne Ende.“ „Meinst du, sie schaffen es?“ „Na ja, das geht langsam und lächelnd und schön im Verborgenen… und dann ist da noch etwas…“ „Was denn nun noch?“ „Sie haben schon eine Schnittstelle vorbereitet, wo sie direkt auf die ethische und politische Haltung der User Einfluss nehmen.“ „Donnerwetter“, Hubertus kratzte sich hinter dem Ohr, „dann möchte ich da doch lieber nicht mitmachen. Andererseits…“ „Andererseits was?“ „Wenn man nicht dabei ist, kann man keinen Einfluss nehmen, wenn, dann doch – vielleicht?“ „Vielleicht, ja, und vielleicht, nein, sogar wahrscheinlich kannst du eines: mit schuldig werden.“ „Du denkst wohl jetzt an den einen Urgroßvater, der bei den Nazis mitmachte in der naiven Erwartung, er könnte irgendetwas zum Besseren wenden?“ „Ja, und an den anderen, dem dasselbe bei den Kommunisten passierte. Die Diktaturen, oder allgemeiner: das Böse im Menschen ist immer gleich, vor fünfzig Jahren, heute und in fünfzig Jahren wieder.“ „Und das Gute, das sich dagegen stemmt, aber auch.“ „Natürlich, da hast du Recht, Hubertus. Anders wäre es ungerecht gegenüber allen Generationen vor und nach uns – wobei nirgends geschrieben steht, dass Geschichte oder Schicksal gerecht sein müssten. In diesem Punkt aber scheint es tatsächlich so zu sein.“ „Ach Papa, man müsste in die Zukunft sehen können.“ „Ich weiss nicht, ob du dir das wirklich wünschen willst. Prognosen bleiben jedenfalls unsicher, weil Veränderungen nicht geradlinig laufen. Nur die ernsten Dinge des Lebens bleiben immer die selben, die Rahmen und die Torheiten wechseln. – So, mein Jung, ich muss jetzt wieder in meine Klitsche, ciao bis heute Abend!“ „Mach’s gut, Papa.“

    Auf dem Heimweg fuhr Hubertus Long über Chinatown zu seiner Mutter Wang Feng. Sie war die dritte Frau seines Vaters und lebte in zweiter Partnerschaft mit Tenzin Tashi mit vier Kindern aus drei Beziehungen. Es war ein fröhlicher Haushalt, alle verstanden sich ganz gut und ließen einander ziemlich viel Freiheit. Allerdings waren zwei seiner Achtel-Schwippgeschwister in Psychotherapie. Irgendwie fühlten sie sich durch den Rost gefallen und hatten Verhaltensstörungen. Bei der Hälfte ihrer Schulfreunde war es nicht anders. Der viel jüngere Felix hatte mal zu Hubertus gesagt: „Ich beneide dich um deinen Vater.“ „Na gut, Felix, du hast dafür Muttern.“ „Könnte man nicht beide haben?“ „Früher kam das öfter vor. Aber heute … kennst du noch eine Archefamilie mit Vater, Mutter, Kind, Kind, Kind?“ „Nee, bestenfalls Mann, Frau, Drittauto, Motorboot, Harley und drei Haustiere.“  „Felix, das kann ich dir sagen, ein freundliches Patchwork ist immer noch besser als eine kranke Zwangsgemeinde. – Schau doch mal, ob der Lieferwagen noch vor der Haustür steht.“ Felix ging Blumen gießen und schaute nebenbei nach unten. „Ja, «Facility Service Grötzschke» steht da.“ „Steht der im Branchenbuch?“ Felix tippte ins i-i-i und sagte nach wenigen Sekunden „Fehlanzeige.“ Dann flüsterte er: „Klarer Fall, deshalb dreht sich auch der Werbewürfel auf dem Dach nicht mehr.“ Er zwinkerte Hubertus zu und lief auf leisen Sohlen die Treppe hinunter. Vom Hinterhaus gelangte er in die Kanalisation und von dort zu dem Gully direkt unter dem Wagen. Die Spezialausrüstung für derartige Fälle hatte er dabei. Er befestigte eine Schnur mit leeren Blechdosen und einen angebohrten Topf mit hellroter Leuchtfarbe unter dem Wagen. Als Draufgabe presste er eine Kartoffel in den Auspuff. Dann verschwand er, wie er gekommen war, lief zur nächsten Straßenecke und gab der Politesse einen Hinweis wegen des Parkverbots. Als sie sich dem Wagen näherte, ergriffen die Kerle mit dunklen Brillen und falschen Bärten die Flucht. Der Wagen startete mit einem Knall und fuhr mit Getöse und gut sichtbarer Farbspur zum Depot. Der Boss der Außenstelle von Büro 610, zuständig für Tibeter, sonstige Minderheiten und Dissidenten, war stinksauer.

    „Magst du etwas essen, Hubertus?“ fragte Wang Feng. „Ja, gerne.“ „Ich habe noch etwas Chop Suey übrig. Lass dir’s schmecken.“ Tenzin Tashi setzte sich zu ihm. „Na, mein Junge, was wirst du jetzt machen, als frisch gebackener Bakkalaureus?“ „Ich gehe vielleicht in den Develocloud. Der neue Epikef ist eine spannende Sache. Was meinst du, wie lange wird die Branche noch wachsen? Davon hängt ja wohl die Zukunft ab.“ „Wenn du in die Zukunft schauen möchtest, denke zuerst an das alte Gedicht:

    Prognose

    Meistens ist nicht völlig klar,
    wie es einst gewesen war,
    und es herrscht der grösste Zwist
    ob der Lage, wie sie ist.
    Um so mehr ein jeder irrt,
    der voraussagt, wie es wird.

    Wenn du nun Wachstum in die Höhe meinst, was die Gewinne betrifft, wird es nicht bis in den Himmel gehen. Was wir längst mehr brauchen, ist, wenn du so willst, Wachstum in die Breite, Wachstum an gerechter oder sogar humaner Verteilung. Aber die Philosophie unserer Führungsmacht lernt in diese Richtung nur langsam. Die sind noch beim vorigen Kapitel: Wenn du sieben Schnitzel hast, kämpfe um das achte. Dabei täte es ihnen selber besser, wenn sie für das erste Schnitzel des armen Nachbarn eintreten würden.“ „Ja, ihr Tibeter könnt ein Lied davon singen.“ „Die lieben Nachbarn denken so: wenn es einem schlecht geht, ist er selber schuld, vielleicht wegen eines früheren Lebens. Wenn überhaupt jemand helfen soll, dann die Familie. Soziales Denken im größeren Rahmen fällt ihnen schwer.“ „Das sind aber keine rosigen Aussichten!“ „Na ja, wie man’s nimmt. Es werden immer nur die Kinder gerettet, die in den Brunnen gefallen sind – da liegt schon noch Hoffnung.“ „Im Brunnen? Du meinst, es muss erst schlimmer werden, ehe es besser wird?“ „In gewisser Weise ja. Wenn sie erkennen, dass eine andere Ordnung ihnen selber nützt, kann es statt nur vorwärts auch aufwärts gehen.“ „Was meinst du, wo haben wir den größten Nachholbedarf mit dem, was du Breitenwachstum nennst?“ „Die fünf wichtigsten Baustellen, auf denen wir schon seit – sagen wir mal – über 250 Jahren strampeln, sind: wirtschaftliche Gerechtigkeit, Gleichachtung der Frauen, Respekt gegenüber den Menschenrechten, ein bisschen mehr Wahrhaftigkeit und…“  „…und die Bewahrung der Natur?“ „Genau, Ökologie. Einfacher gesagt: Säge nicht an dem Ast, auf dem du sitzt.“ „Ich glaube, da liegst du richtig. Wenn ich die Rückschritte und bescheidenen Fortschritte der letzten fünfzig Jahre anschaue, werden wir wohl auch in den nächsten fünfzig nicht allzu weit kommen.“ „Ach, mein lieber Long, wir werden nie damit fertig werden. Trotzdem ist es das einzige, was sich lohnt, jeden Tag neu anzupacken.“ „Komisch, so etwas Ähnliches hat mein Vater heute Mittag auch gesagt.“  „Ein kluger Mann, ich mag ihn. Grüß ihn von mir.“  „Klar, ciao Tashi, ciao Mama, danke für das Essen, bis bald mal wieder.“

    Hubertus Long fuhr nach Hause. Als er bei Heckenreuther vorbeikam, sammelte er aus dem Vorgarten sechs Kugeln zusammengeknüllte Alufolie und vier leere Paks Blue Bull. Vielleicht hat er eine kleine Freude, dachte sich Hubertus – oder er ist enttäuscht, weil seine Welt nicht mehr stimmt.

    Zu Hause angekommen setzte er sein Bewerbungsschreiben an Xinhua Ltd. auf. Abends kam Kevin nach Hause. „Was wollen wir essen?“ „Du, ich hab schon bestellt. In zehn Minuten kommt über den Pneumotube eine Käseplatte mit Salat.“ Fast auf die Minute genau bekam Hubertus ein Signal auf das i-i-i. Er fuhr in den dritten Stock zur Rohrpostzentrale und holte das Essen. Nach dem Mahl schauten sich beide einen uralten Film aus der Mottenkiste an. Sie schalteten den 4D-TV spherosense um auf Flachbild-2-Ton und genossen nostalgische 109 Minuten bei „Zettl“. Dazu tranken sie Wippraer Bier. Das war wegen seiner Wasserqualität inzwischen zum Geheimtipp geworden. Der Film handelte von Charakterlosigkeit und Karrieregeilheit im Politikbetrieb. Als er seinerzeit herauskam, war er verrissen worden, dann wurde er Kult. Scheinbar traf er doch mehrere Nägel auf die Köpfe. „Sag mal, Vater, der Streifen ist doch jetzt um die fünfzig Jahre alt?“ „Ja, das kommt hin.“ „Und es hat sich nichts geändert?“ „Nichts Wesentliches jedenfalls.“ „Na, dann gute Nacht – für die nächsten fünfzig!“

     

    Erschienen in: 2062: Eine Anthologie. Halle: 2012, Projekte-Verlag Cornelius
    Mit freundlicher Genehmigung des Verlages.
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    Wer gerne auf „Gefällt mir“ klickt,
    Vor einem Kunstwerk steht entzückt,
    Wer liebt das Klassisch-Ewig-Schöne,
    Sei`n es Gedichte oder Töne,
    Genießt dies in der Künste Tempel,
    Bekommt gleich den Banausen –Stempel.
    Doch wer ein Kritikus sich nennt –
    Der gilt sogleich als kompetent.
    Schreibt meist in den Gazetten für viel Zaster –
    Als Kritikaster.

    Wer schreibt, wer malt, wer musiziert,
    Weil einfach er es muss und Lust verspürt
    Und ringt um jede Note, jedes Wort,
    Wer Form und Farbe setzt am rechten Ort
    Und gibt nicht eher Ruh`, bis alles hat Bestand,
    Wird noch beschimpft als Dilettant
    Und fällt sogleich durch`s Raster
    Beim Kritikaster.

    Statt sich an schönen Formen zu erfreuen,
    Den Kunstgenuss nicht zu bereuen,
    Was ihn erbauen könnte, das verpasst er –
    Der Kritikaster.

    Eins sei ihm auf den Weg gegeben:
    Er kann nur von den Künstlern leben!
    Selbst etwas zu gestalten, ja, das hasst er –
    Der Kritikaster …

    Copyright Dr. Wilfried Dinter

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    Meine bess’re Hälfte spricht:
    „Schreib doch mal ’n lustiges Gedicht!
    Das Lachen ist doch nicht verboten,
    Ich mein‘ nicht irgendwelche Zoten.
    Es straften Lügen zyn’sche Spötter
    Im Griechenhimmel alle Götter,
    Beschallten den Humor-Verächter
    Mit laut-homerischem Gelächter!“
    Nun wohl – es bleiben letzte Zweifel,
    Reit doch den Pegasus der Teifel!
    So’n bisschen fehlt mir die Courage,
    Kratzt doch ein wenig am Image
    – Wenn sonst der ernste Dichter spricht –
    Ein kurioses Lach – Gedicht.
    In der deutschen Literatür
    Gab’s nur der Komödien vür.
    Denn hier scheiden sich die Geister,
    Dachte mancher große Meister.
    Und so waren seine Zeulen
    Nicht zum Lachen, mehr zum Heulen.
    Wenn’s aber gar zu komisch wird
    Und der Geist sich bös verirrt
    Entsteht manch Dada – Missgeburt
    Bei Jandl und bei Schwitters – Kurt.
    Jetzt reicht’s nicht mehr für viele Zeilen,
    Ich muss mich nun ein wenig eilen,
    Der Uhrenzeiger geht auf acht –
    Gleich kommt „Mainz, wie es singt und lacht“.
    Doch: Aschermittwoch net vergesse –
    Dann heißt’s wieder „Bonjour tristesse“.

     

    Copyright Dr. Wilfried Dinter