Autor: Helga Thomas

  • IMPRESSION

    Als grüne Katze tanze ich durch meine Wohnung, eine rosafarbene Knospe hinter dem Ohr und wo ich bin, wächst eine schützende Rosen-Dornenhecke. Ich schlafe nicht, deshalb spüre ich die Toten, die bis zur Hecke kommen. Als ich fragte, was Sinnvolles aus meinem Schmerz erwachsen könne höre ich: denke an unsere Schmerzen… und ich sehe Kinder aus dem Jemen, dem Land der Königin von Saba. Ich möchte ihnen ein Schlaflied singen, damit sie endlich in den letzten Schlaf hinübergleiten. Wir brauchen einen neuen Gral, um die Tränen der Kinder zu sammeln, deren Lebensfäden gewaltsam durchschnitten wurden, damit sie im Quell der Tränen neu geboren werden können und nicht raus fallen aus der menschlichen Entwicklung.

     

     

     

  • Lass deine Träume nicht entschwinden
    folge der Spur des Hundes
    – deines oder dem der Straße –
    sie führt dich dorthin
    wo du was bewirken kannst!

    Wach auf!
    erinner den Traum
    bevor er entschwindet!

  • Meine Träume…

     

    Nicht fassbar
    wie das Stück Seife in der Badewanne
    sie entschwinden
    wie der Tautropfen im Morgenlicht
    der letzte Schnee
    in der Frühlingssonne
    die bunten Blätter im Herbststurm…

    Oder…
    -– pass auf!
    schrillt der Schrei der großen Möwe –
    verschwinden sie
    wie Bienen und Schmetterlinge
    vernichtet von unserer Technik!

    Achte
    auf den versteckten Schmerz
    in deinem Körper
    lausch auf die klagende Stimme
    deines hungrigen Vogelkükens
    in deinem Innern
    vielleicht
    kannst du den Vogel draußen
    retten
    wenn du zuvor
    ihn in dir gerettet hast

     

  • Wandlung des Schmerzes

    Vorgestern
    warf der Schmerz
    der Schmerz in meinem Kreuz
    mich aus meiner Bahn
    fast

    Ich nahm ihn an die Hand
    und ließ mich führen
    von ihm
    auf meinem selbstgewählten Weg

    Gestern
    war er das Zentrum
    meines Lebens
    Ich wollte ihn vertreiben
    doch meistens
    siegte er
    in diesem Kampf

    Er ist stur
    wie ein trotzendes Kind
    hört nicht auf mich
    beantwortet meine Fragen nicht

    Heute…
    es gibt Wichtigeres als ihn
    er ist ein Hindernis
    dessen Sinn mir
    sich noch nicht offenbart
    Hat er sich wirklich verwandelt?
    Ich hoffe und warte auf
    sein Verschwinden
    dass er sich auflöst
    wie das Eis im Sonnenaufgangslicht

    Doch
    wo ist er dann?
    Ist er ein Feind?

    Dann ist es besser
    wenn ich ihn im Aug behalte

    Ist er ein helfender Freund
    dann sollte ich mich
    mit ihm versöhnen

     

  • Weil die Schönheit der Rose überwältigend ist
    Ihre Form
    Ihre Farbe
    Ihr Duft

    Auch das leise lautlose Lied
    beim Entfalten der Knospe…

    Die überwältigende Schönheit und all das
    was sie weckt in dir…
    So muss es im Paradies gewesen sein

    Vergiss nicht
    die Rose ist wie das göttliche Kind
    in jedem Menschen
    Die Rose…

    Versuch zu werden wie sie
    Sie ist dein Spiegelbild in Zukunft

    26.10.18

    Heute wäre der 99. Geburtstag meiner Mutter

  • Dennoch

    So lange Kinder, Enkelkinder, vielleicht inzwischen auch Urenkelkinder leben, die noch in sich die Schmerzen der geflohenen, geretteten , ermordeten, oder sonstwie umgekommenen Vorfahren spüren, und die wegen dieses Schmerzes keine Dankbarkeit für ihr Leben im Hier und Jetzt empfinden, werden weiterhin Flüchtende im Meer ertrinken, anderen, obwohl sie müde und durstig sind, die Tür gewiesen . Auch unsere Umwelt wird nicht geschont. Was sind die Triebfedern? „ich denke an mich, jetzt bin ich dran. Wer hat an meine Vorfahren gedacht?“

    „Warum soll es denen besser gehen als es mir und den meinen ging?“

    Ist das nicht auch eine Art von Neid und Missgunst? Es ist schwer, dieses Denken zu ändern, denn es ist ihnen ja nicht bewusst. Gilt es zu hoffen, dass es irgendwann ihnen selbst so schlecht geht (vielleicht auch nur körperlich?) und sie sich in Psychotherapie begeben. Aber kann sich was ändern, wenn nur auf Symptombeseitigung und Kostenersparnis in einer Kurzzeittherapie geachtet wird? Wir können nicht einmal darauf hoffen, dass diese Spezies Mensch ausstirbt, denn schon vor ihrem Tod haben sie ihr unbewusstes Leid, ihre Sünden den Nachkommen vererbt. Und außerdem: Ende von Krieg und Verfolgung ist erst mal nicht zu erwarten.

    Als ich am Schluss meiner Gedanken einen Titel suchte, der auch ausdrückt, dass ich nicht in depressionsähnliche Resignation verfalle, sah ich die Wand hinter dem Schreibtisch meines Vaters in seinem Arbeitszimmer (in Ost-Berlin circa 1957, kurz vor seinem illegalen Verlassen der DDR). Dort hingen Fotografien von zerbombten Kirchen (Gedächtniskirche in Berlin, Garnison Kirche in Potsdam). Darunter ein gerahmter Spruch, nein, kein Spruch nur ein Wort:

    DENNOCH

    Helga Thomas

    7.8.2018 7:00 Uhr

  • Sonntag, 5.August 2018

     

    Ein Sonnentag
    voll
    Wärme und Licht …

    Menschen
    Tiere
    Pflanzen
    leiden
    sehnen sich
    nach Regen …

    Lektion für uns
    Einseitiges zu vermeiden
    die Ganzheit zu
    suchen?

  • Ein kleines Beispiel für einseitige Betrachtungsweisen

     

    Eigentlich weiß der moderne Mensch, dass er sich dem Bösen stellen muss, für seine eigene – nicht nur spirituelle – Entwicklung, wie auch für die Entwicklung der Menschheit ist es erforderlich. Er weiß auch, dass er seinen Egoismus überwinden muss. Überwinden, wandeln, nicht abspalten…  Doch dazu muss er es wahrnehmen, sehen, erkennen … in sich und in der Welt. Doch was geschieht? Täuschung und Illusionierung werden aktiviert! Es entsteht die Tendenz, schnell (vorschnell) zu pathologisieren… natürlich vor allem seinen Mitmenschen (dass er sich vielleicht täuscht, kommt ihm nicht in den Sinn) und weil er seinen eigenen Anteil bagatellisiert, fehlinterpretiert, erliegt er Illusionen, die die Selbsterkenntnis schließlich stören beziehungsweise verunmöglichen. Die Fehlinterpretation, die an Verleumdung grenzt beziehungsweise die einseitige Übertreibung eines Aspektes des schönen Narziss-Mythos sind ein Beispiel für diese Haltung.

    Mir ist jetzt ein kleines Beispiel eingefallen, das es verdeutlicht. Eine Erklärung zum besseren Verständnis: Ich beschäftige mich mit der Rose in all ihren Facetten, symbolischen Aspekt, ihre Bedeutung in der Menschheitsgeschichte, mit dem Namen der Rose, dem Wort, das in unzähligen Zusammenhängen existiert (Rosenwunder, Rosengarten, Rosarium, Rosenkreuz, Rosenkranz, Rosalien, Rosenmontag, die rosenfingrige Göttin).  Ich habe die Rose in der Osterglocke verborgen entdeckt … alles Themen, mit denen ich mich beschäftige und über die ich – hoffentlich – noch schreiben werde. Heute früh dachte ich, die Verleumdung – oder objektiver gesagt: die einseitige Betrachtungsweise des Narziss betrifft z. T. auch seine Blume (die doch wunderschöne Sternenblume, Becherblume, Frühlingsbote, die an vielen Orten die Böschungen der großen Strassen verschönt). Die Rose ist – zum Glück – davon verschont geblieben. Da fiel mir ein Spruch ein, der in meiner frühen Schulzeit mir ins Poesiealbum geschrieben wurde:

    Sei wie das Veilchen im Moose
    bescheiden und still
    und nicht wie die stolze Rose
    die immer bewundert sein will

    Mir tat die Rose leid, ich fand es ungerecht. Ich vermute, ich sah in ihrer entfalteten Blüte die sichtbare Hingabe an die Welt und die Freude, die sie durch ihr Blühen uns schenkt. Über das Veilchen dachte ich nicht nach, es war wie das Schneeglöckchen ein stiller Frühlingsbote, ich liebte seine Farbe, seinen Duft. In der Pubertät sah ich in diesem Poesiealbumspruch die Reste einer kleinbürgerlichen Erziehung.

    Und heute? Bescheidenheit ist keine erstrebenswerte Tugend mehr – zumindest nicht im virtuellen Chatroom. Zum Glück hat noch keiner gesagt: das Veilchen sei feige und ein Duckmäuser!

     

    Helga Thomas

    25.7.2018

     

     

     

  • Beitrag zum BDSÄ-Kongress in Wismar 2018

    Spiritueller Materialismus

    oder Manipulationsversuch

    Ich erzählte im Bekanntenkreis, dass in einigen Monaten eine Knieoperation auf mich zukomme. Eine Freundin meinte sofort, dann solle ich darauf achten, dass die OP an keinem Steinbocktag stattfindet. ??? Ich war zu perplex, um irgendwas entgegnen, fragen oder sagen zu können. Im Kopf tauchten gleichzeitig Fragen auf und manchmal synchron zu einer Frage die Antwort auf eine andere. Was ist ein Steinbocktag? Wahrscheinlich der Tag, an dem der Mond im Steinbock steht. Warum nicht? Das Knie gehört zum Steinbock, wäre es nicht optimal, gerade dann die OP zu machen? Und da war es, das Unbehagen! Ich möchte den Rat weder befolgen noch in Opposition dazu gehen, das ist auch nicht viel besser. Ich kann mein Unbehagen nicht klar begründen, schliesslich bin ich doch eigentlich mit spirituellem Denken vertraut.

    Ich sprach dann auch mit ihr, konnte aber mein Unbehagen wieder nicht recht erklären. Ich möchte mein Schicksal demütig annehmen, mich freilassend bereit halten für die Hilfe der Engel. Sie meinte, man könne ja den Engeln helfen und ihnen nicht alle Arbeit überlassen. Allmählich dämmerte mir, was mein Unbehagen – vielleicht – verursachte. Es gibt zum Beispiel den Aussaatkalender, nichts aber auch gar nichts habe ich dagegen, den optimalen Aussaattag für bestimmte Samen auszuwählen. Schließlich ist klar, was erreicht werden soll: dass die Pflanze sich optimal entwickelt, und wir – Mensch, Elementarwesen, Engel, vielleicht alle gemeinsam – die dafür günstigsten Bedingungen schaffen.

    Und bei der Knie-OP? Die objektiv günstigste Zeit … Wer sagt, dass die gelungene OP das Ziel ist? Vielleicht ist anderes für meine „optimale Weiterentwicklung“ viel wichtiger? Ist es nicht auch egoistisch, nur an mich zu denken? Was ist mit all den anderen Menschen, die auch mit meiner OP beschäftigt sind? Außerdem bin ich ein Einzelner, kein Sonnenblumenkern, die sind alle – mehr oder weniger – doch gleich!

    Allenfalls könnte ich das I GING fragen nach der günstigsten Zeit. Aber die Frage nach dem Sinn der ganzen Kniegeschichte ist mir näher. Und das zu entdecken ist wohl unabhängig vom Datum der OP, oder? Wenn ich mich meditativ in die Situation versenke, spüre ich: Wunsch nach Gelassenheit – annehmen können – demütig empfangen möchten – achten auf die Zeichen, die Wegweiser sein können. Zusammengefasst: wachsen – sich entwickeln lassen. Das aktive Tun von außen durch die OP nicht noch durch  eigene Aktivitäten verstärken. Wachsen lassen, nicht machen!

    Auf keinen Fall möchte ich die geistige Welt manipulieren! Manipulation ist eine versteckte Form des Etwas-erzwingen-Wollen! Gerade frage ich mich, ob das (die Knie-OP nicht an einem Steinbocktag durchführen) nicht auch eine Form von Materialismus ist. Ich benutze geistige Mittel, geistige Erkenntnisse, um auf materieller Ebene etwas zu erreichen. Ist das nicht spiritueller Materialismus?

    Vielleicht stimmt das ja alles nicht, aber ich empfinde es so. Ich bin ein freier Mensch, versuche zumindest es zu sein, auf jeden Fall übernehme ich die Verantwortung für mein Tun. Ich habe nichts gegen Hilfe und Unterstützung, weder von meiner irdischen Umgebung noch von der geistigen Welt, aber es soll sich keiner verpflichtet fühlen, mir zu helfen!

    Copyright Dr. Helga Thomas

  • Beitrag zum BDSÄ-Kongress in Wismar 2018

    AUSZUG AUS MEINEM ROMAN ´´Warte bis die Seerose blüht,,

     

    Annas Erinnerung an ihre frühe Jugendzeit

     

    Einen Anfang setzen… aber womit? Wie beginne ich, um die Geschichte zu erzählen, oder genauer: um von der Geschichte zu erzählen, die ich erzählen will? Unzählige Anfänge habe ich im Kopf, einige sind sogar schon auf Zetteln festgehalten. Wie kann ich mich entscheiden? Der Anfang, der heute richtig scheint, ist er’s auch noch morgen? Zuhaus, vor meiner Abreise hierher, dachte ich, ich werde alle Anfänge erwähnen, aber ich nehme keine Nachschlagebücher mit, auch keine Zettel mit den schon notierten Anfängen, es soll nur ein Erwähnen sein. Wenn ich will (oder es notwendig erscheint), kann ich es dann zu Hause gründlicher ausführen. In einer anderen Farbe (im Buch würde es dann anders gedruckt werden). So kann jeder, den es nicht interessiert, es einfach überschlagen. Sollte es später wichtig sein, so kann ich immer noch darauf hinweisen, und der Leser kann es nachträglich lesen. Einen üblichen Ferientag verbracht hier, auf dieser Insel, zu der ich einen ganz besonderen Bezug habe. Aber wahrscheinlich hat das jeder, der diese Insel zum zweiten Mal besucht. Einen Moment fragte ich mich, ob ich einen Teil der Handlung hier spielen lassen soll. Warum nicht? Der zweite Teil sollte in der Keltenzeit spielen. Abe das geht nicht, dann komme ich in Schwierigkeiten mit dem dritten Teil, dem griechischen. Drum habe ich mich zum Vor-Keltischen entschlossen, für die Zeit der Großen Steine. Und das könnte doch gut hier auf Helgoland sein. Aber jetzt weiss ich nicht, ob damals noch die Landbrüche nach Dänemark bestand. – Nein, ich gehe nicht in die Bücherei und suche Literatur zu dieser Frage! Ich habe mir vorgenommen, einfach mal anzufangen. Außerdem ist es im Moment noch völlig gleichgültig, wo ich den zweiten Teil spielen lasse, wenn ich noch nicht einmal angefangen habe. Und vor dem zweiten Teil kommt der erste, und davor, nein, davor kommt noch nicht der Anfang – zwischen Anfang und dem ersten Teil kommt die Rahmenhandlung. Während meines Ferientages dachte ich immer wieder daran, wie ich wohl anfangen werde. Ich versuchte, mich an die vielen guten Anfänge, die ich im Kopf habe, zu erinnern. Sie sind weg. Einfach weggeblasen. Vielleicht von den Sturmböen über der Insel. Ich erinnere mich nur noch, daß ich mich mit Jakob Wassermann tröstete. In einem Essay oder Tagebucheintrag spricht er davon, wie oft er anfängt, immer wieder, immer wieder aufs Neue. Einen Roman hat er vierzigmal begonnen. Ich meinte zwar, diese Geschichte im Kopf schon unzählige Male begonnen zu haben, aber vierzigmal war es sicher nicht! Ich wüßte nun gerne, woher er wußte, welcher Anfang der richtige ist. Und noch etwas wüßte ich gerne: wie die anderen neununddreißig Anfänge waren, die verworfenen. Würden sie vielleicht zu einer anderen Geschichte führen?

    Einen auf einem Zettel notierten Anfang wollte ich schon für etwas anderes benutzen (denn es ist ein schöner Anfang, er gefällt mir), aber es war unmöglich, er gehört zu dieser Geschichte, zu der Rahmenhandlung. Aber ich weiß noch gar nicht, wie ich ihn darin verarbeiten kann. Er handelt davon, wie eine Frau – eine der drei oder vier Hauptpersonen – mir bestimmte Erlebnisse ihres Lebens erzählt. Und nun geschieht das Merkwürdige, daß diese Erlebnisse in meiner Erinnerung lebendig werden – lebendiger als die Situation, in der sie es mir erzählte – , so daß ich nun diese Erlebnisse sogar in der Ichform erzählen könnte, aber ich weiß noch nicht, ob ich es tun werde.

    Ein anderer, schon festgehaltener Anfang erzählt, wie diese Frau (ich habe noch immer keinen Namen für sie) einen Zettel mit Notizen findet, die sie erst selbst nicht versteht, aber dann fällt ihr ein, was sie damit meinte, und das ganze Drumherum fällt ihr ein, und man wäre mitten in der Handlung an einem Schlüsselerlebnis, das sofort die Tür öffnet zu einem vorherigen Leben (sie selber merkt es aber noch nicht). Das ist überhaupt ein weiteres Problem: daß ich noch nicht weiß, wieviel meine Hauptpersonen selber wissen oder ob nur wir es wissen. Aber ich will nicht, daß Leser und Erzähler sich überheblich fühlen. Am liebsten würde ich so erzählen, daß der Leser alles von allein merkt, plötzlich sieht er die Zusammenhänge und hat ein Aha-Erlebnis. Aber was ist, wenn er es nicht merkt? Liegt das an seiner Intelligenz, wenn er es nicht merkt, oder an meiner mangelhaften Darstellung? Wenn ich wüßte, daß meine Geschichte lesbar ist, auch wenn der Leser nichts merkt…

    Vielleicht erzähle ich erst einmal in groben Zügen, wovon ich eigentlich erzählen will. Das war schonmal als Anfang in meinem Kopf. Richtig, jetzt fällt mir ein, was ich als Bild benutzen wollte: Wenn man mit einem Fernglas das weit entfernt Liegende näher holt – oder das Nahe ganz genau anschaut… ja, was ist dann? Ich habe den Satz falsch begonnen: Um das weit entfernt Liegende näher zu holen mit Hilfe eines Fernglases (es muß ein Fernglas sein, kein Teleobjektiv, der Betrachter soll mit beiden Augen schauen und merken, wie schwierig es ist) … also, stellt es euch vor, gleich, ob es mit ,,wenn‘‘ oder ,,um‘‘ beginnt. Versucht, euch zu erinnern, wie es das erste Mal war. Bei mir hat es lange gedauert, bis ich das, was ich mit bloßen Augen winzig klein sah, nun groß und nahe sah. Am Rand des kreisrunden Ausschnitts war das Bild verschwommen, zumindest unscharf. Um langweilige Überschneidungen zu vermeiden, ließ ich mein Fernglas Sprünge machen. So sah ich ein Bild später, eines mehr seitlich oder ober- und unterhalb. Ich sah verschiedene Bilder, die Ränder verschwommen, und zwischen den einzelnen Bildern gab es Lücken, die mit bloßen Augen erkennbar in einem größeren Zusammenhang eingebettet waren. So möchte ich erzählen. Nur ist es keine räumliche Anordnung, sondern eine zeitliche (die natürlich an verschiedenen Orten sichtbar wird). Es gäbe dreimal ein ziemlich genaues bzw. differenziertes Bild. Zwei Bilder wären nur flüchtig wahrgenommen bzw. würden nur erwähnt werden. Die Lücken dazwischen, das, was den Zusammenhang eigentlich erst deutlich macht: Ich weiß nicht, ob ich es durch meine Erzählung sichtbar werden lasse, oder ob der Leser es selbst sehen soll. Und was ist mit dem Hauptteil der Geschichte – ich vermute jedenfalls, daß es der Hauptteil ist, der in der Jetztzeit spielt -? Wäre das nicht viel besser die mit bloßen Augen erkennbare Landschaft, aus der wir uns dann einzelne Aspekte näher holen? Vielleicht fange ich einfach hier an, mit der Suche nach der Freundin. So hatte ich auch evtl. anfangen wollen: Immer war sie auf der Suche nach einer Freundin. Diese Suche war erst beendet, als sie die Freundin verloren hatte – Verlust ohne vorherigen Fund.

     

    Später im Roman kehren wir auf Helgoland zurück und kehren gleichzeitig ins Mittelalter zurück, in die Zeit, als die heilige Ursula mit ihren Jungfrauen unterwegs war.

     

    Begegneten sie dem Zug der Ursula oder den Seefahrenden, die dem Zug begegnet waren? Sie kamen zu der Insel, die die Jungfrauen aus dem Meer getanzt hatten. Andere erzählten anderes, daß die Insel zur Felseninsel gewandelt wurde durch den Fluch der Ursula. Damals war sie noch nicht heilig, aber ihre Worte hatten noch Zauberkraft. Sie hatte die Insel verflucht, weil sie die Männer trug, die ihren Jungfrauen Gewalt angetan hatten. Sie mußte den Fluch aussprechen, denn noch war es für das Mysterium zu früh. Erst später, auf ihrer Rückkehr,  am heiligen Ort an dem großen Fluß, war die Zeit reif, damit das Schicksal sich vollendete.

    Ursula war mit ihren Jungfrauen unterwegs, um überall Inseln aus dem Meer zu holen, zur Erinnerung an einst, als engelgestaltige Töchter des Lichts und der Weisheit aus den Wellen des Lebens, aus dem Meer der Erde, das feste Gestein tanzend emporbrachten, das feste Land für den Fuß des Menschen. Ursula war mit ihren Jungfrauen unterwegs, um überall Inseln aus dem Meer zu holen, Vergessenes wieder zu erinnern. Überall tanzten sie Inseln des Erinnerns aus dem Meer des Vergessens, überall auf ihrem Weg, aber nur auf der kleinen, einst heiligen Insel im nördlichen Meer blieb die Erinnerung heilig. Sie hatte den Tanz wieder eingeführt, der jährlich zur Erinnerung an den Aufbruch der Ursula und ihrer Jungfrauen wieder getanzt wurde. Deshalb blieb eine Jungfrau.

    Sie hielten an der Insel, um frisches Wasser aufzufüllen, und weil das Wasser heilig war, blieben sie, denn ihr Sohn wußte noch nicht, ob er wirklich auf Erden bleiben oder wieder zu den Himmeln zurückkehren wollte. Sie dachte, es war, weil er blicklos, nicht als Mensch empfangen wurde. Woher sollte er wissen, daß er – so grußlos empfangen – willkommen war? Sie blieb, als der Sohn sich entschlossen hatte, zurückzukehren zu dem Vater in himinam. Sie wollte zum Verzeihung bitten. Die Jungfrau war froh um ihr Bleiben, so war sie nicht allein – denn die Bewohner verehrten sie fast wie eine Priesterin der alten Zeit, und die Verehrung schuf eine Welt zwischen ihr und den anderen. Sie war auch froh um die Hilfe, und sie konnten sich in ihren Pflichten des täglichen Betens ablösen. Ursula, die noch nicht die Heilige war, hatte ihr auch diesen Namen gegeben, und diese Ursula nannte sie nun ihrer Sprache entsprechend Ulla. Ursula, die noch nicht die Heilige war, hatte ihrer Jungfrau aufgetragen zu bleiben. Sie oder folgende Jungfrauen, bis der kam, der auch hier das Wort des Gottes verkündete, von dem Gott, seinem Sohn und der heilbringenden Taufe. Sie schuf ihr einen Becher aus dem harten, bunten Gestein, um heiliges Wasser zu schöpfen und ihm, der kommen würde, es zu reichen, damit alle mit dem Zeichen des Kreuzes gezeichnet würden.