Schlagwort: Medizin

  • Es ist hilfreich, einen Kompass zu nutzen, wenn wir unseren Weg suchen. Das setzt voraus, dass wir unser Ziel kennen und den Kompass richtig benützen. Dies gilt im übertragenen Sinn auch für die Orientierung in geistiger und sozialer Richtung.

    Meine Geschichte zeigt, was geschieht, wenn jemand einen defekten Kompass nutzt und ihn für voll funktionsfähig hält.

    Schon gleich zu Beginn der Abendsprechstunde um 18 h in der Notfallpraxis lag eine Anforderung von der DRK-Leitstelle vor, einen Hausbesuch zu machen bei einem Mann, der einen suprapubischen Blasenkatheter und Fieber habe. Der Patient war uns bekannt, weil er schon einmal mit Urosepsis stationär eingewiesen werden musste. Da ich der einzige Arzt in der Sprechstunde war, musste ich diese bis 22 Uhr abhalten. Deshalb hat ich den Praxishelfer, bei dem Patienten anzurufen, die Situation zu klären und unseren Besuch für kurz nach 22 Uhr zuzusagen. Die Ehefrau des Patienten klang alkoholisiert und machte den Besuch dringend, ihr Mann habe keine Schmerzen, und es gehe ihm gut, Fieber habe sie nicht gemessen, aber er habe wahrscheinlich Fieber, und wir sollten gleich kommen, sie könne nicht warten.  Wir vertrösteten sie, auch nachdem sie in den folgenden Stunden mehrfach sehr ungeduldig und verärgert den Besuch anmahnte. Aber da es ihrem Mann angeblich gut ging, sah ich keinen Grund, einen Notarztwagen zu ihm zu schicken.
    Als ich kurz nach 22 Uhr in die Wohnung des Patienten kam, lag der Mann im Bett und begrüßte mich freundlich, während im Nebenzimmer die alkoholisierte Ehefrau meine Fahrerin anschimpfte, weil wir so lange nicht gekommen seien. Sie müsse schließlich morgen früh wieder arbeiten und könne nicht so lange auf uns warten.
    Der Patient sagte, er habe seit morgens Fieber gehabt, aber nicht gemessen, weil er kein Thermometer habe. Er machte auf mich keinen kranken Eindruck. Mein Fieberthermo-meter zeigte jetzt bei ihm 37,5°C. Aus dem Blasenkatheter floss klarer Urin. Der Urin-teststreifen ergab keine Zeichen für einen Harnwegsinfekt. Herz und Lunge waren normal. Der Tastbefund des Bauches war unauffällig. Der Patient klagte keine Beschwerden.
    Ich sah keinen Grund für eine akute Therapie und fragte: „Haben Sie Ibuprofen da, falls Sie tatsächlich Fieber bekommen? Haben Sie ein Antibiotikum da?“ –
    „Nein, ich habe gar keine Medikamente da!“, meinte der Patient.
    Bei einem Blick auf ein Regal entdeckte ich Medikamentenschachteln, ging darauf zu und sagte: „Aber da haben Sie doch Ibuprofen!“
    Ich nahm die Schachtel, sah, dass sie fast voll war, da riss mir die Ehefrau die Schachtel aus der Hand und keifte: „Das sind meine Tabletten!“
    „Das ist prima,“, meinte ich, „da können Sie Ihrem Mann eine Tablette schenken, wenn er heute Nacht Fieber bekommt, und ich schreibe ihm jetzt ein Rezept, dann können Sie morgen für ihn die Tabletten holen.“
    „Nein, der bekommt meine Tabletten nicht! Die brauche ich manchmal!“
    Ihre Stimme wurde schärfer und lauter.
    Ich versuchte freundlich, sie umzustimmen:
    „Mir geht es doch nur darum, dass Sie in Ihrem Zustand jetzt nicht mehr Auto fahren sollten, um in der Nachtapotheke für Ihren Mann Tabletten zu holen!“
    „Nein, der bekommt meine Tabletten nicht!“ –
    Ich setzte mich hin und schrieb ein Rezept über Ibuprofen für den Mann und einen kurzen Informationsbrief für den Hausarzt.
    Eine weitere Diskussion erschien mir bei der angespannten Lage und dem nicht bedrohlichen Gesundheitszustand des Ehemannes nicht angebracht.
    Ich wandte mich zu ihm und sagte: „Also, da läuft gerade eine völlig bescheuerte Situation ab. Es wäre so einfach, Ihnen bei Bedarf heute Nacht die Tabletten zu geben, aber das sollten Sie besser allein mit Ihrer Frau abmachen. In dem Zustand kann sie jedenfalls nicht in die Apotheke nach M. fahren.“
    Ich verabschiedete mich freundlich bei dem Patienten und knapp bei der Frau und verließ das Haus.

    Im Auto dachte ich an meinen Vater, der einmal ein Ehepaar mit dem schwäbischen Satz beschrieben hat: „Er wär´ ja scho´ recht, aber sie isch a Aufgab´!“

  • Ein Hypochonder in Zeiten der Coronaviren

    Die Gasmaske hat er bereitgelegt,
    stündlich nimmt er neue Informationen auf,
    geht in Gedanken Infektionswege durch.
    Wovor denn haben Sie solche Angst?
    Er zögert kurz: Vor Leid und Tod.
    Fürchten wir das nicht alle – diffus, vage, unbewusst?
    Hilflos.
    Und nun haben Leid und Tod einen Namen und eine Form,
    ein Virus ist es, das man nachweisen,
    gegen das man den Kampf aufnehmen,
    dessen Ausbreitung man vermeiden
    kann.
    Weltweit schwenken alle ein in die Endstrecke des Nachdenkens
    über etwas Konkretes, Nachweisbares, Sichtbares, Fassbares.
    Vielleicht überleben ja nur die Paranoiden, meint er,
    weil sie sich konsequenter schützen.
    Wäre das zu wünschen?

    Heimat

    In der ganzen Welt ist man unterwegs,
    international tauscht man sich aus und
    auf Reisen findet man zum eigenen Selbst.
    Wenn aber Not auftritt, weltweit,
    zieht es einen zurück in die Heimat
    und man wird zurückgeholt
    in die eigene Nation.
    Verantwortung wird übernommen
    Im eigenen Land,
    in dem je eigene Erlasse gelten.
    Die Grenzen werden dicht gemacht,
    jedes Land steht für sich, steht ein für seine Bürger.
    Und schaut doch zu den Nachbarn im Vergleich.
    Wer schützt, wer behandelt, wer verhindert besser?
    Dabei ist es ein Virus,
    das überall gleich im Austausch ansteckt
    über Nationsgrenzen hinweg
    die Welt betrifft:
    Unsere gemeinsame Heimat.

    Besuchsverbot

    Oft wurden sie ohnehin nicht besucht.
    Alleinsein – das kennen sie;
    die Stille, den Blick aus dem Fenster
    in lichte, grüne, bunte, dörre Blätter,
    Rollgeräusche und Rufe am Gang,
    ungerichtet, ungehört.
    Zum Waschen kommt jemand, zum Essen, zum Anziehen.
    Griffe: geübt, fest, effektiv.
    Aber manchmal, ach manchmal, klopfte es
    und jemand sprach sie an, mit Vornamen,
    mit dem eigenen Namen, wie ihn die Mutter aussprach oder das Kind.
    Und dann traten die Erinnerungen ein,
    schöne allzumeist,
    Blumen hatten Farben und Duft,
    ein Gesicht sah sie an, eilig, aber es sah sie an,
    da blieb die Zeit stehen,
    da kam Freude auf,
    da war das Leben  zu spüren.
    Nun kommt niemand mehr.
    Besuch könnte den Tod bringen.
    Und?
    Er käme mit Blumen, Lächeln und Leben.
    Nun sterben sie allein vor sich hin.

    Häuslichkeit

    Einer der Großen hat gesagt,
    das Unglück der Menschen rühre daher,
    dass sie nicht allein mit sich in einem Zimmer sein könnten.
    Nun sind die Züge leer und die Flughäfen,
    auf einmal ist dem exzessiven Reisen ein Ende gesetzt,
    auf den Bühnen wird noch versucht zu spielen
    ohne Resonanz und Applaus im Zuschauerraum
    (das ist nicht, wozu Theater gedacht ist),
    in Espressobar und Pizzeria,
    Stammlokal und Pub
    stehen Stühle auf Tischen
    wie in leeren Schulen.
    Und auch Spaziergänge ohne Ziel sind bald untersagt.
    Wie gestaltet sich wohl die neue Häuslichkeit?
    Nicht jeder liest, liebt, lacht mit andern.
    Von (zu viel?) Außen auf die eigene Innerlichkeit
    zurückgeführt hat jeder nun zu Hausaufgaben
    Zeit und Raum und
    die Chance,
    neu und anders sich selbst und womöglich Glück zu finden
    und den Großen zu widerlegen
    oder auch nicht.

    Angst

    Wer keine Angst hat, ist dumm –
    hat sie gesagt, die kluge, reflektierte Lehrerin.
    Der denkende Mensch kennt Risiken,
    Vorsicht und – maßvolle Nachsichtigkeit.
    Aber adäquate Sorge kann kippen in krankhafte Angst.
    Und dann dominiert sie unweigerlich den Verstand.
    Alles, was ich tun kann derzeit ist,
    in der Sprechstunde
    Patienten die Frage
    Haben Sie selbst denn Angst?
    umsichtig
    mit Nein zu beantworten.

    Vergesst die Seele nicht!

    Da gibt es Zahlen und Figuren,
    das Virus ist entschlüsselt,
    Form und Übertragungswege sind bekannt.
    Tröpfchen.
    Abstrichgewebe.
    Lungenversagen.
    Abstand, Abwehr, Antikörper.
    Kein Händereichen, kein Kontakt, kein Treffen,
    keine Arbeit, kein Zusammensein,
    um den Körper zu schützen vor Körperlichem.
    Bleibt gesund
    ist Gruß und Wunsch und erste Pflicht,
    für die Staaten in die Knie gehen.
    Doch ist der Mensch Körper allein?

     Das Böse

    Das Böse kann sich allein nicht verwirklichen,
    wie ein Virus
    muss es sich eines Wirts bemächtigen –
    selbst unfertig, nicht existent ohne Ergänzung,
    Membranlos konturlos
    überlebt es nur schmarotzend im Wirt.
    Hat der es als solches kennengelernt,
    als etwas Wesensfremdes,
    kämpft er dagegen, stößt es ab und lässt es nicht wieder ein,
    gibt ihm keine Herberge mehr.
    Und wenn das Böse sich doch einnistete,
    zerstört es seine Herberge,
    aber der Wirt zieht weiter
    ins Weite
    und lässt es zurück.

    Planbarkeit

    Sparpreise der Bahn gibt es ein Jahr im Voraus,
    Urlaube werden gebucht für den übernächsten Sommer.
    Save the dates gelten weit in die Zukunft
    im virtuellen Kalender.
    Kinder werden geplant und das Sterben.
    Das Leben als Abfolge wohlüberlegter, vorentschiedener Termine.
    Jetzt tritt Corona auf den Plan und auf die Pläne, –
    die Kalender verlieren ihre Macht.
    Eintragungen verfallen;
    Was, wenn einem durchorganisierten Leben
    die Organe versagen?
    Wie schwer Menschen von heute das jeweils fallen mag,
    vielleicht ist es auch leicht,
    sich fallen zu lassen ins Hier und Jetzt
    des Schöpfungsplans.

    Ruhe vor dem Sturm

    Es ist wichtig, und sie haben es wichtig,
    es ist notwendig, und sie haben ihre liebe Not:
    Retter in Weiß sind aktiv bis zur Erschöpfung,
    Stationen werden leergeräumt,
    ganze Krankenhäuser neu geschaffen,
    Betten aufgerüstet,
    Monitore angeschlossen,
    ohne Ende wird organisiert.
    Wir warten auf den Ansturm.
    Und wenn er aber kommt?
    Und wenn er aber nicht kommt?

    Fledermaus

    Es war die Fledermaus.
    Skrupellose Forscher haben Versuchstiere auf den Markt entsorgt.
    Es war die Ernährung.
    Sie essen aber auch alles dort, Reptilien und Schlangen.
    Es war Waffe.
    Ein Virus –  gezüchtet und in die Welt gesetzt, um Großmächte zu schwächen.
    Es war Tabu.
    Die Ansteckungsgefahr wurde verheimlicht von der Macht.
    Es war der Teufel am Ende,
    der Gottesdienste und Glauben zu zerstreuen versucht.
    Es ist das Kausalitätsbedürfnis der Menschen,
    wenn sie Gründe suchen für den Alptraum des Geschehens,
    das sich ihrer Einflussnahme entzieht.
    Es waren einmal Theorien.
    aber nun ist es, wie es ist.
    Und was die Fledermaus uns sagen will,
    können wir nicht hören.

    Reset

    Man darf Freiheit nur zeitlich begrenzt einschränken,
    sonst erträgt der Mensch es nicht.
    Er braucht die Hoffnung auf eine Zeit danach,
    wenn die Gefahr vorüber ist,
    wenn alles wieder gut wird und schön.
    Wie Kinder aus Krankheiten gewachsen hervorgehen,
    wird der Mensch nach der Krise anders sein.
    Er wird verstanden haben,
    was und wer im Letzten trägt.
    Er wird dankbar sein
    und er wird wieder ein bisschen mehr
    lieben.

  • Herbert und Hölderlin – ein deutsches Requiem

    Prolog

    Dem Herbert und dem Hölderlin
    Das Lebenslicht einst beiden schien.
    Hölderlin, dem Geisttitan
    Herbert auch, dem armen Mann,
    Der sich aus der Armut raffte
    Zum Marine Maat es schaffte
    Dann bescheiden, pünktlich, klug
    Nach dem Krieg die Post austrug.
    Er wurde neunzig Jahre alt
    Als er aus dem Zeitenspalt
    Einsam in das Jenseits fuhr.
    Ein Grabstein ziert die Lebensspur.
    Er bleibt verschollen, unbekannt
    Auch sein Verdienst für Vaterland
    Anstand, Ehre, Einsatz, Pflicht
    Kümmern seine Nachwelt nicht.
    Hölderlin, in frischen  Jahren
    Ist bekannt und Kunst erfahren.
    Goethe, Schiller, Hegel, Fichte
    Zünden Friedrich Kerzenlichte.
    Die führen ihn dem Pindar gleich
    In ein neues Lyrikreich.
    Göttliches wird neu beschrieben
    Die Gunst des Höheren ist geblieben.
    Wohlstand, Größeres erreichen
    Wollte jeder von den Beiden.
    Herbert als Kind, Friedrich als Greis,
    Erfahren Jammer, Qual und Leiden.
    Hier ist zu berichten
    von vergangenem Sein.
    Berühmt und begraben
    Bei Brot, Wasser, Wein.

    Das Treffen

    Die Nacht war dunkel.
    Der Tag ward nicht hell.
    Das Leben zerfloss.
    Und Leben fließt schnell.
    Das Licht erlosch.
    Kein Traum schäumt den Schlaf.
    Als Hölderlin Herbert
    Herbert Hölderlin traf.

    Der Gesang

    Grausam und hungrig
    weht Herberts Jugendkleid.
    Wohl spielt behütet
    Hölderlins Kinderzeit.

    Die Jugend

    Linkshändig der Herbert
    Milch-intolerant
    Für Bildung zu arm
    Zum Knechtsein verbannt.
    Vaterlos Friedrich
    Im Pfarrhaus ernährt
    Von Sinclair zum Lehrer
    Von Hegel bekehrt.

    Der Gesang

    Ungerecht mächtig
    Dröhnt jedes Menschen Horn
    Wild peitschen Wellen
    Lust und Liebe nach vorn.

    Das Leben

    Herbert hofft Zucker
    Statt Salz, trocken Brot
    Findet im Krieg
    Auf See fast den Tod.
    Friedrich sucht Stimmen
    Im Wahnsinn der Welt.
    Fügt sorgsam zusammen
    Was wächst und erhält.

    Der Gesang

    Es lebt nur Heute
    Nur Heute ist wahr!
    Herbert vergangen.
    Wie Friedrichs Altar.

    Der Abschied

    Herbert war Kämpfen
    Frei von Armut im Krieg
    Führerlos und treu
    Kein Gott, keinen Sieg.
    Friedrich war Pfarrhaus
    Göttliche Liebe, Titan
    Denken, Sehnsuchtstriebe
    Turmzimmer in Wahn.

    Das Gebet

    Beide sprechen leise
    Das Gebet ihrer Zeit.
    Herbert bescheiden
    Friedrich Opferbereit.

    K.K. 8.3.2020

    Hölderlin digital

    Die Götter sind gegangen
    Nach Recht und Gesetz.
    Gesichter gefangen
    Im digitalen Netz.
    Es spinnen die Dämonen
    Youtube Freudenreich.
    Lassen Geister wohnen
    Unsterblich streiten gleich
    Glaube und Wissen, die beiden
    Halunken dieser Welt
    Singen von Freiheit und Leiden
    Dass ziellos zusammenfällt
    Was im Heute gegeben
    Morgen noch sicher scheint
    Zügelfrei das Leben
    Um Tod und Liebe weint.
    Die Götter sind verloren
    Digital verirrt.
    Glaube ist erfroren
    Wissen triumphiert.
    Nur in engen Räumen
    Virtuell in Bits
    Lässt Glaube sich erträumen
    Der Geister Farbensitz.

    K.K. 9.3.2020

    Hölderlins Gebet digital

    Möge der Himmel geben
    was die Erde versagt.
    Sei die Freiheit mein Leben
    digital geparkt.
    Sei Wissen im Netz geborgen
    Behütet den Göttern gleich.
    Bewirtet mit Früchten des Morgen
    im virtuellen Tafelreich.
    Möge die Freiheit siegen.
    Bleibe der Tod an der Macht.
    Lasse ihn Zäune biegen
    Bevor das Chaos erwacht
    Und selbst die Ziele schmiedet,
    Die den Göttern sind.
    Sei Menschenwahn befriedet
    Vom Netzwelt Götterkind.

    K.K. 9.3.2020

  • Törichter Arzt

    (23.12.2019)

    Den Kapitalismus begreife ic1
    als eine vielschichtige Lebensweise
    deren Kernstück
    der Privatbesitz an Produktionsmitteln ist 

    Wenn ich die vielfältigen Folgen
    dieser verbrecherischen Lebensweise
    mitunter beherzt behandle
    ohne deren Kernstück
    wahrzunehmen, eindeutig zu benennen und anzupacken
    verhalte ich mich im besten Falle
    wie ein törichter Arzt
    der die quälenden Anzeichen
    einer tödlichen Krankheit lindert
    ohne deren Ursachen
    tiefgründig anzugehen

    ֎֎֎

     

  • Endlichkeit

    (20.12.2019)

     

    Der wesentliche Unterschied
    zwischen dir und vielen Zeitgenossen
    ist der bewusste Umgang
    mit der natürlichen Gegebenheit
    unserer Endlichkeit
    und daraus folgend
    die Dankbarkeit
    bei der gezielten Gestaltung
    der verbleibenden Zeit

    ֎֎֎

     

  • Auswahl aus den Wölländischen Sprüchen: VOLANDIANA – Aphorismen. Seemann Publishing 2018. ISBN 9781729323991

    1. Allgemein

    1.1.      Wahrheit ist der meistakzeptierte Irrtum. (1993)

    1.8.      Auch wenn du dir zwei Uhren kaufst, hast du nicht mehr Zeit.

    1.10.    Die Dummheit höret nimmer auf.

    1.12.    AUCH DER JÜNGSTE SOPRAN WIRD EINMAL ALT.

    1.15.    Der Mensch wird immer dümmer, trotz aller Symposiümmer.

    1.19.    Sigmund Freud entdeckte beim Menschen eine orale, anale und genitale Entwicklungsphase. Eine zerebrale entdeckte er nicht. (01.07.1992)

    1.125.  Manche Belletristik ist mehr trist als belle. (08.05.2013)

    1.138.  Geld ist Fiktion. Real ist nur das Geld, das man nicht hat.
    (lat. Aes ipsum fictio aes deens verum est.) (19.12.2013 0450)

    1.151.  Quidquid id est timeo Danaos maxime pecuniam petentes.
    (lat. Was es auch sei, ich fürchte die Griechen, besonders, wenn sie Geld fordern.) (23.03.2015)

    1.166.  Die beste Lösung nützt nichts, wenn das Problem unbekannt ist. (11.05.2015)

    1.175.  Nicht in jedem Dickkopf steckt ein grosses Hirn. (18.09.2015 Le Tréport F)

    1.191.  Es kommt darauf an, durch welche Brille man das Leben sieht. Es sollte nicht die Klobrille sein. (06.06.2017)

    1. Evolution

    2.6.      Das Wissen nimmt zu, nicht aber die Weisheit. (27.12.2017)

    2.7.      Nein, der Fortschritt ist keine Schnecke. Oder hast du schon einmal eine Schnecke mit Rückwärtsgang gesehen? (25.01.2018)

    1. Geschlechter

    3.67.    Jede Ehe wird geschieden: durch den Richter oder durch den Tod. (06.03.2012)

    3.88.    Aller Kriege Vater ist das Testosteron. (24.11.2016)

    3.95.    Nil vita sine voluptate. (lat. Ohne Lust kein Leben.) (20.06.2011)

    1. Paraloga und Sophismata (Παράλογα και σοφίσματα)

    4.11.    Jeder Augenblick deines Lebens ist in der Summe von den beiden Enden des Lebens zu 100 Prozent entfernt.
    (Wölländisches Aequisistenz-Axiom) (22.06.2016)

    4.13.    Die einzige richtige Ideologie ist diejenige, welche sagt: Alle Ideologien sind falsch.
    (Dez 2016)

    4.14.    Schwarzgeld besteht hauptsächlich aus Dunkelziffern. (03.04.2017)

    4.20.    Omnis aliter est – ego non. (lat. Jeder ist anders – nur ich nicht.) (08.05.2018)

    4.33.    Auch ein neues Brett macht den alten Kopf nicht besser. (26.10.2009)

    4.35.    Das Unangenehme an einem Gipfel ist, dass es nach allen Seiten bergab geht.
    (29.10.2009)

    4.36.    Fernsehen ist nicht dasselbe wie Weitblick. (24.01.2010)

    4.43.    Nemo umbra sua propria refrigeratur.
    (lat. Niemand wird durch eigenen Schatten gekühlt.) (15.09.2017 Plovdiv BG)

    1. Medizin

    5.1.      Medicamenta non prosunt nisi sumuntur tamen medicamentum non sumere interdum salubrior est.
    (lat. Medikamente helfen nicht, wenn sie nicht genommen werden, dennoch ist es manchmal heilsamer, ein Medikament nicht zu nehmen.) (20.6.2008)

    5.2.            Medicus nil promittit. (lat. Der Arzt verspricht nichts.) (20.6.2008)

    5.4.      Minum vinum nimia corporis exercitatio et nimis diu vivere insalubria reputari oportet.
    (lat. Zu wenig Alkohol, zu viel Sport und zu lange leben sind ungesund.)  (17.04.2016)

    5.9.      Der Arzt muss bei der Anamnese alles fragen – und darf nichts glauben. (05.03.2015)

    1. Volk und Staat

    6.8.      Kein Land der Welt ist so arm, dass nicht sein Präsident reich werden könnte.
    (11.02.2011)

    6.13.    Iustitia non caeca strabonem est. (lat. Iustitia ist nicht blind, sie schielt [opportunistisch].) (11/1998)

    6.15.    Gewaltenteilung: Die einen wissen, wie es geht, die anderen sagen, was gemacht wird.
    (06.03.2005)

    6.17.    Timeo praepotentes sese amantes cetera timentes.
    (lat. Ich fürchte die Machthaber. Sie lieben nur sich selbst und fürchten den Rest der Welt.) (12.08.2013)

    6.20.    Wer Terror mit Terror bekämpft, ist selbst ein Terrorist. (12.03.2017)

    6.25.    Wer mit Nonkonformisten konform geht, ist auch ein Konformist. (27.01.2018)

    6.35.    Nicht jeder missbraucht die Macht, aber jede Macht wird missbraucht.
    (12.12.2013)

    1. Volk und Staat

    7.1.      Kein Land der Welt ist so arm, dass nicht sein Präsident reich werden könnte.
    (11.02.2011)

    6.13.    Iustitia non caeca strabonem est. (lat. Iustitia ist nicht blind, sie schielt [opportunistisch].) (11/1998)

    6.15.    Gewaltenteilung: Die einen wissen, wie es geht, die anderen sagen, was gemacht wird.
    (06.03.2005)

    6.17.    Timeo praepotentes sese amantes cetera timentes.
    (lat. Ich fürchte die Machthaber. Sie lieben nur sich selbst und fürchten den Rest der Welt.) (12.08.2013)

    6.20.    Wer Terror mit Terror bekämpft, ist selbst ein Terrorist. (12.03.2017)

    6.25.    Wer mit Nonkonformisten konform geht, ist auch ein Konformist. (27.01.2018)

    6.35.    Nicht jeder missbraucht die Macht, aber jede Macht wird missbraucht.
    (12.12.2013)

    1. Rätselfragen
        • Kann man in einem menschenleeren Walde erschlagen werden?
          [1) NEIN, denn im menschenleeren Wald ist kein Mörder,
          2) NEIN, auch von einem Baum kann man nicht erschlagen werden, denn im menschenleeren Wald ist niemand, der erschlagen werden könnte, nicht einmal man selbst – der Wald wäre sonst nicht menschenleer.]
          (07.02.2005)
        • Wer lehrt andere, was er selber nicht weiss?
          [Der Tote auf dem Präpariersaal lehrt die Studenten die Anatomie.]
          (: Quis quod nescit alios docet? [Mortuus in theatro anatomico discipulos docet anatomiam.])
          (28.03.2018)
    2. Alterseinsichten

    8.3.            Besonders drückt die Last der Jahre nach einer Reihe Lasterjahre.

    8.8 Das Selbstbewusstsein durchläuft im Leben fünf Phasen:
    Zuerst weiss man nichts. Dann fragt man sich: Wer werde ich sein? Nach langer Zeit weiss man, wer man ist. Später erinnert man sich, wer man war. Zuletzt hat man es vergessen.
    (09.11.1998)

    8.11.          Fugit interea fugit irreparabile tempus et fugimus nos cum illo irreparabiliter.
    (lat. Inzwischen flieht sie, ja sie flieht, die unwiederbringliche Zeit, und wir fliehen mit ihr unwiederbringlich.) (05.02.2005)

    8.16           Iuventas nescit quod haberet. Senectus scit quod non haberet.
    (lat. Die Jugend weiss nicht, was sie hat, und das Alter weiss, was es nicht hat.) (05.10.2015)

    8.18.    Wer gesund sterben will, darf damit nicht zu lange warten.
    (12.11.2015)

    1. Küchenlatein

    9.5.      POTESTAS VOS NON IN BRACCAS.
    (Macht, euch, nicht, in, die Hosen)

    9.7.      POTESTAS VESTRUM LUTUM UNIVERSUM CLIVUS.
    (Macht, euren, Dreck, All, Lehne)

    9.11.    IS EGO LUDIFICATIO AGRI ERAT UNUS CREPITUS CUCULLUS ET NULLUS IACULUS PULVIS PRETIUM.
    (Er, ich, Hohn, Äcker, war, ein, Knall, Tüte, und, keinen, Schuss, Pulver, Wert)

    9.21.    ID IT AD NULLAM VACCAM CAEDIT.
    (das, geht, auf, keine, Kuh, haut)

  • Reigen

    Die wir einst umsorgt
    und grossgepäppelt über viele Jahre,
    die unsere Kräfte zehrten und mehrten,
    die heute noch durch unsere Träume purzeln
    herzerwärmend im Kindchenschema –
    sie sind jetzt grosse Leute in des Lebens Mitte,
    umtobt von der nächsten Generation.

    Der immer gleiche Reigen
    wird fort und fort getanzt,
    aber jeden Punkt im Ring
    erreichst du nur ein einziges Mal.

    (18.04.2017)

    Fuffsich

    Für meine Freundin Jabi, die sich schwer tut.
    (in Brannenburjisch)

    Jetz biste fuffsich,
    wat reechste uff dich?

    Vor sweehundert Jahr,
    bei den ollen Fritzen,
    – jloob mir, det is wahr –
    mussteste schon flitzen.

    Heute haste frei
    Jahre wie Prosente:
    fuffsich sin vorbei,
    fuffsich Dividende!

    Nu hab man keene Bange,
    lebst schon noch jans lange.

    Jetz biste fuffsich,
    wat reechste uff dich?

    Weeste, wie det kommt,
    dassde schon so alt bist?
    Det kommt immer promt,
    wenn det Lewen lang ist.

    Wärste früh jestorm,
    wärste ooch nich fuffsich,
    fräss dich jetz der Worm,
    man, det wäre schuftich!

    Nu hab man keene Bange,
    lebst schon noch jans lange.

    Jetz biste fuffsich,
    wat reechste uff dich?

    Willste lange leem,
    darfste nich erschlaffen.
    Da liecht det Problem:
    Willste achtsich schaffen,

    kommste nich vorbei
    anne fuffsich, weesste,
    nutzt ooch keen Jeschrei.
    Allet klar, vastehste?

    Nu hab man keene Bange,
    lebst schon noch jans lange.

    (22.10.1995)

    Physis und Metaphysis

    Es stehen auf schwankender Scholle
    all unsere Türme und Thesen,
    gewiss ist – es komme, was wolle –
    es wird anders als vorher gewesen.

    Atome zerfallen und Sterne,
    aus Staub werden neue Gestirne,
    der Kosmos, er strebt in die Ferne,
    den Gipfeln zerschmelzen die Firne.

    Ein jedes, das lebt, das muss sterben,
    vom Staube zum Staube bestimmt,
    und vorher das Leben vererben,
    das, was es benötigt, sich nimmt.

    Was Physis ist, ändert sich immer,
    Metáphysis einzig hält Stand,
    ihr ahnt es beim göttlichen Schimmer
    der Künste in jedem Gewand.

    Die Mathematik zum Exempel
    gehört zu den Künsten, den freien.
    Die Lehrsätze aus ihrem Tempel,
    sie haben die ewigen Weihen.

    Was droben ist sucht drum entschlossen,
    sofern ihr Vergänglichkeit fliehet.
    Der Segen wird dem ausgegossen,
    den füglich nach oben es ziehet.

    (11.07.2013)

    Sternenkunde

    Warum, fragt Wennemann,
    warum er sehen kann
    der Gestirne Funkeln
    einzig nur im Dunkeln.

    Aberach fragt: Hast
    du gehört, Kontrast
    erst lässt etwas erkennen
    und die Dinge trennen?

    Auf weisser Fahne kann
    man nicht sehen dann,
    nicht um keinen Preis,
    Adler, wenn sie weiss.

    Das Gute auch im Leben
    wird erst erkannt dann eben,
    wenn es uns erlösen
    will von allem Bösen.

    (21.01.2019)

    Vom Dasein zum Hiersein

    Herr Aberach besucht seit einem Jahr
    ein philosophisches Basis-Seminar.
    Er lernt dort, dass die Welt ganz allgemein
    geprägt sei durch ihr eigentliches Sein,

    ihr Sein an sich als solches, in Stringenz
    durch ihr Geworfensein zur Existenz,
    das Sosein ihr statt Nichtsein so verleiht
    und sie zum Dasein und zum Sinn befreit.

    Das Dasein sei der wesentliche Kern
    des Seienden per se, ob nah, ob fern.
    Der Aberach, der glaubt davon kein Wort.
    Ich selber würde, sagt er, auch mal dort,

    mal da sein, doch ganz wesentlich scheint mir,
    ich wäre, und zwar selber, jetzt und hier.
    Aus dem Gesagten folgert er mit List,
    dass wichtig für die Welt ihr Hiersein ist.

    Was nützt, denkt er, die Welt, die einmal da,
    dann wieder dort ist, aber mir nicht nah.
    Geworfen oder nicht geworfen, mir
    erscheint entscheidend nur, ich hab sie hier.

    (03.03.2013 0220 – 21.01.2019)

    Selbstbetrug

    Wennemann begibt sich auf die Reise
    und geniesst sie auch auf seine Weise,
    selbst wenn er manch Ärger und Verdruss
    hie und da schon mal ertragen muss.

    Im Gedächtnis dann in spätern Zeiten
    sieht er nur noch all die guten Seiten,
    und je öfter sich die Reise jährt,
    wird sie mehr und mehr und mehr verklärt.

    Ebenso verfahren bis anheute
    auf der Lebensbahn die meisten Leute:
    Um die Laune sich nicht zu verderben
    übersehen sie den Bruch und Scherben.

    Doch am Ende kranken ihre Seelen,
    weil Wahrhaftigkeit und Klarheit fehlen.
    Auf dem Teppich geht man nicht gediegen,
    wenn darunter die Probleme liegen.

    (26.09.2013)

    Wichtig

    Welcher Mensch ist wichtig,
    und welcher eher nichtig –
    das ist – wie ich sage –
    eine falsch gestellte Frage.

    Hie zum Beispiel Goethe,
    dort die kleine Kröte:
    Wichtig sind sie alle
    in dem einen oder andern Falle.

    Des Dichters grösste Knüller
    wären ohne Gretchen Müller
    längst nicht so bekannt
    und beliebt im ganzen Land.

    (15.02.1998)

    Der Kongress

    Hallo, auch schon da?
    … muss eben noch…
    Wir sehn uns später!

    In schnellem
    reigen fliegen sie
    vorbei vorträge wenige
    gute der anderen viele.

    Heute abend zeit?
    Leider nein
    ein workshop!

    Schon gepackt?
    Ja, muss weg – bis
    zum nächsten mal!

    Beinahe
    wären wir
    einander begegnet.

    (01.10.2000)

    Lupus

    Wenn doch der
    Mensch dem Menschen,
    wenn er ihm doch
    nur Wolf wäre!

    So aber
    ist er ihm Mensch.

    (10.08.2006)

    Konjunktiv

    Was da alles würde, wäre, sollte,
    wenn man endlich hätte, könnte, wollte,
    ist am Ende gar nicht auszuhalten,
    besser ist es drum, es bleib beim Alten.

    Denn es reicht auch schon von ungefähr,
    was beinahe nicht gewesen wär.
    Beinah wärest du nicht, der du bist,
    besser ist es drum, es bleibt wie’s ist.

    Beinah hätten wir den Krieg gewonnen,
    hätten wir ihn gar nicht erst begonnen.
    Wären wir nicht hier, wo wär‘n wir dann,
    oder wär‘n dann andre dran und wann?

    Tu ich, was ich keinesfalls sonst täte,
    beinah nicht, weil ich mich leicht verspäte,
    hätte ich es, wenn ich’s recht betracht‘,
    eigentlich am Ende nicht gemacht.

    Manches gibt es nicht, was möglich wäre,
    andres gibt es auf der Erdensphäre,
    was recht eigentlich unmöglich scheint,
    und sich hier im Konjunktiv vereint.

    (09.04.2010)

  • Neglect und Hemianopsie

    (25.7.2019)

     

    Bei manchen Gehirnerkrankungen
    ist die Wahrnehmung der Umgebung einseitig eingeschränkt
    oder das Gesichtsfeld ist bedeutend beeinträchtigt
    Für eine Störung der Sinne in unserer Gesellschaft
    sorgt ein Heer von Wissenschaftlern
    Psychologen, Politikern, Philosophen
    Künstlern, Journalisten
    und Geistlichen unterschiedlicher Schattierungen
    So kann der der Kapitalismus fortwähren

    ֎֎֎

  •  

    50 Jahre nach der Praxiseröffnung kehre ich zurück in den Ort, den ich damals so beschrieb: «In unserem Dorf praktizieren drei Ärzte: ein Chirurg, ein Internist und ich als Allgemeinpraktiker. Wir vertreten uns gegenseitig während der Ferien und leisten abwechslungsweise Wochenenddienste, auch im Spital, so dass wir über unsere Patienten eine gute Übersicht haben. Unser Gebiet ist zirka 25 km lang. Ungefähr die Hälfte unserer Patienten sind Bergbauern, die in den kälteren Jahreszeiten ihre Zipfelmützen tragen.» Jetzt gibt es zwar weniger Bergbauern, aber immer noch viele Bewohner tragen die «gäbigen» Zipfelmützen. Das Haus, in dem ich die Praxis hatte und im ersten Stock wohnte, ist schöner, stattlicher, aber nach 100 Jahren gibt es dort keine Arztpraxis mehr. Der Besitzer, mein Nachfolger, hat mit der Praxistätigkeit, die er nach dem Muster seines Vaters als Chirurg im Spital und praktizierender Arzt führte, aufgehört und im Erdgeschoss die Praxisräume in eine Wohnung für die Familie seiner Tochter umgebaut. Das ist nicht alles, nach der Blütezeit mit mehreren Ärzten, praktiziert im Dorf keiner mehr.

    Das schöne Spital, das ein Jahr nach Anfang meiner Praxistätigkeit eröffnet und mehrmals um- und ausgebaut wurde, wollten sie noch vor ein paar Jahren im Wahn der Liebe zu Grossspitälern schliessen. Nach heftigen Protesten der Einwohner, wie im ganzen Land bei solchen Vorhaben üblich, überlegten sie sich eines Besseren. Die Proteste wären vermutlich ins Leere gegangen, aber die verantwortlichen Politiker, die Vorsteher der kantonalen Gesundheitsdirektionen, die es durchsetzen wollten, wurden prompt abgewählt und ihre Parteien büssten bei den nächsten Wahlen jeweils Stimmen ein. Es zeigte die Stärke der direkten Demokratie. Darauf wurde nach längeren Diskussionen in der Standes- und allgemeinen Presse ein neues Modell des peripheren Spitals entwickelt, wie es auch hier jetzt bestens funktioniert. Es besteht aus einem Kreisssaal von Hebammen geführt, mit Zimmer für Wöchnerinnen, weiter einer geriatrischen Abteilung. Die Angehörigen der alten Patienten brauchen nicht weit das Tal runter zu fahren, um sie zu besuchen. Ähnlich ist es mit der Demenzabteilung. In der Pflegeabteilung werden Patienten, wenn nötig auf die Operationen in den grösseren Spitälern vorbereitet und nachher nachbehandelt, wie auch andere Patienten, die zwar nicht zu Hause betreut, aber auch nicht in einem grösseren, besser ausgerüsteten Spital versorgt werden müssen. Im Ambulatorium werden kleinere operative Eingriffe, Wundversorgungen vom Personal des Spitals durchgeführt, anspruchsvolle Endoskopien und Ultraschalluntersuchungen jedoch von auswärtigen Spezialisten, die jeweils dafür einreisen. Sie benützen dafür Geräte, die von den  Zentralspitälern aussortiert wurden.

    Die Medikamente für die einzelnen Patienten bereitet ein Roboter vor. Die Spitalapotheke hat auch einen Vorrat an Notfallmedikamenten für die Bevölkerung des Tales. Ihren normalen Bedarf beziehen sie über eine Versandapotheke, was für sie und ihre Versicherer günstiger ist. Die Dorfapotheke schloss bereits vor mehreren Jahren ihre Türe.  Die Patienten werden zum grossen Teil von Robotern auch gepflegt. Zuerst wagten es nur die Mutigen.  Als sie Gefallen an den ruhig summenden und arbeitenden Maschinen fanden, folgten ihnen weitere. Die pflegenden Menschen sind nicht verschwunden. Sie springen ein, wenn die Roboter überfordert sind, oder jemand sie ablehnt. Die Qualität der Patientenbetreuung hat enorm zugenommen: Die Patienten werden öfters gepflegt, gewendet, schneller, ohne lange warten zu müssen, gereinigt und genährt. Das Personal hat mehr Zeit, ihren Ängsten und Sorgen zuzuhören, und da manche dafür besonders geschult wurden, können sie auch in diesem Bereich besser helfen. Wegen der guten Spracherkennungssysteme und einheitlichen elektronischen Krankengeschichten verminderten sich die ungeliebten Schreibarbeiten, und es gibt mehr Zeit für die Uraufgabe, die Pflege und Betreuung der Patienten.       Dank Telemedizin braucht das Spital keine eigenen Ärzte. Als Unterricht für Studenten und junge Assistenten findet einmal pro Woche eine Visite mit einem erfahrenen Arzt, nicht selten einem Professor aus einem Zentrumsspital statt.

    In einer Zeit, in der es aus verschiedenen Gründen immer weniger Allgemeinärzte gab, wurde wissenschaftlich nachgewiesen, dass in Gebieten, wo sie vorhanden waren, die Gesundheit besser und die Sterblichkeit tiefer war. Dann steigerte man noch die Bemühungen, um mehr Allgemeinärzte zu haben. Es half nicht. In der Not besann man sich, dass eigentlich die Funktion, die Erfüllung der Aufgaben wichtig ist und in der Zeit der künstlichen Intelligenz, diagnostischen und therapeutischen Algorithmen, Telemedizin, auch weniger gründlich und weniger lange ausgebildete Personen ohne Hochschulabschluss es tun können. Schon seit längerer Zeit übernahm doch nichtakademisches, gut und speziell ausgebildetes Personal viele ehemalige ärztliche Aufgaben wie Diätberatung, Pflege der Wunden bei Diabetikern, Betreuung der Dementen, Versorgung einfacher Wunden. Nebst der Labormedizin, spielte die Anästhesiologie eine Vorreiterrolle. Bereits vor mehr als 60 Jahren war es  üblich, dass die Patienten von Pflegefachleuten narkotisiert wurden. Dieser Trend verstärkte sich unter dem Titel «Fachüberschreitende Zusammenarbeit». Die immer besseren Geräte für die bildgebenden Untersuchungen ermöglichten ihren Einsatz in der Röntgenologie und bei Endoskopien. Nach 50 Jahren seit der Eröffnung meiner allgemeinärztlichen Praxis werden die Patienten im Tal von besser und speziell ausgebildetem Spitexpersonal im Ambulatorium des Spitals betreut. Sie besuchen die Patienten selbstverständlich auch zu Hause. Der Vorteil dieser Lösung ist, dass sie meistens ortsgebunden und ortskundig sind und damit weniger ihre Stellen wechseln. Ihre Arbeit ist interessant und sehr begehrt. Das Modell mit speziell ausgebildeten Plegepersonal aber ohne Besuchen übernahmen auch grosse zentrale Spitäler, um ambulante Patienten mit kleinen Wunden und banalen Krankheiten zu triagieren und zu versorgen.
    Durch diese Entwicklung sowohl im Spital- wie im ambulanten Bereich entschärfe sich in relativ kurzer Zeit der Mangel an Ärzten und Pflegepersonal. Ihre Zuwanderung aus Ländern mit einer schlechteren Belohnung wurde weitgehend aufgehalten. Diese Länder litten darunter mehr und begannen deswegen mit den beschriebenen Änderungen zuerst. Wie alle technischen Fortschritte führten sie zu einer grösseren Effizienz und kürzeren Arbeitszeiten.

  •  

    Römer und Germanen, Italiener und Deutsche sind von alters her verbunden in Freud und Leid, in Freundschaft und Feindschaft, in Herablassung und Bewunderung. Was dem Deutschen sein Fleckerl-Teppich (Sachsen-Weimar-Eisennach, Reuß jüngere Linie, Löwenstein-Wertheim-Freudenberg) ist dem Italiener sein Campanilismo. Germanicus war ein Beiname derjenigen römischen Feldherren und Kaiser, denen es gelang, die Scharte der verlorenen Varusschlacht auszuwetzen und sich – vorübergehend – ein namhaftes Stück Germanien einzuverleiben.

    Anfangs bestehen die römischen Militärlager aus Erdwällen mit hölzernen Palisaden, die Unterkünfte aus ledernen Zelten[1]. Im Jahre 2 n. Chr. beschreibt der Geometer Hygin (Hyginus Gromaticus) wie ein Castrum entsteht. Vermessungs-Ingenieure stecken die beiden Hauptachsen, den Cardo und den Decumanus, ab. Für rechte Winkel benutzt man eine Kombination aus Lot und Visiergerät, die  Groma[2]. Das Haupttor, die Porta praetoria, öffnet sich in Marschrichtung, gegen den Feind, An der höchsten Stelle des Lagers befindet sich die Porta decumana. In der Mitte liegen die Stabsgebäude/Principia, mit dem Fahnenheiligtum und dem Bildnis des Kaisers[3], das Praetorium, der Sitz des Kommandanten und die Mannschaftsbaracken/Centuriae. Vorratsgebäude, Werkstätten und Lazarett/Valetudinarium, schließen sich an. Letzteres gehört, wie wir aus Xanten/Vetera wissen, zu den ersten unter Kaiser Claudius (41-54 n. Chr.) aus Stein errichteten Bauwerken[4], deren Identifizierung mit Hilfe der dort gefundenen medizinischen Instrumente gelingt. Im Valetudinarium  wurden die Soldaten sowohl ambulant als auch stationär behandelt. Ihre Gesundheit zu erhalten ist erstrangig. Über Aquädukte wird frisches Wasser  herangeführt.

     

    Abb. 1: Pont du Gard bei Nîmes, Provence,  Aufnahme der Verfasserin

    Die Badegebäude/Thermen liegen meist vor den Kastell-Mauern. Mittels  Fußbodenheizungen/Hypokausten werden die Warmbäder/ Caldarien erwärmt.

     

    Abb. 2: Hypokausten, Leptis Magna/Libyen, 2. Jh. n. Chr., Aufnahme der Verfasserin (2009)

     

    Wie die Stabs- und Mannschaftsgebäude verfügen auch Thermen über Gemeinschafts-Toiletten/Latrinen. Viele sind mit einer ständigen Wasserspülung ausgestattet.

    Abb. 3: Latrine in der Hafentherme von Leptis Magna / Libyen, Aufnahme der Verfasserin (2009)

     

    Die Therapie ist nicht in jedem Fall unangenehm. In Aquincum erhält die Legio Secunda Adiutrix zollfreien Wein für das Lazarett. Der griechische Arzt Dioskourides (1. Jh. n. Chr.) empfiehlt Wein gegen Husten. Arzneien werden häufig mit Wein gemischt[5].

    Vor der Einstellung des Rekruten steht eine körperliche Untersuchung.  Ungeeignete werden ausgesondert. Exerzieren ist an der Tagesordnung.  Marschübungen im Laufschritt bezeichnet man als ambulatus – Spaziergang[6]!

    Militärärzte sind im Allgemeinen Unfreie, oft griechische Kriegsgefangene. Sie bekleiden keinen besonders hohen Rang, bringen es allenfalls zum Hauptmann, oft nur zum Sanitätsgefreiten; doch da sie die medizinische Versorgung der Truppen gewährleisten, verleiht ihnen bereits Caesar im Jahr 46 v. Chr. das römische Bürgerrecht[7].

    Müssen Rekruten wegen schwerer Verletzungsfolgen oder körperlicher bzw. geistiger Gebrechen vorzeitig ausgemustert werden, so entspricht das der ehrenhaften Entlassung. Sie durften dann heiraten und erhielten ein Stück Land[8].

    Seit Augustus gilt für dienstverpflichtete Soldaten das Eheverbot. Erst mit der ehrenvollen Entlassung, also nach wenigstens 25-jähriger Dienstzeit, erhalten sie das Recht auf Eheschließung. Das ändert sich unter Septimius Severus (193-211), der auch den aktiven Soldaten die Heirat gestattet. Vorher waren Soldatenehen und die vielen eheähnlichen Verhältnisse rechtsunwirksam; sogar  eine vorher geschlossene Ehe begann mit dem Eintritt des Rekruten ins Heer zu ruhen. Die zahlreichen Kinder „ex castris“ hatten vor allem erbrechtliche Nachteile. Darüber wissen wir aus den erhaltenen Militärdiplomen:

    „Der Imperator Caesar………..gibt denjenigen Reitern und Fußsoldaten………deren Namen unten angegeben sind, ihren Kindern und Nachkommen das Bürgerrecht und das Eherecht mit den Frauen, die sie zu diesem Zeitpunkt schon hatten, oder wenn sie Junggesellen sind, mit denen, die sie später nehmen, jedoch nur mit einer.“

    Dass die Sorge des Kaisers für seine Soldaten noch in anderer Weise über den Zeitpunkt der Dienstentlassung hinaus gehen konnte, besagt die Bauinschrift an einem Balneum in Singidunum/Moesia superior (Belgrad): Dieses Bad steht  ausschließlich „in usum emeritis quondam Alexandriae“, dem Gebrauch durch die Veteranen der 4. Legion Severiana Alexandrina zur Verfügung[9]. Aus dem Namen der Legion geht der des Kaisers Severus Alexander hervor. Wir befinden uns in der ersten Hälfte des 3. Jahrhunderts n. Chr.

    Die Kleidung des Soldaten besteht gewöhnlich in einer kurzärmeligen Tunica, einem Mantel und den Caligae[10] für die Füße. Der Feldzeichenträger/Signifer (Abb. 4) ist mit einer langärmeligen Tunicaa mancata bekleidet. Sein Haarschnitt entspricht dem des Kaisers, Traianus.

     

    Abb. 4: Grabrelief, Aquincum/Pannonien, 2. Jh. n. Chr., Aufnahme der Verfasserin

     

    Gefangene Barbaren (Chatten?) stellt man spärlich bekleidet, mit grobschlächtigen Körpern und strähnigen Haaren dar (Abb. 5). Sie sind schmachvoll  aneinander gekettet, die Hände hinter dem Rücken gefesselt[11].

     

    Abb. 5:  Sockelrelief aus Mainz-Kästrich, 2. Jh. n. Chr., Aufnahme der Verfasserin

     

    Als Schutzgötter verehren die Soldaten Diana, Merkur, Kastor und Pollux,  aber auch die Heilkundigen, Asklepios und Hygieia/Salus. Die Auxiliartruppen behalten ihre Stammesgötter wie die keltische Pferdegöttin Epona. In einem Militär-Schwimmbad in Bu-Ngem/Tripolitana fand sich ein aus dem Jahr 203 n. Chr. entstandenes Weihgedicht an die Göttin Salus, verfasst von dem Zenturionen Q. Avidius Quintianus[12], der einerseits die glückliche Rückkehr des Heeres und andererseits die Wohltat des Wassers in der Gluthitze des Südens preist.

    Am germanischen Limes liegen im Abstand von 15 bis 20 km die durch Wachtürme kontrollierten Auxiliar-Kastelle. Einen florierenden kleinen Grenzverkehr bezeugen noch heute die lange vor dem Einmarsch unserer Befreier aus dem Westen genetisch fixierten klassischen Nasen und das dunklere Hautkolorit meiner Cousinen!

    Joseph Victor von Scheffel (1826-1886)  hat es in unnachahmliche Verse gegossen:

    Ein Römer stand in finst’rer Nacht
    Am deutschen Grenzwall Posten…
    An eine Jungfrau Chattenstamms
    Hat er sein Herz vertandelt,
    Er war ihr oft im Lederwams
    Als Kaufmann zugewandelt…

     

     

    Abgekürzt zitierte Literatur:

    Busch 1999: St. Busch, Versus Balnearum (Stuttgart und Leipzig 1999)
    Johnson 1987: A. Johnson, Römische Kastelle (Mainz 1987)
    Junkelmann 82000: M. Junkelmann, Die Legionen des Augustus (Mainz 82000)
    Selzer 1988: W. Selzer, Römische Steindenkmäler. Mainz in römischer Zeit (Mainz 1988)
    Steger 2004: F. Steger, Asklepiosmediin. Medizinischer Alltag in der römischen Kaiserzeit (Stuttgart 2004)
    [1] Die älteste ausführliche Beschreibung stammt von Polybios aus der Mitte des 2. Jh. v. Chr. Pol. VI.
    [2] Johnon 1987, 54 f. Abb. 22.
    [3] Tac. Hist. III, 13; An. IV, 2.
    [4] Johnon 1987, 257.
    [5] Johnson 1987, 182.
    [6] Vegetius I, 27; III, 2; Johnson a. O. 179.
    [7] Steger 2004, 49 und Anm. 207.
    [8] Steger 2004, 69.
    [9] Busch 1999, 266 f.
    [10] Junkelmann 82000, 96 Taf. 25. 158-161 Abb. 9.
    [11] Selzer 1988, 69. 241 Kat. 263 Abb. 47.
    [12] Busch 1999, 560-563.